Europa im All: Space nix

Der 23. Oktober war ein wichtiger Tag für alle, die das Heil der europäischen Weltraumindustrie in einer Bündelung der Kräfte sehen. Mit Airbus, Thales und Leonardo erklärten die drei großen Satellitenhersteller ihren festen Willen zur Konsolidierung. Geben die Wettbewerbshüter in Brüssel grünes Licht, soll das neue Gemeinschaftsunternehmen übernächstes Jahr seine Arbeit aufnehmen. Man müsse zusammenrücken in einer Zeit, in der Satelliten für kommerzielle und militärische Anwendungen immer wichtiger werden und Amerikaner, Chinesen und andere Mächte immer vehementer ins All drängen, lautet das Credo.

Die gewachsene strategische Bedeutung des Weltraums ist in Europa inzwischen Allgemeingut. Dass die Akteure ihre Kräfte überall so bündeln wie im Satellitenbau, ist jedoch nicht zu beobachten. Knapp vier Wochen vor dem Ministerratstreffen der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) in Bremen zeigt sich vielmehr, dass die Vorstellungen und Vorhaben in wichtigen Punkten eher divergieren als zusammenführen. Vom Aufbau eines europäischen Pendants zu Elon Musks Raumfahrtkonzern Space-X entfernt sich Europa immer weiter. Dieser deckt die ganze Palette vom Raketenbau über den Satellitenbau bis hin zur Beförderung der Satelliten und zum Betrieb der gewaltigen Satellitenkonstellation Starlink ab.

Ob sich auf dem alle drei Jahre stattfindenden ESA-Ministerrat, der die Leitplanken setzt für die Weltraumpolitik der kommenden Jahre, Europas Einheit beschwören lassen wird, ist aus Sicht vieler Beteiligter und Beobachter ungewiss. Dabei nimmt die Fragmentierung bei Trägerraketen, den Transportadern ins All, besonders stark zu. Der Vorstandsvorsitzende des italienischen Raketenherstellers Avio, Giulio Ranzo, nennt diese Entwicklung in Europa im Gespräch mit der F.A.Z. „ein Paradox“.

Es drohe ein „Monopson“, eine Marktform, bei der es nur einen Nachfrager, aber viele Anbieter gibt – quasi das Gegenstück zum Monopol. Während sich beim Satellitenbau Airbus, Thales und Leonardo zusammenschließen, gebe es im Raketenbau immer mehr nationale Initiativen. Allein in Deutschland und Frankreich gebe es jeweils zwei bis drei vielversprechende Entwicklungen, zudem mindestens zwei in Großbritannien und eine in Spanien, sagt Ranzo.

Start-ups brechen Monopol auf

Tatsächlich sind in den vergangenen Jahren reihenweise Start-ups angetreten, das jahrzehntelange Quasimonopol der Unternehmen Ariane Group und Avio zu brechen. In Deutschland gehören dazu Isar Aerospace und die Rocket Factory Augsburg . Noch entwickeln sie kleine Raketen, die eine viel geringere Nutzlast als die von Ariane Group und Avio produzierten Ariane- und Vega-Baureihen haben. Das soll aber nur den Nukleus bilden für größere Raketen.

Politisch spricht sich vor allem Deutschland für mehr Wettbewerb aus. Nach wiederholten Problemen mit den Ariane- und Vega-Raketen in den vergangenen Jahren ­verspreche dieser mehr Resilienz, mehr Effizienz und niedrigere Kosten. Zudem würden wegen der wachsenden Weltraumnutzung in Zukunft deutlich mehr Trägerkapazitäten gebraucht.

Das sieht man auch an der ESA-Spitze so. Mit der European Launcher Chal­lenge hat die Organisation deshalb ein wettbewerbliches Verfahren in Gang gesetzt, bei dem sich junge Raketenhersteller jeweils bis zu 169 Millionen Euro in Form von Aufträgen erhalten können. Die finalen Modalitäten sollen auf dem ESA-Ministerrat beschlossen werden.

Die Fronten sind verhärtet

In Frankreich, wo die Ariane Group ihren Sitz hat und in seinem Überseedepartement Guayana den europäischen Weltraumbahnhof beherbergt, warnt man jedoch vor zu viel Wettbewerb. Befürchtet wird eine Zersplitterung von Investitionen und Vorhaben. Davon habe am Ende niemand in Europa etwas. Es brauche eine gemeinsame strategische Vision und dürfe keine Duplizierung von Aktivitäten geben, heißt es in Paris.

„Auch wenn ich den Nutzen des Wettbewerbs sehe, weil er Innovationen beschleunigt, denke ich, dass die richtige Lösung in der Zusammenarbeit auf europäischer Ebene liegt“, meint auch der Chef der Ariane Group, Martin Sion. Europas Budgets im Weltraumsektor seien siebenmal geringer als in den USA. „Die Zusammenarbeit ist meiner Meinung nach verbesserungsfähig, und es muss Geld in die europäische Raumfahrt gesteckt werden“, so Sion kürzlich im Interview mit der F.A.Z.

Die europäische Trägerrakete Ariane 6 auf dem Weltraumbahnhof in Französisch-Guayanadpa

Zwischen Berlin und Paris sind die Fronten in dieser Frage schon seit Jahren verhärtet. Gegenseitig werden Vorwürfe erhoben, der Fragmentierung durch die Förderung nationaler Vorhaben Vorschub zu leisten. Auf französischer Seite beargwöhnt man die Förderung von Isar Aerospace, Rocket Factory Augsburg & Co., auf deutscher Seite vor allem die Aktivitäten von Maiaspace.

Die Tochtergesellschaft der Ariane Group entwickelt eine neue kleine Trägerrakete und wurde dabei angeblich schon mit rund 300 Millionen Euro vom französischen Staat unterstützt. Das wäre deutlich mehr, als die deutschen Start-ups erhalten haben. Dass im September der langjährige Ariane-6-Programmchef François Deneu zu Maiaspace gewechselt ist, hat dem Vorwurf der Wettbewerbsverzerrung neue Nahrung gegeben.

Vorwürfe aus Italien

Auch in Italien, das als drittgrößter ESA-Beitragszahler auch immer lauter seine Interessen in der Raumfahrt artikuliert, spart man nicht mit Vorwürfen an die Franzosen. Fast zehn Jahre lang hat der Avio-Konzern seine Vega-Raketen über das Unternehmen Arianespace vermarkten lassen, deren Mehrheitsaktionär die Ariane Group ist. Inzwischen ist der Ausstieg beschlossene Sache.

Voraussichtlich im November wird zum letzten Mal eine Vega-Rakete unter dem Ariane-Dach an den Start gehen. Auch hier sind die Aktivitäten von Maiaspace der Stein des Anstoßes – also die Tatsache, dass Frankreich ein nationales Unternehmen ins Rennen schickt und stark fördert. „Das ist der eigentliche Grund, warum wir die Zusammenarbeit mit Arianespace beenden“, sagt Avio-Chef Ranzo. „Wenn man einen direkten Wettbewerber schafft, wie kann man da noch Vertrauen haben“, fragt er rhetorisch.

Avio hat sich im Laufe der Jahre immer schlechter von Arianespace vertreten gefühlt. Zudem suche man den direkten Kontakt mit seinen Endkunden, erklärt Ranzo weiter. Man habe heute schon Aufträge im Buch, die das Unternehmen für vier Jahre auslasteten. Arianespace, so glaubt der italienische Manager, werde „künftig sehr französisch“ sein.

„Sie brauchen auch eine Rekapitalisierung. Ich bin mir nicht sicher, dass alle Anteilseigner aus Ländern wie Italien, Deutschland und Belgien ihre Ressourcen dafür bereitstellen“, merkt Ranzo an. Völlig beerdigen will Avio die Zusammenarbeit mit der Ariane Group allerdings nicht. Das Unternehmen liefert für die Feststoffantriebe der Ariane 6 und will dies auch weiterhin tun.

Die italienische Trägerrakete Vega-CPicture Alliance

Arianespace weist die Vorwürfe aus Italien zurück. „Die Zusammenarbeit zwischen Arianespace und Avio war stets reibungslos und fruchtbar“, unterstreicht eine Sprecherin. Das integrierte Modell, das beide Unternehmen verband, habe funktioniert und es ihnen ermöglicht, greifbare Erfolge zu erzielen. Nur gemeinsam könne man die enormen Herausforderungen bewältigen, denen sich die europäische Raumfahrtindustrie gegenübersieht, so die Sprecherin weiter. Zu finanziellen Themen, also der mutmaßlichen Rekapitalisierung, möchte sich Arianespace nicht äußern.

Avio, das neben Trägerraketen auch militärische Raketenantriebe herstellt, geht nun eigene Wege. Eine Kapitalerhöhung für 400 Millionen Euro steht kurz bevor. Das ist gut ein Drittel des aktuellen Börsenwertes. Mit dem Großteil des Geldes will Avio in den USA ein Werk für den Bau von Feststoffantrieben für Raketen des amerikanischen Militärs errichten. Eine Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Hersteller Raytheon ist vereinbart.

Der Avio-Hauptaktionär, der italienische Rüstungshersteller Leonardo, hat am Dienstagabend bekannt gegeben, dass er 9,4 Prozent seiner Aktien verkaufen will; ihm bleiben damit 19 Prozent. Offenbar konzentriert sich Leonardo künftig mehr auf den Satellitenbau als auf Trägerraketen.

Spannungen auch bei Satelliten

Für den nahenden ESA-Ministerrat ist der Raketenzank kein gutes Omen. Das gilt umso mehr, als es auch in der euro­päischen Raumfahrt auch sonst nicht an Spannungen mangelt. So bleibt auch die geplante Satellitenkonstellation Iris 2 eine Quelle des Konflikts. Vom früheren EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton vorangetrieben, soll das System analog zu Musks Starlink-Konstellation von 2030 an eine unabhängige weltraumgestützte Telekommunikation ermöglichen – für die Staaten, für die Industrie und nicht zuletzt für die Streitkräfte.

Der Zuschlag an ein Industriekonsortium um die Satellitennetzbetreiber Eutelsat, Hispasat und SES wurde vor einem knappen Jahr erteilt. Doch in Deutschland ist man weiterhin sehr schlecht auf Iris 2 zu sprechen. Hinter vorgehaltener Hand sieht man darin ein Projekt, das vor allem den Interessen der französischen Industrie dient, deutschen Bedürfnissen zuwiderläuft, unnötig teuer wird und angesichts der akuten Bedrohungslage zu spät kommt.

Die Zweifel an Iris 2 haben die Bundeswehr dazu veranlasst, mit Hochdruck Pläne für eine eigene, kleinere Satellitenkonstellation zu entwickeln. Sie soll noch in diesem Jahrzehnt ihren Betrieb aufnehmen können. In Frankreich kommt das nicht gut an. Wieder einmal steht der Vorwurf im Raum, nationale Vorhaben zu priorisieren, statt Europa gemeinsam zu stärken.

„Deutschland steht im Verdacht, das europäische Konstellationsprojekt infrage zu stellen“, titelte die Zeitung „Les Echos“, als das Vorhaben der Bundeswehr publik wurde. In Paris beobachtet man kritisch, wie viel der 35 Milliarden Euro, die Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) unlängst für Weltraumprojekte ankündigte, in europäische Projekte fließen.

„Es ist ein Wettbewerb, der verloren ist“

Die ESA ist angesichts dieser Konfliktlinien in einer undankbaren Position. Sie trommelt für möglichst viel Zusammenarbeit, kann die Interessen ihrer 23 Mitgliedstaaten aber nur schwer unter einen Hut bekommen. Auf Arbeitsebene laufen die Drähte heiß. Am 7. November findet noch einmal eine außerordentliche Sitzung des ESA-Ministerrats statt.

Der Generaldirektor der Organisation Josef Aschbacher hofft, die Europäer Ende November von einem neuen dreijährigen Budget in Höhe von 22 Milliarden Euro überzeugen zu können; beim letzten Ministerrat einigte man sich auf 16,9 Milliarden Euro. Das sei nötig, um sich gegen Musk & Co. zu behaupten. Viel hängt von Deutschland ab, das einen Beitrag von bis zu fünf Milliarden Euro in Aussicht stellt. Frankreich, der traditionelle Taktgeber der europäischen Raumfahrt, dürfte wegen seiner desolaten Finanzlage dagegen Mühe haben, seinen Anteil aufzustocken.

Der Vorstandsvorsitzende von Avio, Giulio Ranzoddp

Gleichwohl blieben die Europäer auch bei einem deutlich höheren ESA-Budget im Vergleich zu den USA ein kleiner Akteur. Daran erinnert Avio-Chef Ranzo, der den geplanten Zusammenschluss von Airbus, Thales und Leonardo im Übrigen kritisch sieht. „Zusammenarbeit erfordert nicht notwendigerweise eine Fusion der Unternehmen, denn das heißt, dass wir zurück in die Sowjetunion gehen, wo es nur eine Firma gab“, sagt er. Avio und OHB aus Bremen seien, abgesehen von kleineren Anbietern, „die einzigen Weltraumunternehmen in Europa mit privatem Kapital, die versuchen, ihre Arbeit ohne politischen Einfluss von Regierungen zu machen“.

Was Europas Gesamtinvestitionen angeht, ist die Schlussfolgerung des Avio-Chefs ernüchternd. „Das Niveau der europäischen Ausgaben ist im Vergleich so gering, dass wir niemals in der Lage sein werden, auf Augenhöhe mit den Amerikanern zu sein“, sagt er. Auch bei den Unternehmen habe Europa Anbietern wie Space-X, Amazon, Apple oder Microsoft nichts entgegenzusetzen. „Wir in Europa haben nicht solche Firmen mit solchen Kapazitäten und Technologien. Es ist ein Wettbewerb, der verloren ist“, meint Ranzo.

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