Europa: Höchste Zeit zu Gunsten von Selbstkritik

Staaten sind immer auch Stolz-Gemeinschaften, und so sehr gedemütigt wurden die Europäer schon lange nicht mehr wie durch J. D. Vance’ Bemerkung, er sei es leid, die Europäer immer herauspauken zu müssen. Dabei spricht wenig dafür, dass es die USA im Trumpschen Sinne stärker macht, wenn diese ihre treuesten Alliierten mit Hohn und Spott übergießen. Dass aber diese wiederholten Demütigungsattacken, zu deren ätzendstem Sprachrohr sich J. D. Vance aufgeworfen hat, an den Europäern nicht abperlen, liegt an einem unangenehmen Nebenumstand: Sie haben einen wahren Kern. Was stört es eine deutsche Eiche, wenn sich eine Wildsau an ihr reibt – so heißt es im Volksmund. Nur ist Europa offensichtlich alles andere als eine Eiche. Es ist schwach. Nur deswegen jault der alte Kontinent so verletzt auf.

Natürlich ist es ein Affront, dass in Saudi-Arabien über das weitere Schicksal der Ukraine verhandelt wird, ohne dass die Europäer mit am Tisch sitzen. Aber noch mehr als ein Affront ist es Ausdruck der europäischen Irrelevanz. Ob Washington Europa in der Vergangenheit so viel mehr Gewicht beigemessen hat, wenn es um Fragen der internationalen Ordnung ging, ist durchaus eine offene Frage, sicher ist nur: Man hat früher den Schein gewahrt. Jetzt leben wir im Zeitalter der nackten Wahrheiten. Das ist zivilisatorisch kein Fortschritt, aber für alle, die besonders gut darin waren, sich Sand in die Augen zu streuen, ist es auch ein Durchbruch zur Wirklichkeit.

Jedenfalls kommt Europa endlich in die Gänge. Es formiert sich eine neue Geschlossenheit, eine neue Verantwortungsbereitschaft, europäische Sicherheit aus eigenen Kräften garantieren zu wollen. Und dieser Aufbruch zu militärischer Autonomie ist mit viel Geld und großen Worten hinterlegt. „Die Zeit für Europa ist gekommen“, erklärte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Und: „Wir können uns nicht leisten, von der Geschichte hin und her geschubst zu werden.“ Doch Vorsicht mit der Selbstbegeisterung, die oft der Selbstzufriedenheit vorarbeitet. Darin war Europa schon immer gut. Besonders wenn es darum geht, die eigene moralische Überlegenheit herauszustellen, denn normativ betrachtet sich die EU als die Avantgarde des Weltgeists.

Doch um gehört zu werden, muss man Gewicht auf die Waage bringen. In seinem Buch Welt in Aufruhr von 2023 skizzierte der Politologe Herfried Münkler für das 21. Jahrhundert eine mögliche Pentarchie, eine Fünfer-Herrschaft, die die multipolare Ordnung der Welt gestalten werde. Fest gesetzt sind für Münkler die USA, China und Indien. Ob Russland und Europa auch eine Stimme haben werden, das ist für ihn noch nicht ausgemacht.

Um mitzuspielen, muss Europa besser werden. Dafür müssen wir uns mehr Selbstkritik zumuten, auch wenn es die Stimmung verhagelt. Doch mit Kritik tut sich die Europäische Union schwer. Das hängt mit ihrer normativen Selbstüberhöhung zusammen. In ihrer Selbstbeschreibung als „ever closer union“ steht sie für eine progressive weltgeschichtliche Entwicklungsstufe, die Jürgen Habermas die „postnationale Konstellation“ nannte. Wer die EU kritisierte, wurde deshalb schnell als ewiggestriger Nationalist abgetan. In den Neunzigerjahren war es fast unmöglich, ökonomische Einwände gegen die Konstruktion des Euro vorzubringen, ohne ins nationalchauvinistische Lager gesteckt zu werden.

Es lohnt, sich an die hochfliegenden Erwartungen zu erinnern, die mit der Einführung des Euro verbunden waren. Damals lagen die USA und der Euroraum, was ihre Wirtschaftskraft betrifft, fast gleichauf. Wenn Europa, so lautete damals das Versprechen, erst ein einheitlicher Währungsraum sei, werde es die USA volkswirtschaftlich deklassieren. Der Euro sollte sogar den Dollar als Leitwährung ablösen. Für sehr kurze Zeit sah es gar nicht schlecht aus. Saddam Hussein verkaufte sein Öl tatsächlich gegen Euros – bis die Neokons einschritten … Doch seit der Finanzkrise hat die amerikanische Volkswirtschaft die europäische abgehängt. 2023 betrug das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der USA 82.769 Dollar, das der EU 41.422 Dollar. Und zwar dank der deutlich höheren Produktivität der US-Wirtschaft. Seit 2008 hat der Euro gegenüber dem Dollar um 30 Prozent abgewertet.

Aber reden wir nicht nur über Geld. Europa war immer stolz auf seine Soft Power. Doch von Oxford und Cambridge abgesehen, befinden sich alle Spitzenuniversitäten, in denen die Eliten von China über Indien bis zu den Emiraten ihren Nachwuchs ausbilden lassen, auf amerikanischem Boden. Dort werden die Schlüsseltechnologien der Zukunft erdacht werden. Dieser Tage ist viel davon die Rede, dass amerikanische Spitzenwissenschaftler vor den Trump-Rabauken nach Europa ausweichen werden. Vielleicht erweist sich das erratische Handeln der Trump-Regierung auch als Chance für eine europäische Erneuerung. Aber für einen solchen Wettbewerb um die besten Köpfe muss man dauerhaft mehr anzubieten haben als nur die richtige Gesinnung. Dafür müssen wir den ursprünglich deutschen Exportschlager des Humboldtschen Bildungsideals als die Einheit von Forschung und Lehre zurück an seinen Ursprungsort holen und für die exzentrischen Begabungen schnellere Qualifikationswege ermöglichen. Gleichzeitig ist die amerikanische Campus-Universität eine identifikatorische Lebensform, weshalb die Alumni oft ihr halbes Vermögen an ihre alte Alma Mater vererben.

Längst gibt es die spöttische Redewendung, wonach Amerika innoviert, China imitiert und Europa reguliert. Nirgends ist das besser zu beobachten als beim Thema künstliche Intelligenz. Brüssel ist stolz darauf, die weltbeste KI-Regulierung zu haben, alle, heißt es dann gerne, würden uns darum beneiden. Über den AI-Act, den das europäische Parlament im vergangenen Jahr verabschiedet hatte, sagte Ursula von der Leyen, dieser werde „eine Blaupause für vertrauenswürdige KI in der ganzen Welt schaffen“. Das Problem ist nur: Wir haben zwar die weltbeste KI-Regulierung, nur leider keine KI in nennenswertem Umfang, die wir regulieren könnten! Die Platzhirsche aus dem Silicon Valley wurden zuletzt durch DeepSeek herausgefordert, ein chinesisches KI-Start-up.

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