Europa hat in München in den Abgrund welcher eigenen Machtlosigkeit geschaut

Europa hat in München in den Abgrund welcher eigenen Machtlosigkeit geschaut

Auf der Sicherheitskonferenz ergibt sich der Eindruck, als werde das Schicksal Europas allein zwischen zwei Großmächten ausgehandelt. Der Kontinent bekommt vorgeführt, was es heißt, bedeutungslos zu sein. Dabei hat Washington offenbar noch keinen Plan, wie der Krieg nachhaltig gestoppt werden kann.

Die Geschichte schreibt keine Blankoschecks. Das mussten die Europäer bei der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz erkennen, als sie die Rechnung serviert bekamen für Jahrzehnte verantwortungsloser Sicherheitspolitik. 30 Jahre haben sie von der Friedensdividende nach dem Ende des Kalten Krieges gelebt, ihre Militärs kaputtgespart und sich stattdessen darauf verlassen, dass Onkel Sam auf ewig die Sicherheit Europas garantieren würde.

Selbst nachdem Wladimir Putin im neuen Jahrtausend seine militärische Expansionspolitik begann – erst 2008 gegen Georgien und dann ab 2014 gegen die Ukraine – haben sie viel zu lange gebraucht, um die neue Bedrohung aus Russland ernst zu nehmen.

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Nun erleben die Europäer, wie Amerikas Schutzversprechen durch Donald Trump infrage gestellt wird. „Die USA sind nicht länger zufrieden damit, der wichtigste Bereitsteller von Sicherheit in Europa zu sein. Es wird über den teilweisen Abzug von Truppen gesprochen und einen klaren Wechsel der Prioritäten hin zu anderen Kontinenten“, bilanziert der ehemalige litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis seine Gespräche auf der Sicherheitskonferenz.

Amerika bereitet sich darauf vor, Europa sicherheitspolitisch im Stich zu lassen, das ist das Gefühl in München. Die Rede von Vizepräsident J.D. Vance wurde von Landsbergis und anderen als Beleg dafür gesehen, dass die US-Regierung sich kulturell als Verbündeter von rechtspopulistischen Bewegungen in Europa sehen, die das europäische Projekt zerstören wollen – genau wie Moskau.

80 Jahre lang hat Russland versucht, einen Keil zwischen die USA und Europa zu treiben, um zur alleinigen Hegemonialmacht des Kontinents aufzusteigen. Unter Trump könnte dieser Wunsch in Erfüllung gehen, so die Furcht.

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock spricht denn auch von „einem existenziellen Moment für Europa“. Es wird immer deutlicher, dass nach der Ukraine auch andere europäische Staaten ins Visier Moskaus geraten könnten und dass der Kontinent ohne die USA kaum abwehrbereit ist. Denn es mangelt nicht nur an Masse, sondern vor allem auch an Schlüsselfähigkeiten, die die USA bisher bereitgestellt haben.

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Die Europäer mussten auch mitansehen, wie die neue US-Regierung sich anschickt, über die Köpfe Europas hinweg einen Friedensplan für die Ukraine mit Russland auszuarbeiten. Die Ukraine werde mit am Tisch sitzen, aber nicht Europa, hatte Trumps Ukraine-Sonderbeauftragter Keith Kellogg in München gesagt. Die Europäer würden nur konsultiert werden.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte in München hingegen vehement gefordert, dass nicht nur sein Land, sondern auch Europa Teil der Abmachungen sein müsse. Kiew braucht Europa als Gegengewicht, um zu verhindern, dass Trump zu sehr Richtung Moskau neigt.

Nun soll es in der kommenden Woche ein erstes Zusammentreffen von hochrangigen amerikanischen und russischen Offiziellen in Saudi-Arabien geben, um Friedensverhandlungen auszuloten. Ohne Europa – und auch die Ukraine ist dazu nicht eingeladen, wie Selenskyj in München berichtete.

Für viele auf der Konferenz ergibt das den Eindruck, als werde das Schicksal Europas allein zwischen zwei Großmächten ausgehandelt. Der Kontinent bekommt gerade vorgeführt, was es heißt, bedeutungslos zu sein. Einzige Erleichterung scheint zu sein, dass die vielen gegensätzlichen Aussagen amerikanischer Vertreter den Eindruck vermittelten, dass Washington noch keinen Plan hat, wie der Krieg nachhaltig gestoppt werden kann.

„Der Ball ist nun in unserem Feld“

Während viele noch in Schockstarre verharrten angesichts der Realisierung, dass die gewohnte Nachkriegsordnung endet und Europa sich möglicherweise bald allein gegen ein imperialistisch ausgreifendes Russland verteidigen muss, plädierten andere dafür, pragmatisch mit der Situation umzugehen. „Der Ball ist nun in unserem Feld“, sagte der finnische Präsident Alexander Stubb am Sonntag. „Wir müssen die Amerikaner davon überzeugen, dass wir einen Mehrwert beitragen können.“

Ähnlich sieht das Nato-Generalsekretär Mark Rutte. „Wenn die Europäer ein Mitspracherecht haben wollen, müssen sie sich relevant machen“, sagte Rutte. Nur so können sie wieder an den Tisch der Ukraine-Verhandlungen kommen. Etwa bei der Frage, wie die Sicherheitsgarantien aussehen könnten, die die Ukraine fordert, um vor neuen Angriffen Russlands geschützt zu werden.

Mehrere Politiker wiesen in München darauf hin, dass ein Nato-Beitritt die billigste und einfachste Lösung wäre, um den Schutz der Ukraine zu gewährleisten. Doch das lehnen die Amerikaner ab, und auch Deutschland hat sich bisher dagegengestellt. Stattdessen müssen dann andere harte Garantien her, etwa in Form von europäischen Truppen.

Laut finnischen Angaben haben die Amerikaner schon bei allen europäischen Staaten angefragt, welche militärischen Ressourcen sie beitragen könnten. „Die Amerikaner haben den Europäern einen Fragebogen geschickt, um zu erfahren, was möglich wäre“, sagte Stubb am Rande der Konferenz. „Das zwingt die Europäer darüber nachzudenken, und es ist ihnen überlassen zu entscheiden, ob sie diesen Fragebogen einzeln beantworten oder gemeinsam.“

Das könnte zu erheblicher Ernüchterung führen. Wie die Sicherheitsexpertin Claudia Major im Interview mit der WELT AM SONNTAG sagte, würden die Europäer sich schwertun, mehr als 20.000 Soldaten zu erübrigen – es würden aber 100.000 bis 150.000 gebraucht, um die Ukraine effektiv zu schützen. Zudem fehlten ohne die USA Schlüsselfähigkeiten, um diese Truppen zu schützen.

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Bevor man Soldaten in die Ukraine schicke, um einen Waffenstillstand abzusichern, müsse man genau überlegen, was passiere, wenn auf sie geschossen werde, sagte denn auch der schwedische Ministerpräsident Ulf Kristersson.

Sicherheitslage hat sich dramatisch verschlechtert

Eines wurde in München deutlich: Die Sicherheitslage für Europa hat sich dramatisch verschlechtert, weil hinter dem amerikanischen Schutzversprechen ein Fragezeichen steht und Russland damit ermuntert wird, seine aggressive Politik auch jenseits der Ukraine fortzusetzen.

Europa, das war weitgehend Konsens, kann darauf nur mit massiver Aufrüstung antworten, weit über die bisher vereinbarten zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts hinaus. Das sahen sogar deutsche Sozialdemokraten wie Bundeskanzler Olaf Scholz und Verteidigungsminister Boris Pistorius so. Doch wie soll das bezahlt werden?

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EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte an, sie werde in Kürze ein Aufweichen der Maastrichter Stabilitätskriterien vorschlagen, um es den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, höhere Verteidigungsausgaben über Schuldenaufnahme zu finanzieren. Auch Scholz griff diesen Vorschlag auf.

Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni begrüßte die Idee sogleich, weil sich das Land wegen seiner hohen Staatsverschuldung in einem besonders engen finanziellen Korsett bewegen muss, um Verteidigungsausgaben zu finanzieren. „Das ist ein erster fundamentaler Schritt in die richtige Richtung, das sollte aber auch weitergeführt werden mit der Einrichtung gemeinsamer finanzieller Instrumente“, hieß es in einer Erklärung Melonis.

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Notwendig wäre in Ländern wie Deutschland dann wohl auch eine Ausnahme für die Einhaltung der Schuldenbremse oder ein neues Sondervermögen. In der Union wird auch die Schaffung einer „Finanzierungsfaszilität“ außerhalb der EU diskutiert. Das hätte den Vorteil, dass man nicht auf EU-interne Blockierer wie Ungarn angewiesen wäre und auch Großbritannien und Norwegen einbinden könnte.

Eines ist jedenfalls klar: Die alte Ordnung in Europa und in der Welt zerfällt gerade. Und in einer multipolaren Welt, in der vor allem die Großmächte das Sagen haben, bleibt Europa nichts anderes übrig, als selbst zu einem Machtpol zu werden, der unabhängig ist von den USA. Und dazu gehört, dass der Kontinent neben den wirtschaftlichen nun auch ernsthafte militärische Muskeln entwickeln muss.

Clemens Wergin ist seit 2020 Chefkorrespondent Außenpolitik von WELT. Er berichtet vorwiegend über den Ukraine-Krieg, den Nahen Osten und die USA.

Source: welt.de

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