EU sollte Wirtschaftsbeziehungen zur Türkei stärken

Von einem „Akt der Dreistigkeit und Verantwortungslosigkeit“ sprach der türkische Justizminister Yilmaz Tunç, nachdem die Polizei den Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, wegen Terrorpropaganda festgenommen hatte. Tunçs Kritik zielte nicht auf seine Ermittler, sondern auf Kritiker im In- und Ausland, die nun versuchten, „die gerichtlichen Ermittlungen und Verfahren mit unserem Präsidenten in Verbindung zu bringen“. Als wäre genau das in Ermangelung überzeugender Beweise nicht das Offensichtliche: der Versuch von Recep Tayyip Erdoğan, seinen größten Widersacher auszuschalten, politisch und wirtschaftlich. İmamoğlus Bauunternehmen wurde konfisziert.

Dreistigkeit um Umgang mit demokratischen Regeln und der verantwortungslose Einsatz willfährig gemachter Institutionen haben vielerorts Demonstranten auf die Straßen getrieben. Panisch reagierten die Märkte: Aktienkurse sackten ab, in Istanbul wurde der Handel unterbrochen, Kreditzinsen schossen in die Höhe. Die Lira verlor mehr als elf Prozent, bis die Notenbank den Absturz mit einer Dollarschwemme auf knapp vier Prozent abmilderte.

Erdoğan startet die neue Repressionswelle aus einer Position relativer Stärke. Innenpolitisch hilft ihm die angekündigte Selbstauflösung der Terrorgruppe PKK. Der Sturz des Assad-Regimes im Nachbarland Syrien stärkt Ankaras Rolle als Regionalmacht und nimmt der innenpolitischen Debatte über Millionen syrischer Flüchtlinge im Land die Spitze. Maßregelungen von Donald Trump hat er nicht zu befürchten. Wirtschaftlich hat sich seit Erdoğans Wiederwahl im Mai 2023 einiges verbessert: Die Inflation wurde annähernd halbiert, die Leitzinsen sinken, Ratingagenturen stuften die Kreditwürdigkeit hoch – Vorschusslorbeer für Finanzminister Mehmet Şimşek.

Kritik ist ein Staatsvergehen

Aber die starken Marktreaktionen dieser Woche belegen, dass viele Akteure dem Kurs nicht trauen und den Rückfall in dirigistische Gewohnheiten fürchten, unter deren Folgen das Land seit Jahren leidet. Sie waren gewarnt: Führende Wirtschaftsvertreter, die die seit Wochen laufenden Verhaftungen kritisiert und vor Folgen mangelnder Rechtsstaatlichkeit gewarnt hatten, wurden publikumswirksam von der Staatsanwaltschaft vorgeladen. Kritik an der Regierung ist in der Türkei keine demokratische Tugend, sondern ein Staatsvergehen. Einschüchterung bleibt das probate Mittel der Mächtigen.

Auch wenn sich der wirtschaftspolitische Rahmen aufgehellt hat, so signalisiert der makroökonomische Datenkranz Krise. Die Inflation liegt noch bei 39 Prozent, die Leitzinsen betragen 42,5 Prozent. Das Wachstum ist zwar positiv, doch hinterlassen der radikale Schwenk von der Niedrig- zur Hochzinspolitik und staatliche Ausgabenkürzungen Bremsspuren in der Realwirtschaft. Viele Bürger murren ob knapper Einkommen und Renten, aber schnell steigender Lebenshaltungskosten.

Kapitalmarktinvestoren haben das staatliche Defizit angesichts hoher Lira-Zinsen und einer halbwegs stabilen Währung zuletzt gerne finanziert, doch dürfte sich mancher Carry-Trader dieser Tage beim Lira-Absturz eine blutige Nase geholt haben. Investoren in der Realwirtschaft bleiben in Warteposition, Hoffnungen auf große Geldinfusionen aus der Golfregion haben bisher getrogen.

Ein stabiler Anker sind westliche Entwicklungsbanken. Weltbank und Europas Förderinstitute EBWE und EIB unterstützen Investments in der Türkei mit vielen Milliarden Dollar. Sie sehen darüber hinweg, dass Erdoğan demokratische Regeln mit Füßen tritt, wenn es ihm in den politischen Kram passt. Maßregelungen der EU, des mit Abstand wichtigsten Handelspartners der Türkei, haben dort wenig bewirkt. Die Europäer sollten sie unterlassen und Erdoğan einen „Deal“ anbieten: Zollunion vertiefen, gemeinsame Energieagenden schmieden, Visavergabe lockern. Europa sollte weniger Regeln als Produkte exportieren. Das könnte eine vertrauensbildende Maßnahme sein.

Die Türkei ist und bleibt trotz gravierender politischer Mängel ein wichtiger Wirtschaftsstandort mit günstigen Produktionsbedingungen. Sie verfügt über ein schnell wachsendes technologisches Potential, wie die Rüstungsbranche eindrucksvoll zeigt, einen großen Binnenmarkt voll junger Käufer und alle Eigenschaften eines regionalen Drehkreuzes. Die EU sollte das auch vor dem Hintergrund des geopolitischen Bedeutungsverlustes, den Donald Trump ihr soeben zufügt, anerkennen. So wichtig und richtig es ist, dass Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die aktuellen Entwicklungen als „äußerst besorgniserregend“ umschreibt, für Abhilfe sorgen müssen die Türken selbst.

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