EU-Beitritt von Moldau: Auf dieser Wunschliste des Kreml

Kaum hat er den Saal betreten, da gibt sich der Mann in der blauen Trainingsjacke als Unruhestifter zu erkennen. Die Veranstaltung im Kulturzentrum des Dorfes Mărăndeni im moldauischen Norden läuft seit einer Viertelstunde, doch der Verspätete ist nicht gekommen, um den Vortrag zu hören. Er unterbricht den Redner und meldet sich selbst zu Wort: Zu Sowjetzeiten, sagt er, habe es in der Region eine Fabrik gegeben, die 8.000 Menschen Arbeit bot. Dann sei der Staat zerfallen, und mit ihm Teile der Industrie. „Und die EU? Bringt sie uns die großen Fabriken zurück, wenn wir ihr beitreten?“

Ein Aufstöhnen am anderen Ende des Saals. Ein bebrillter Mann in Jeansjacke findet, das wahre Problem hierzulande seien aus Moskau bezahlte Politiker. Doch der Trainingsjacken-Mann beharrt auf seiner europakritischen Haltung: „Wann kommen denn die neuen Arbeitsplätze? Wann bringt die EU sie hierher?“ Ein Raunen geht durch den Raum. Die Fronten sind klar.

Die Republik Moldau ringt um ihre Zukunft. Am 20. Oktober stimmen die Menschen in einem Referendum darüber ab, ob der angestrebte EU-Beitritt in der Verfassung festgeschrieben werden soll. Die Frage war nie dringlicher. Als russische Truppen im Februar vor zwei Jahren die Ukraine überfielen, hielt das kleine Nachbarland den Atem an. Denn auch Moldau steht auf der Wunschliste des Kremls. Hier hat sich schon seit Anfang der Neunzigerjahre eine Separatistenrepublik namens Transnistrien festgesetzt. Auch diese zählt in Wladimir Putins Vorstellung zur „Russki Mir“, zur russischen Welt.

Doch der Widerstand der Ukraine bewahrte Moldau – vorerst – vor einem ähnlichen Schicksal. Der Krieg rekalibrierte Europa. Die Europäische Union wollte plötzlich wieder wachsen. Und die moldauische Regierung ergriff die Gelegenheit: Bis 2030 will sie das Land – flächenmäßig etwas größer als Belgien und mit ähnlich wenigen Einwohnern wie Brandenburg – aus dem russischen Einflussbereich lösen und in die EU führen. Seit Juni 2022 ist Moldau Beitrittskandidat. Das Referendum soll diesen Kurs in der Verfassung verankern, damit künftige Regierungen ihn nur noch schwer ändern können.



Moldau

Transnistrien

Moldau

Einwohnerzahl:

Einwohner pro km²:

BIP pro Einwohner*:

Amtssprache:

Ukraine

2,4 Mio.

80 (EU: 109)

6.319 Euro (EU: 37.610)

Mărăndeni

Chișinău

Odessa

Comrat

Gagausien

Schwarzes

Meer

Rumänisch

(regional wird auch Gagausisch,

Russisch, Bulgarisch und

Ukrainisch gesprochen)

Rumänien

Krim

(von Russland

annektiert)

50 km

©ZEIT-GRAFIK

*Nominal (2023); Quelle: Nationales Statistikamt der Republik Moldau, EU-Komission, Eurostat

Moldau

Einwohnerzahl:

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Rumänisch

(regional wird auch Gagausisch,

Russisch, Bulgarisch und

Ukrainisch gesprochen)

Transnistrien

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*Nominal (2023); Quelle: Nationales Statistikamt

der Republik Moldau, EU-Komission, Eurostat

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*Nominal (2023); Quelle: Nationales Statistikamt

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*Nominal (2023); Quelle: Nationales Statistikamt der Republik Moldau, EU-Komission, Eurostat

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*Nominal (2023); Quelle: Nationales Statistikamt

der Republik Moldau, EU-Komission, Eurostat

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*Nominal (2023); Quelle: Nationales Statistikamt

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In Mărăndeni wettern der Mann in Jeansjacke und der in Trainingsjacke nun gegeneinander: europäische Zukunft gegen sowjetische Nostalgie. Der Bürgermeister erhebt sich, entschlossen, für Ordnung zu sorgen. Er braucht drei Anläufe, am Ende schreit er fast, bis der Redner endlich weitersprechen kann. Andrei Curararu, 38 Jahre alt, schwarz gekleidet, ist zwei Stunden über schlaglochübersäte Straßen von der Hauptstadt Chișinău nach Mărăndeni gefahren, um mit den Dorfbewohnern über das Referendum zu sprechen. Er zählt zum proeuropäischen Lager und gehört einer Bürgerinitiative an. Etwa 700 Freiwillige sind an ihr beteiligt, darunter Prominente wie eine moldauische Ringer-Weltmeisterin. Auch Curararu ist aus dem Fernsehen bekannt, wo er regelmäßig das politische Geschehen kommentiert.

Im Kulturzentrum klärt er nun auf: Nein, die EU werde Moldau nicht zwingen, orthodoxe Gotteshäuser zu schließen. Nein, in Schulen und Kindergärten werde im Falle eines Beitritts keine sogenannte LGBTI-Propaganda gelehrt. Ja, wer als EU-Bürger in einem anderen europäischen Land arbeite, habe Anspruch auf eine Rente. Auch die sowjetische Fabrik ist Thema. Während des Kalten Kriegs produzierte sie Sonare für U-Boote und andere militärische Spezialgeräte. Curararu erklärt, dass europäische Investitionen kleine und mittlere Unternehmen fördern würden – und dass 20 solcher Firmen besser seien als eine große.

Im Norden Moldaus, wo der wirtschaftliche Niedergang nach dem Zerfall der Sowjetunion besonders stark war, kreisen die Sorgen um Arbeitsplätze und Abwanderung. Im Kindergarten gäben morgens oft die Großeltern die Kleinen ab, erzählt dessen Leiterin. Viele Eltern seien ins Ausland gegangen, meist in EU-Länder. Sie arbeiten als Hilfsarbeiter auf Baustellen oder als Erntehelfer, manche schlafen in Sammelunterkünften. Zurück bleiben Alte, Schwache und Kinder.

Für manche hier ist der Westen ein unheimlicher Magnet, der den Dorfkindern die Eltern raubt. Für andere ist er ein Versprechen.

Kaum hat er den Saal betreten, da gibt sich der Mann in der blauen Trainingsjacke als Unruhestifter zu erkennen. Die Veranstaltung im Kulturzentrum des Dorfes Mărăndeni im moldauischen Norden läuft seit einer Viertelstunde, doch der Verspätete ist nicht gekommen, um den Vortrag zu hören. Er unterbricht den Redner und meldet sich selbst zu Wort: Zu Sowjetzeiten, sagt er, habe es in der Region eine Fabrik gegeben, die 8.000 Menschen Arbeit bot. Dann sei der Staat zerfallen, und mit ihm Teile der Industrie. „Und die EU? Bringt sie uns die großen Fabriken zurück, wenn wir ihr beitreten?“

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