Essay | Markt ohne Kapital, geht das?

Unser Planet setzt uns Grenzen: Also müssen wir eine sozial-ökologische Art des Wirtschaftens entwerfen, die die Kapitallogik überwindet

Das Kapital wird von Karl Marx wie folgt definiert: Es „setzt nur einen bestimmten Mehrwert, weil es den unendlichen nicht at once setzen kann; aber es ist die beständige Bewegung, mehr davon zu schaffen.“ Eine solche Bewegung ins Unendliche vergrößert nicht nur ständig die Schere zwischen Reich und Arm, sie wird auch unvermeidlich die Grenzen der ökologischen Belastbarkeit der Erde überschreiten.

Wenn wir für eine ökologieverträgliche nichtkapitalistische Ökonomie kämpfen wollen, müssen wir uns zunächst klar machen, was das eigentlich sein könnte. Karl Marx meint, damit eine Ökonomie die von der Gesellschaft gewünschten Ergebnisse hervorbringt, müsse sie geplant werden. Was verstand er unter Planung? Ein „Verein freier Menschen“, schreibt er, solle die „Proportionen“ der Ökonomie ins „richtige“ Verhältnis „zu den verschiednen Bedürfnissen“ setzen. Und wer soll planen? Er schlägt von allen Bürgerinnen gewählte Räte der einzelnen Kommunen einer Gesellschaft vor, keinen Zentralstaat wie im Realen Sozialismus. Nun ist das ein Planungsbegriff, den die Verteidiger der kapitalistischen Marktwirtschaft als solchen gar nicht kritisieren würden. Nur Marx’ Vorstellung vom Planungssubjekt ginge ihnen nicht weit genug. Dass Marx – würden sie argumentieren – nicht den Zentralstaat zum Subjekt mache, sei ja schon ein Schritt in die richtige Richtung. Aber auch die Kommune sei noch viel zu weit von den Bürgerinnen entfernt, als dass sie deren „verschiedne Bedürfnisse“ wirklich kennen könne. Nein, das könne nur der Markt an Ort und Stelle leisten, am besten direkt vor der Haustür der Individuen oder heute am Computerbildschirm.

Marx weiterdenken

In dieser Überlegung steckt aber ein Fehler, denn es gibt neben den Proportionen vor Ort, zum Beispiel wie viele Brötchen die Berliner Kantstraße braucht, auch die großen gesamtgesellschaftlichen Proportionen. Auf die haben die einzelnen Käuferinnen keinen Einfluss. So hatte das Proletariat zu Marx’ Zeit nicht genug Lebensmittel, dafür konnte es unverhältnismäßig viel Branntwein kaufen. Marx analysiert das so: Wenn auf die Bedürfnisse der Bürgerinnen niemand anders planend reagiert als die Kapitalisten, die miteinander um den Verkauf konkurrieren, dann regiert übergreifend nur noch der „Tauschwert“, der das Gegenteil einer Planungsinstanz ist. Er bewirkt den puren Zufall und wiederkehrende Krisen. Die Aktualität der Analyse springt ins Auge. Heute geht es nicht mehr nur ums Verhältnis zwischen Schlechterverdienenden und ihren Lebensmitteln, sondern es kommen die ökologisch relevanten Proportionen hinzu.

Zum Beispiel, wie wird dem Bedürfnis der Bürgerinnen teils nach Autos und Flügen, dem „motorisierten Individualverkehr“ (MIV), teils nach öffentlichem Verkehr (ÖV) wie Bussen und Eisenbahnen entsprochen? Diese ökologisch relevante Proportion lässt sich nicht auf dem Markt in Reichweite der Bürgerinnen regeln. Sie sollte von der ganzen Gesellschaft entschieden werden können. Die angemessene Antwort auf die von Marx aufgeworfene Frage, wie ein „Verein freier Menschen“ die „Proportionen“ der Ökonomie ins „richtige“ Verhältnis „zu den verschiednen Bedürfnissen“ setzen kann, würde dann lauten: in allgemeinen ökonomischen Wahlen.

Stellen wir uns das einmal praktisch vor. Die wählende Gesellschaft bringt zunächst ihre Bereitschaft, sich in den Grenzen ökologisch tragbarer Produktion und Konsumtion zu halten, in einer ersten freien Wahl zum Ausdruck. Sie braucht dann mehrere Schritte – über deren Ausmaß sie selbst entscheidet –, ihr Leben in solchen Grenzen neu zu erfinden. Diese Entscheidung fragt nicht bloß quantitativ nach „weniger“, sondern übergreifend qualitativ: Welche Bedürfnisse schreiben wir uns eigentlich zu? Vielleicht entdecken wir, dass der ökologisch fatale Konsumismus, in dem wir jetzt leben, sie gar nicht befriedigt. Könnte es sein, dass wir in einer Gesellschaft, die es wirklich erlaubt, dass wir unseren Bedürfnissen nachgehen, viel weniger Produkte brauchen? Welche das sein sollen, wollen wir uns aber nicht vorschreiben lassen. Innerhalb einer festgelegten Gesamtproduktmenge – das heißt letztlich: Gesamtmenge tolerabler Schadstoffe oder von Schäden überhaupt – werden also die Proportionen gewählt: Individualverkehr zu öffentlichem Verkehr, pflanzliche zu Fleischprodukten und so weiter.

Bedürfnisse. Aber welche?

Dafür müsste nicht die Marktwirtschaft abgeschafft werden. Für Marx waren Marktwirtschaft und kapitalistische Marktwirtschaft praktisch dasselbe; ein Markt, so seine Argumentation, reguliert sich durch den Tauschwert, und das läuft in dem Maß, wie er die ganze Ökonomie durchdringt – also auch etwa die Arbeitskraft zur Ware macht –, notwendig auf jenes Streben konkurrierender Anbieter nach dem „unendlichen Mehrwert“, also auf Kapitallogik, hinaus. Aber das stimmt nicht, denn man kann die Sache auch umdrehen: Wenn es den anbietenden Unternehmen unmöglich gemacht wird, ins Unendliche zu streben, indem ihnen Grenzen gesetzt werden, sowohl den einzelnen Branchen wie dem Gesamtmarkt, dann können sie nicht kapitallogisch agieren. Solche Grenzen wird freilich kein Staat setzen, der selbst auf vielerlei Art, etwa durch seine Schuldenabhängigkeit, mit dem Kapital verwoben ist. Grenzen indes, die die Gesellschaft als „freier Verein“ durch Wahlen den Unternehmen setzt, können durchgesetzt werden.

Wenn es weiter Märkte gibt, haben wir es weiter mit Arbeiterinnen und Unternehmen zu tun. Aber Unternehmen müssen nicht Privatunternehmen sein. Die mächtigsten, die heute als Aktiengesellschaften organisiert sind, sollten es gar nicht mehr sein dürfen. Andere können es bleiben, wenn sie die Grenzen nicht angreifen. Auch Superreichtum, der nie auf eigener Leistung der Reichen beruht und daher ganz undemokratisch ist, sollte es nicht mehr geben dürfen (in den USA wurde er noch in den 1960er-Jahren mit bis zu 90 Prozent besteuert). Arbeiterinnen sind im marxschen Sinn keine Klasse mehr: Wenn sie über ein hohes Grundeinkommen verfügen, nehmen sie nur noch solche Arbeit an, die ihnen gut erscheint.

Allgemeine Wahlen der Proportionen von Märkten sind im Einzelnen eine komplizierte Angelegenheit. Eine ganze Forschungsrichtung müsste das ausarbeiten. Nur ein Element sei angetippt: Wie würde das Wählen vor sich gehen? Parlamente, die auf die uns bekannte Art gewählt werden, gäbe es weiterhin; sie sind, wie der Rechtsstaat, wie die Gewaltenteilung, eine demokratische Errungenschaft, hinter die niemand zurückfallen darf. Doch liegt ihr Mangel auf der Hand: Wenn ich meine Stimme abgebe, um die Zusammensetzung eines Parlaments mitzubestimmen, dann heißt das nur, dass ich Fragen beantworte, die andere gestellt haben. Die großen Parteien nämlich, und faktisch, so lehrt es die Politikwissenschaft, in ihnen die staatsführenden Personen.

Wir sind noch nicht so demokratisch verfasst, dass wir nicht nur über die Antworten entscheiden, sondern auch über die Fragen. Aus diesem Grund gehen die Antworten, die wir in Parlamentswahlen erteilen dürfen, eigentlich nicht über Gehorsam hinaus. Denn zwischen mehreren Wegen wählen, das kann und muss ich auch in der Firma tun, wenn mein Chef mich anweist, den Computer zu reparieren. Es ist trotzdem schon viel Demokratie, weil wir immerhin wählend entscheiden, wer uns anweist. Man muss auch berücksichtigen, dass heute nicht alle Bürgerinnen imstande wären, in allen Belangen, die für die Reproduktion eines Gemeinwesens wichtig sind, möglichst vernünftige Fragen aufzuwerfen. Das ändert aber alles nichts daran, dass genau auf dieser Linie die Stärke, und auch die Freude, der Demokratie zu- oder abnimmt.

Es gibt aber einen Bereich, und das ist gar nicht zufällig der wichtigste, wo jedermann fähig wäre, auch über die Fragen zu entscheiden: die jeweils eigene Ökonomie. Was ist mir zu eigen? Nicht, dass ich zwischen „Angeboten“ wähle. Mir wird gesagt, ich könne mich „frei“ zwischen BMW und Opel entscheiden. Aber nur, wenn das als Frage gemeint ist, bin ich ökonomisch frei. Denn eine Frage – so sind die Regeln – darf ich, wenn sie mir konfus erscheint, zurückweisen und eine andere, eben meine eigene, an ihre Stelle setzen. Nicht zwischen BMW und Opel, sondern zwischen Autos und gutem öffentlichen Verkehr will ich mich entscheiden! Dass die Menschen mehr Ökologie wählen, versteht sich auch dann nicht von selbst, aber nun wissen sie: Wenn wir ökologisch lernen, ist es nicht für die Katz, sondern wird ökonomisch umgesetzt.

Es wird Wahlprogramme geben, die den Bürgerinnen dies oder jenes empfehlen, und das ist wichtig, denn wir brauchen Vorschläge und die öffentliche Debatte. Aber gewählt wird nicht eins der Programme. Vielmehr werden die Einzelnen sich in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis beraten, wobei sie selbst entscheiden, wie sehr sie sich von den Vorschlägen beeinflussen lassen. Zuletzt entscheidet jede/r über sein oder ihr Portemonnaie. Derart sozial vermittelt, kommt als Summe aller Einzelentscheidungen die gewählte Ökonomie heraus. Das weicht von der Parlamentswahl auch darin ab, dass es nicht zur Bildung einer Mehrheit kommt, die den Willen der Minderheit bricht. Denn auch wenn ich weiterhin das Auto nutzen will, obwohl sich die allermeisten dagegen entschieden haben, kann ich es tun. Ökologisch wäre aber viel gewonnen. Und die Unternehmen, sagen sie nicht heute schon, sie produzierten nur, was gewählt wurde? In der Ökonomie, die ich skizziert habe, wird es die Wahrheit sein.

Dieser Text geht auf Michael Jägers neues Buch zurück, das soeben im Metropolis-Verlag erschienen ist: Ökonomische Proportionswahlen. Für eine Marktwirtschaft ohne Kapitallogik. 237 S., 24,80 €

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