Südafrika steht vor dem dramatischsten politischen Wandel seit dem Ende der Apartheid, nachdem die Partei African National Congress (ANC) bei den Parlamentswahlen am 29. Mai ihre Mehrheit verloren hat. Nun werden wochenlange Verhandlungen zwischen dem ANC und seinen Kontrahenten darüber erwartet, unter welchen Umständen eine Regierungskoalition gebildet werden kann. Einigkeit herrscht darüber, dass die Sozialhilfe für Erwachsene beibehalten oder sogar erhöht werden soll. Aber der ANC will noch einen Schritt weitergehen.
Eine Woche vor der Wahl hatte er eine Erklärung veröffentlicht. In der verpflichtet er sich, innerhalb von zwei Jahren nach Bildung einer neuen Regierung die Grundzüge eines bedingungslosen Grundeinkommens auszuarbeiten. Sollte dies umgesetzt werden, wäre Südafrika das erste Land der Welt, das darauf hinarbeitet, allen Menschen zwischen 18 und 59 Jahren ein regelmäßiges Einkommen zu zahlen – ohne dass sie auf Arbeitssuche sein müssen.
Derzeit wird der „Social Relief of Distress Grant“ (SRD) an Personen gezahlt, deren monatliche Einkünfte unter der individuellen Armutsgrenze liegen. Dabei handelt es sich um den Mindestbetrag, den sie benötigen, um sich Lebensmittel mit genügend Kalorien zum Überleben zu leisten. Der ANC plant, die Anspruchsberechtigung auf alle Erwachsenen auszuweiten, indem die Grenze für die Bedürftigkeitsprüfung schrittweise angehoben wird. Derzeit haben einige Menschen, die von Ernährungsarmut betroffen sind, keinen Anspruch auf SRD.
Die Idee eines Grundeinkommens für alle Menschen, unabhängig von Alter, Klasse oder Beschäftigungsfähigkeit, wird seit Langem als Mittel zur Bekämpfung der Ungleichheit diskutiert. Elon Musk propagierte es als Lösung für den Fall, dass Roboter den Menschen die Arbeit abnehmen. Und auch Martin Luther King sah darin eine Antwort auf die weitverbreitete Armut. Nun könnte die Utopie, zumindest in Südafrika, endlich Realität werden.
93 Prozent der Sozialhilfeempfänger in Südafrika geben ihr Geld für Lebensmittel aus
„Wenn man den ärmsten Haushalten Geld gibt, belebt das die gesamte Wirtschaft“, sagt Kelle Howson, leitende Forscherin des in Johannesburg ansässigen Institute for Economic Justice (IEJ). So gäben 93 Prozent der Sozialhilfeempfänger in Südafrika ihr Bares für Lebensmittel aus. Eine großangelegte Studie von GiveDirectly in Kenia ergab, dass die Empfänger von Grundeinkommen das Geld nutzen, um für größere Anschaffungen zu sparen, ihre Ernährung zu verbessern oder ihr eigenes Unternehmen zu gründen. Trotz dieser Vorteile war die Idee vom „Basic Income“ vor der Coronapandemie vor allem eins: politische Fantasie. Doch mit Covid drehte sich der Wind.
Während der Pandemie gewährte Spanien 850.000 Haushalten eine monatliche Zahlung von 1.015 Euro zur Bekämpfung der Armut; in den USA zahlte der „Coronavirus Aid, Relief and Economic Security Act“ allen Erwachsenen, die weniger als 99.000 Dollar im Jahr verdienten, 1.200 Dollar aus. Im Vereinigten Königreich wurden 100 Milliarden Pfund an Arbeitslose und Selbstständige ausgeschüttet und die Zahlungen des „Universal Credit“ zwischen März 2020 und Oktober 2021 um 20 Pfund erhöht. Danach war es für die Regierungen schwieriger zu argumentieren, dass ein Grundeinkommen unmöglich zu verwalten sei. Doch nach der Pandemie vollzog die Politik eine radikale Kehrtwende.
Anstatt diese neuen sozialpolitischen Maßnahmen auszubauen, führten viele Länder Sparmaßnahmen ein, um die während Corona angehäuften Rekordverschuldung in den Griff zu bekommen. In Großbritannien hat das National Institute of Economic and Social Research herausgefunden, dass die Beibehaltung der Anhebung der Universal Credit-Zahlungen, die 2021 auslief, die Zahl der Haushalte in extremer Armut im Jahr 2022 auf 1,5 Millionen begrenzt hätte. Stattdessen ist die Zahl der Armen auf zwei Millionen angestiegen.
Südafrika hingegen behielt seine Covid-Zuschüsse bei. Als diese im April 2021 kurzzeitig gestoppt wurden, folgte ein Sommer voller Unruhen, die durch die Inhaftierung des Politikers Jacob Zuma ausgelöst wurden. Im August nahm die Regierung die Zahlungen wieder auf. Doch das System ist alles andere als perfekt.
So belaufen sich die SRD-Zahlungen auf umgerechnet gerade mal 19 Euro pro Monat, Millionen von Menschen erhalten den Zuschuss nicht einmal. Nach Ansicht des IEJ ist das Verfahren extra so angelegt, dass Menschen ausgegrenzt werden. Zum Beispiel muss man die Zahlung digital beantragen – in einem Land, in dem nicht jeder einen Computer und einen Internetzugang hat. Außerdem würden automatisierte Bedürftigkeitsprüfungen eingesetzt, die berechtigte Personen oftmals ausschließen. Elizabeth Raiters ist eine der vielen arbeitslosen Südafrikanerinnen, die regelmäßig abgelehnt werden. Sie arbeitet in der Kampagne #PayTheGrants mit, die gemeinsam mit dem IEJ im Juli 2023 Klage gegen die südafrikanische Regierung eingereicht hat. Ziel: Regelungen anfechten, die Millionen arme Menschen von den monatlichen Zahlungen ausschließen.
Irland und Wales: Experimente zeigen die positiven Effekte von Grundeinkommen
Das IEJ und #PayTheGrants sind Teil einer Koalition zivilgesellschaftlicher Organisationen, die angesichts der niedrigen Löhne ein Grundeinkommen für Arbeitnehmer mit Mindestlohn fordern. „Die Leute tun so, als wäre in Südafrika alles eitel Sonnenschein“, sagt Raiters. „Aber wenn man vor Ort ist, arbeitet und Menschen unterstützt, die jeden Tag darüber weinen, dass ihre Kinder hungrig sind und sie trotzdem keinen Zugang zu den Zuschüssen haben, dann ist das wirklich hart.“ Dabei haben Experimente mit Grundeinkommenszahlungen positive Ergebnisse gezeigt.
Im Jahr 2022 gewährte die walisische Regierung jungen Menschen zwei Jahre lang monatliche Zahlungen in Höhe von 1.600 Pfund. Die endgültigen Ergebnisse der Evaluierung werden erst 2027 erwartet, um die längerfristigen Auswirkungen auf das Leben der Empfänger zu erfassen. Aber Jane Hutt, Ministerin für soziale Gerechtigkeit, sagte bereits im Oktober, sie habe „fantastisches Feedback“ erhalten.
Im Mai veröffentlichte die irische Regierung die Ergebnisse eines Grundeinkommensprogramms, das 2.000 Künstlern 325 Euro pro Woche zur Verfügung stellt. Nach dem ersten Jahr sagten die Teilnehmer, die Zahlungen hätten es ihnen ermöglicht, sich von Krankheiten zu erholen, kleine Jobs für ehrgeizigere Projekte abzulehnen, mehr Zeit mit Freunden zu verbringen, Therapien zu bezahlen und sich stärker zu Hause zu fühlen in Irland.
Nach Angaben der UN besitzt in Südafrika das oberste 0,1 Prozent (35.000 Personen) fast ein Drittel des gesamten Privatvermögens. Das IEJ hat folglich eine Reihe von Finanzierungsmöglichkeiten für ein Grundeinkommen geprüft. Darunter: die Einführung einer Sozialversicherungssteuer, einer Vermögenssteuer oder einer Erhöhung der Mehrwertsteuereinnahmen, die sich aus zusätzlichen Konsumausgaben infolge des Zuschusses ergeben. „Wir wissen, dass die Ressourcen in Südafrika vorhanden sind, um ein Grundeinkommen nachhaltig zu finanzieren und so das Wirtschaftswachstum zu steigern“, sagt die Forscherin Kelle Howson. Andere Strategien zur Armutsbekämpfung hätten leider nicht funktioniert.