Spötter sehen Deutschland schon auf dem Weg zurück ins vorindustrielle Zeitalter. Fabriken seien womöglich bald gezwungen, ihre Produktion danach auszurichten, wie viel Wind- und Sonnenstrom gerade erzeugt wird, so die Befürchtung – ganz so wie vor Jahrhunderten, als nur dann das Getreide gemahlen werden konnte, wenn genug Wind für die Windmühlen da war. „Gaga“ seien solche Überlegungen, wettern Vertreter mittelständischer Unternehmen. Fabriken könnten nicht je nach Wetterlage aus- und angeknipst werden wie ein Herd, warnt die chemische Industrie. Selbst der Bundeskanzler meldete sich zu Wort. Die Aufregung ist also groß, aber worum geht es eigentlich in diesem Streit?
Begonnen hat alles vor anderthalb Monaten. Ende Juli veröffentlichte die Bundesnetzagentur in Bonn ein Eckpunktepapier. Auf 13 Seiten unterbreitete die Behörde Vorschläge für eine geplante Reform der sogenannten Stromnetzentgeltverordnung. Das klingt nach trockener Bürokratie, hat es aber in sich. Denn die Netzagentur setzt ein Fragezeichen hinter eine milliardenschwere Subvention: einen gesetzlich gewährten Rabatt, den Industrieunternehmen mit hohem Energieverbrauch bisher auf ihre Stromrechnung erhalten. Während der Sommerpause im August blieb das brisante Papier zunächst weitgehend unbeachtet. Doch nun kocht die Debatte umso mehr hoch.
Die Netzagentur argumentiert, dass die Strompreissubvention für die Industrie, die es seit gut zwei Jahrzehnten gibt, nicht mehr den Anforderungen des heutigen Stromsystems entspricht. Im ersten Halbjahr lieferten erneuerbare Energien knapp 60 Prozent des Stroms in Deutschland. An sich ist das eine gute Nachricht, das Problem ist aber: Die Stromerzeugung von Windrädern und Solaranlagen ist nicht stabil, sie schwankt wetter- und tageszeitabhängig, was zunehmend zu Problemen im Stromnetz führt.
Teures Strompreisprivileg für die Industrie
Deshalb nun der Reformplan der Netzagentur. In Zukunft sollen die Großverbraucher aus der Industrie einen Preisnachlass nur noch dann erhalten, wenn sie bei hohem Stromangebot im Netz viel verbrauchen und bei niedrigem weniger. Im Gespräch mit der F.A.S. versucht Klaus Müller, der Präsident der Netzagentur, die Wogen zu glätten. „Es geht nicht darum, dass irgendein Unternehmen in Deutschland nur dann produzieren soll, wenn Sonne und Wind da ist“, sagt Müller. Zugleich aber könne der bisherige Rabatt keinen Bestand haben. Schon deshalb nicht, weil er nach EU-Recht nur noch bis Ende 2028 zulässig sei. Ab dann seien solche Vergünstigungen nur dann weiter möglich, wenn sie „netzdienliches Verhalten“ der Stromkunden belohnten – also einen flexiblen Verbrauch. Diese Rechtslage werde auch von Industrievertretern nicht bestritten, sagt Müller. „Wir wollen definitiv auch stromintensive Produktion in Deutschland halten und suchen dafür eine europarechtskonforme Lösung“, verspricht er. Vorgesehen seien außerdem „lange Übergangsfristen“ für betroffene Unternehmen.
Etwa 600 Betriebe, darunter Chemieunternehmen, Aluminiumhütten und Papierfabriken, erhalten derzeit einen Preisnachlass von bis zu 90 Prozent auf die im Strompreis enthaltenen Netzentgelte. Ein durchaus teures Privileg: Rund zwei Milliarden Euro im Jahr kostet der Großabnehmerrabatt, der helfen soll, energieintensive Unternehmen im Land zu halten. Finanziert wird er über eine Umlage auf den Strompreis für andere Verbraucher. Privathaushalte und andere Kunden zahlen also mehr für den Strom, damit die Industrie ihn billiger bekommt.
Dass die Energiewende im Stromsektor ohne Verhaltensänderungen nicht funktioniert, ist unter Fachleuten Konsens. „Wir müssen uns daran gewöhnen, dass Flexibilität sowohl beim Stromverbrauch als auch bei der Erzeugung viel wichtiger wird“, sagte kürzlich Eon-Chef Leonhard Birnbaum im F.A.S.-Interview. Konkret heißt das für die Bürger zum Beispiel, ihre E-Autos möglichst dann aufzuladen, wenn viel Grünstrom ins Netz drängt. Aber mit Abstand größter Stromverbraucher ist in Deutschland die Industrie mit einem Anteil von mehr als 40 Prozent – und fast die Hälfte dieses Verbrauchs kommt in den Genuss des Netzentgeltrabatts.
Flexibler Stromverbrauch ist bisher „faktisch verboten“
Der bisherige Preisnachlass für die Industrie sei aus der Zeit gefallen, findet Lion Hirth, Energieökonom an der Berliner Hertie School: „Er verbietet faktisch einen flexiblen Stromverbrauch, das ist das Gegenteil von dem, was wir heute brauchen.“ Denn den Rabatt erhalten die Industrieunternehmen nur dann, wenn sie nicht nur besonders viel Strom verbrauchen, sie müssen diesen auch besonders gleichmäßig beziehen. Eine möglichst konstante, planbare Stromnachfrage galt nämlich in der alten Energiewelt mit Kohle- und Atomkraftwerken, die kontinuierlich liefen, als wünschenswert.
Heute jedoch führe der Rabatt zu „absurden Fehlanreizen“, beklagt Hirth. Manche Industrieunternehmen hätten ihren Stromverbrauch sogar künstlich verstetigt, um die Kriterien für den Preisrabatt zu erfüllen. Sie nutzten etwa eigene Blockheizkraftwerke, um in Zeiten, zu denen sie viel Strom benötigten, den Strombezug aus dem Netz zu begrenzen, weil sie nur dann den Preisnachlass bekämen. Hirth sagt, er wolle den Unternehmen nicht vorschreiben, wie sie zu produzieren hätten. „Ich finde nur, dass das faktische Verbot einer flexiblen Produktionsweise dringend wegmuss.“
Aber wie variabel kann die Industrie überhaupt ihren Stromverbrauch steuern? Was ist technisch möglich und was wirtschaftlich machbar ohne gravierende Kostennachteile gegenüber ausländischen Wettbewerbern? Die Netzagentur und auch der Ökonom Hirth trauen sich dazu bislang keine gesamtwirtschaftliche Abschätzung zu.
Chemiekonzern will billigen Strom in Wärmebatterie speichern
Dass der Rabatt für Großverbraucher neu geregelt werden muss, wird auch in der Industrie nicht bestritten. „Wir brauchen eine neue Netzentgeltregelung“, sagt Andreas Lützerath, Vorstand des Essener Aluminiumherstellers Trimet. Das Leichtmetall wird in einem elektrochemischen Prozess erzeugt, der normalerweise eine konstante Stromzufuhr erfordert. Trimet jedoch versucht schon seit mehr als zehn Jahren, seinen Strombedarf zu flexibilisieren. „In begrenztem Umfang“ sei das auch gelungen, sagt Lützerath, doch sei dies komplex und aufwendig.
Keine raschen Entscheidungen zu erwarten
Der Kunststoffhersteller Covestro wiederum hat in einer Chemiefabrik in Brunsbüttel ein Pilotprojekt gestartet. Eine „Wärmebatterie“ soll den Energiebedarf flexibilisieren. In dem Großspeicher werden Ziegelsteinblöcke elektrisch erhitzt. Zum Einsatz komme die Anlage in Zukunft immer dann, wenn es im Netz ein großes Stromangebot gebe, sagt Covestro-Vorstand Thorsten Dreier: „Wir beziehen dann Strom zu niedrigen oder negativen Preisen und speichern ihn als Wärme.“ Später wird die Wärme für die Erzeugung von Dampf genutzt. Klingt gut, allerdings warnt Dreier auch, dass ein Verlust des bisherigen Netzentgeltrabatts für sein Unternehmen „ein enormes Kostenrisiko“ bedeute. Die jährlichen Mehrkosten für die Covestro-Produktion in Deutschland könnten im Extremfall einen dreistelligen Millionenbetrag erreichen.
Olaf Scholz versucht zu beruhigen
Und was geschieht mit Unternehmen, die ihren Stromverbrauch nicht zu vertretbaren Kosten flexibel machen können? Bundeskanzler Olaf Scholz versprach kürzlich auf einer Chemiekonferenz, er werde sich dafür einsetzen, dass auch sie weiterhin „bezahlbare Netzentgelte“ haben. Wirtschaftsminister Robert Habeck brachte ins Spiel, die Industrie durch milliardenschwere staatliche Zuschüsse beim Netzentgelt zu entlasten. Das aber stieß sofort auf Widerstand vom Koalitionspartner FDP.
Von der Bundesnetzagentur sind derweil keine raschen Entscheidungen über eine Reform des Netzentgeltrabatts zu erwarten. Ihr Zeitplan sieht vor, dass die Neuregelung erst Anfang übernächsten Jahres in Kraft tritt. Im Bundestagswahljahr 2025 bleibt also noch viel Zeit für Debatten über die Energiepreisnöte der deutschen Industrie.