Erhöhung des Mindestlohns : 15 Euro pro Stunde – und dieser Niedriglohnsektor wäre vergangen

Marcel Fratzscher leitet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin und ist Autor der Kolumne „Verteilungsfragen
auf ZEIT ONLINE. Er schätzt den Austausch mit Leserinnen und Lesern. Diskutieren Sie heute ab zehn Uhr live mit dem Ökonomen über die Frage, ob der Mindestlohn von der Politik angehoben werden soll. Ihre Anmerkungen und Fragen beantwortet Marcel Fratzscher im Communitybereich direkt
unter dem Artikel.

Sollte
der Mindestlohn auf 15 Euro erhöht werden? Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat sich hier klar positioniert, auch SPD-Chef Lars Klingbeil hat sich für eine Anhebung ausgesprochen. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) lehnt dies ab. Manche sehen die Wirtschaft als Leidtragende einer
solchen Erhöhung. Aber stimmt das? Wären 15 Euro Mindestlohn zu viel?

Eine differenzierte Analyse zeigt, dass die
Gesamtwirtschaft und die Unternehmen von einem Mindestlohn in Höhe von 15 Euro
profitieren könnten.

Aber der Reihe nach: Der
Mindestlohn ist seit jeher umstritten. Vor der Einführung 2015 mit 8,50 Euro
monierten einige Ökonominnen und Ökonomen, der Eingriff würde die Wirtschaft schwächen und zu hoher Arbeitslosigkeit führen.
Das ist aber nicht passiert. Im Gegenteil: Die Beschäftigung in
Deutschland stieg weiter an. Der Mindestlohn wurde schrittweise erhöht. Nach
der Bundestagswahl 2021 ignorierte die Bundesregierung zum ersten Mal die
Mindestlohnkommission, die eine Empfehlung für die Anpassung
aussprechen soll, und setzte einen Mindestlohn von zwölf Euro durch. Und nun steht erneut
die Frage einer politischen Intervention und einer Anhebung auf 15 Euro zur
Diskussion.

Derzeit liegt der Mindestlohn bei 12,41 Euro. Eine Erhöhung auf 15 Euro hätte positive wie negative Effekte. Die Beschäftigten würden am meisten profitieren.
Durch die Einführung des Mindestlohns ist der Niedriglohnsektor in Deutschland
von über 21 Prozent aller Beschäftigten im Jahr 2014 auf heute knapp 16 Prozent
geschrumpft
.
Höhere Löhne bedeuten bessere Einkommen, was wiederum zu einer höheren Kaufkraft führt und auch den privaten Konsum erhöht. Das wiederum erhöht die Nachfrage und sorgt für mehr Umsatz für die Unternehmen.

Die Kehrseite einer Erhöhung auf 15 Euro

Aber die Lohnspreizung würde durch eine starke Anhebung des Mindestlohns
reduziert werden. Denn von der Erhöhung des Mindestlohns von 12,41
Euro auf 15 Euro werden nicht nur alle Beschäftigten betroffen sein, die jetzt
geringere Löhne erhalten. Als Folge wird sich die gesamte Lohnkurve nach oben
verschieben, da Unternehmen auch Beschäftigte mit etwas über dem Mindestlohn
besser bezahlen werden müssen. Nur mag die Lohnsteigerung der Beschäftigten
nicht so stark ausfallen wie die für die Beschäftigten mit Mindestlohn. Es gibt bisher
jedoch keine systematischen Erkenntnisse, dass eine geringere
Lohnspreizung die Anreize für Arbeit oder zusätzliche Arbeit signifikant
reduziert.

Dagegen
liegt die Vermutung nahe, dass viele Unternehmen die Leidtragenden einer
deutlichen Anhebung des Mindestlohns wären, denn sie müssten für die höheren
Löhne zahlen. Die Konsequenz könnte sein, dass ihre Gewinne schrumpfen und sie
somit weniger investieren. Dies muss jedoch nicht so sein, denn viele
Unternehmen werden zumindest einen Teil der gestiegenen Löhne in der Form von
höheren Preisen an die Verbraucher weitergeben.

Die produktiven Unternehmen gewinnen

Zudem
könnten einige Unternehmen gezwungen sein, Beschäftigte zu entlassen, da sie
die höheren Löhne nicht zahlen und diese nicht durch gestiegene Preise an die Verbraucherinnen
und Verbraucher weitergeben können. Dies haben wir nach der Einführung des
Mindestlohns 2015 bei einzelnen, vor allem kleinen Unternehmen gesehen. Der
wichtigste Punkt ist jedoch: Obwohl eine Erhöhung des Mindestlohns einzelne
Unternehmen negativ treffen kann, dürften die positiven Aspekte für die
Wirtschaft und Unternehmen als Ganzes überwiegen. Denn so zeigt eine Studie des
Ökonomen Christian Dustmann und seiner Co-Autoren
(PDF),
dass die Einführung und Erhöhung des Mindestlohns zu einer Verlagerung der
Beschäftigung von weniger produktiven zu produktiveren Unternehmen geführt hat.
Mit anderen Worten, der Mindestlohn hat die gesamte Wirtschaft leistungsfähiger
gemacht, weil er zu einer Verlagerung der Arbeitsplätze hin zu produktiveren
Jobs geführt hat.

Zudem ist der Arbeitskräftemangel in praktisch allen
Branchen so groß, dass selbst eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns nicht zu
einem Anstieg der Arbeitslosigkeit führen dürfte.

Und es
gibt einen zweiten positiven Aspekt eines höheren Mindestlohns. Studien für
die USA zeigen
,
dass ein Mindestlohn und eine generell gute Bezahlung die Loyalität und die
Motivation der Beschäftigten erhöhen und somit die Kosten für Unternehmen
reduzieren. Ein höherer Mindestlohn dürfte sich also zumindest zu einem kleinen
Teil über eine dadurch gewonnene Produktivität finanzieren.

In
einem Punkt haben die Kritiker jedoch recht: Ein Mindestlohn von 15 Euro dürfte
manche Produkte teurer machen. Die Bäckerei, der Supermarkt oder das Café
könnten gezwungen sein, die Preise erhöhen zu müssen. Dieser Nachteil aus Sicht
der Konsumentinnen und Konsumenten dürfte jedoch deutlich geringer sein als die
Vorteile durch höhere Löhne und Einkommen, insbesondere für Menschen mit
geringen und mittleren Einkommen, die direkt oder indirekt vom höheren
Mindestlohn profitieren. Zudem sollten höhere Preise nicht mit einem Anstieg
der Inflation verwechselt werden: Der Sprung des Mindestlohns auf 15 Euro würde
die Preise einmalig erhöhen und nicht zu einer dauerhaft höheren Teuerung
führen.

Und was ist mit der Mindestlohnkommission?

Ein
weiterer Kritikpunkt ist, diese politische Intervention schädige die
Marktwirtschaft, weil sie die Tarifautonomie unterminiere und die
Unabhängigkeit der Mindestlohnkommission gefährde. Die Argumente zeugen jedoch
von einem grundlegenden Missverständnis: Der Mindestlohn wurde vor allem
deshalb eingeführt, weil Beschäftigte im Niedriglohnbereich so gut wie nie über
Tarifverträge abgedeckt sind. Der Mindestlohn dient also als Ersatz für eine
funktionierende Sozialpartnerschaft. Und die Mindestlohnkommission ist nicht
unabhängig, sondern hochpolitisch, weil dort Arbeitgeber und Arbeitnehmer und
nicht Expertinnen und Experten über die Sinnhaftigkeit einer Anpassung des
Mindestlohns entscheiden.

Der
Staat wird einer der größten Gewinner eines höheren Mindestlohns sein. Dies
wird die Steuereinnahmen erheblich erhöhen, sowohl über die Einkommen- und
Lohnsteuer als auch über die Mehrwertsteuer dank eines gesteigerten privaten
Konsums.

Zudem
werden auch die Sozialausgaben des Staats sinken. Denn durch einen höheren
Mindestlohn muss der Staat weniger soziale Leistungen für sogenannte
Aufstocker zahlen, die zwar arbeiten, aber so wenig verdienen, dass sie auf
staatliche Leistungen angewiesen sind. Höhere Löhne bedeuten zudem mehr
Einnahmen bei den Sozialversicherungen und eine bessere Absicherung fürs Alter,
weniger Altersarmut und damit auch weniger Ausgaben für die Grundsicherung.

Wenn der Bundesfinanzminister dem Bundeskanzler nun vorwirft, einen Mindestlohn von 15 Euro zu befürworten, sei lediglich ein Manöver
für den Bundestagswahlkampf, dann mag das vielleicht zutreffen. Aber Fakt ist, dass die
wirtschaftlichen und sozialen Vorteile einer deutlichen Erhöhung des
Mindestlohns auf 15 Euro die Nachteile für einzelne Unternehmen überwiegen. Viele Menschen wären zufriedener, das ist gut für den sozialen Frieden und würde unserem höchst verunsicherten Land guttun.

Marcel Fratzscher leitet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin und ist Autor der Kolumne „Verteilungsfragen
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Sollte
der Mindestlohn auf 15 Euro erhöht werden? Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat sich hier klar positioniert, auch SPD-Chef Lars Klingbeil hat sich für eine Anhebung ausgesprochen. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) lehnt dies ab. Manche sehen die Wirtschaft als Leidtragende einer
solchen Erhöhung. Aber stimmt das? Wären 15 Euro Mindestlohn zu viel?

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