Ergebnisse jener Bundestagswahl: „Es fehlt an Leitfiguren“

Ergebnisse jener Bundestagswahl: „Es fehlt an Leitfiguren“

Eine gute Zeit, Berufspolitiker zumindest digital an einen Tisch zu kriegen, ist der Sonntagabend. Das Gespräch mit Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) sowie den Noch-Mitgliedern des Bundestages Mario Czaja (CDU) und Detlef Müller (SPD) wird per Videoschalte geführt – und geht direkt los mit nüchternen Tatsachen.

DIE ZEIT: Frau Lemke, Sie sitzen wieder als einzige Grüne aus Sachsen-Anhalt im Bundestag. Waren Sie am Wahlabend erleichtert, als Ihr Ergebnis kam?

Steffi Lemke: Definitiv nicht. Aber ich war mit Blick auf die bundespolitischen Ergebnisse natürlich nicht nur über das Ergebnis meiner eigenen Partei enttäuscht, sondern vor allem in großer Sorge über das Wahlergebnis der AfD. Ich bedaure es außerordentlich, dass mit Herrn Müller und Herrn Czaja zwei sehr engagierte Abgeordnete nicht mehr im Bundestag vertreten sein werden. Das eint uns alle: Auch in meinem Wahlkreis Dessau-Wittenberg, einem der größten in Deutschland, wurde ein engagierter Wahlkreiskandidat abgewählt und hat diesen Wahlkreis an die AfD verloren.

ZEIT: Herr Czaja, was ist in einem los, wenn klar wird, dass man sein Mandat verliert?

Mario Czaja: Ich lag am Sonntagabend lange Zeit vorn, und erst als die letzten beiden Stimmlokale ausgezählt waren, so gegen 0.30 Uhr, ging mein Wahlkreis verloren. Der Abstand lag am Ende bei 467 Stimmen, also 0,3 Prozent. Da herrschte Totenstille in meinem Team, Enttäuschung und Entsetzen. Mit Gottfried Curio hat ausgerechnet ein extremer Rechter aus dem tiefen Westberlin gewonnen, der bisher nur ein paarmal in Marzahn-Hellersdorf war und sich obendrein noch darüber lustig gemacht hat, dass wir uns um die vermeintlich kleinen Themen der Menschen kümmern. Dieses Wahlergebnis hat mit der realen Arbeit vor Ort nichts zu tun.

Detlef Müller: Ich bin Realist und kann rechnen. Seit dem Ampel-Aus hatten sich die Umfragewerte für die SPD ja nicht mehr bewegt. Wir waren immer bei 15 bis 17 Prozent. Und in meinem Wahlkreis in Chemnitz hatte die AfD Alexander Gauland aufgestellt. 84 Jahre alt, Ehrenvorsitzender. Mit dem Wahlkreis hat er, ebenso wie Curio, nichts zu tun – außer dass er hier vor 84 Jahren geboren wurde. Er hat auch erklärt, dass ihn die Wahlkreisarbeit überhaupt nicht interessiert, er sieht Außenpolitik und die großen Linien als seine Aufgabe. Im Wahlkampf war Gauland nur einmal in Chemnitz, er hat an keiner einzigen öffentlichen Diskussion mit uns anderen Kandidaten teilgenommen. Trotzdem wusste ich, dass ich keine Chance gegen ihn haben würde. Das ist bitter.

ZEIT: Wenn man gegen einen eigentlich unsichtbaren Gegenkandidaten antritt und verliert, verliert man dann auch ein bisschen den Glauben an die Wähler?

Czaja: Ja, in einem gewissen Maße. Ich frage mich ernsthaft, was haben die Menschen die vergangenen drei, vier Jahre hier vor Ort erlebt? Die AfD fällt im Kommunalparlament nur durch Nichtstun auf. Warum wird die Partei trotzdem gewählt? Mein Wahlkreis ist zweigeteilt: in die Großsiedlung Marzahn-Hellersdorf und in einige Eigenheimsiedlungen. Bei manch einem in der Großsiedlung kann ich den Unmut nachvollziehen. Die Menschen dort stehen mitunter vor großen sozialen Herausforderungen und erleben, dass es in ihrem Umfeld viele Flüchtlinge gibt, weil 60 Prozent aller Flüchtlinge in Berlin am Ostberliner Stadtrand untergebracht sind. Aber die in den Eigenheimsiedlungen? Ich kann nicht verstehen, dass man dort so zahlreich die AfD wählt.

ZEIT: Und nun?

Czaja: Jetzt höre ich so Sätze wie: Sie werden doch sicherlich trotzdem weiter für uns da sein. Und dann ich: Nein, das wird in dieser Form nicht mehr möglich sein, denn ich bin abgewählt.

Lemke: Die persönliche Enttäuschung, als direkt gewählter Abgeordneter die rote Karte zu bekommen, obwohl man so viel Gutes gemacht hat, kann ich nachvollziehen. Aber wir müssen uns viel tiefer damit auseinandersetzen, was da passiert ist. Und das ist kein ostdeutsches Phänomen. Ich kann es nicht mehr hören! Der Westen hat jetzt das AfD-Ergebnis, das der Osten vor dreieinhalb Jahren hatte. Und trotzdem wird die Partei von manchen nach wie vor als Ostproblem identifiziert. So ein Wahlergebnis ist nicht mehr auf einzelne Fehlentscheidungen der Politik und real existierende Probleme zurückzuführen, das ist gezielte Strategie. Rechtsextreme und Rechtspopulisten interagieren europaweit und international. Das kommt im politischen Diskurs viel zu kurz.

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