Kyi Hnin
Khaing, 43, ist eine Kindergärtnerin aus Mandalay, der Stadt mitten im Zentrum
des gestrigen Bebens in Myanmar. Sie war mit ihrer 16-jährigen Tochter zu Hause,
als die Beben kurz vor 13 Uhr Ortszeit begannen. Seither traut sie sich nicht
mehr in das Gebäude zurück, die Familie übernachtet auf der Straße.
Dass wir erst kürzlich umgezogen sind, war unser
Glück. Unser altes Haus befindet sich nur ein paar Straßen von unserem jetzigen
Zuhause entfernt, ein Wohngebiet etwas außerhalb des Zentrums von Mandalay. Das
Beben gestern brachte das alte Zuhause teilweise zum Einstürzen. Unnatürlich
schief steht es da, wie Häuser eigentlich nicht stehen können, die Wände sind
von Rissen durchzogen.
Ich war mit meiner 16-jährigen Tochter zu Hause, als
die Erde zum ersten Mal bebte. Das Haus befindet sich noch im Bau, zwei
Stockwerke hat es. Im Erdgeschoss entsteht ein neuer Kindergarten, im ersten
Stock arbeiteten Elektriker und Schreiner. Wir wohnen ganz oben. Wegen der anhaltenden
Bauarbeiten ist der Kindergarten noch nicht eröffnet – deswegen waren auch
keine Kinder da. Ein Glück. Anders der Kindergarten, in dem eine Freundin von
mir arbeitet. Das Gebäude stürzte ein und begrub die Kinder unter sich, auch
eine Kindergärtnerin starb.
Meine Tochter und ich wollten gerade Mittagspause
machen, da begann alles um uns herum zu wackeln. Wir rannten die Treppen
hinunter auf die Straße, aber das Wackeln hörte nicht auf. Alles schien sich zu
bewegen – das Haus, die Straße, einfach alles –, ich kann das gar nicht
wirklich beschreiben. Fünf Minuten später bebte die Erde erneut.
Hinter unserem Haus stürzte ein Nachbargebäude ein, es
befand sich gerade im Bau. Wir hörten die Schreie der Bauarbeiter. Das
zusammenstürzende Haus fiel auf sie, die Männer wurden unter dem Schutt
begraben. Helfer kamen, die die Arbeiter befreien wollten, auch wir eilten –
gemeinsam mit anderen Nachbarn – herbei, konnten aber erst einmal nichts tun. Uns
war klar, dass Nachbeben folgen würden, die mussten wir erst abwarten. Menschen
um ihr Leben schreien zu hören, ihnen aber nicht helfen zu können, war
schrecklich. Auch ich musste schreien, ganz laut. Einige Arbeiter konnten schließlich
befreit werden, aber mindestens drei von ihnen sind inzwischen tot.
Ungefähr zwei Stunden vergingen, bis wir die Ambulanzsirenen hörten. Wir standen da und sahen in der Ferne an mehreren
Stellen über der Stadt Rauch aufsteigen. Einige der eingestürzten Häuser sind
in Brand geraten. Unser staatliches Rettungswesen funktioniert nicht wirklich, wir
brauchen dringend Unterstützung aus dem Ausland. Bis die kommt, helfen die
Menschen hier freiwillig. Ich glaube allerdings nicht, dass ihre Hilfe
ausreicht. Mir fehlt der Überblick, aber ich habe gehört, dass die
Krankenhäuser längst überfüllt sind; das General Hospital zum Beispiel kann
keine Verletzten mehr aufnehmen. Hier in der Nähe gibt es ein kleineres Krankenhaus,
wo ein Mädchen aus der Nachbarschaft eingeliefert wurde. Das Erdbeben hatte den
Warmwassertank ihres Wohnhauses zerplatzen lassen wie einen Luftballon, die
Kleine verbrühte sich. Zum Glück konnte sie behandelt werden.
Ich zittere, während ich das hier erzähle. Ich stehe
unter Schock. Auch meiner Tochter wird es so gehen, aber der Schock äußert sich
bei ihr anders. Sie wirkt besonnen, ja fast ruhig. Damit beruhigt sie auch mich
ein wenig. Mein Mann war in der Innenstadt, als es passierte. Fünf Stunden lang
konnte ich ihn nicht erreichen, die Telefone funktionierten nicht mehr.
Inzwischen ist er bei uns.
Wenn ich mich umschaue, sehe ich vor allem Zerstörtes.
Häuser, die – wie unser altes Haus – teilweise eingestürzt sind, andere sind
komplett in sich zusammengefallen. An einigen Stellen sind die Häuser so
umgekippt, dass die Straßen davor komplett blockiert sind. Auch wenn das Beben
erst einmal vorbei ist: Viele Gebäude werden den Folgen der Erschütterung nicht
standhalten können. Manche sehen aus, als würden sie von unsichtbaren Fäden
gehalten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie der Schwerkraft nachgeben werden.
Dass unser neues Haus noch steht, gleicht einem Wunder.
Zurück trauen wir uns trotzdem nicht. Gestern Nacht
haben wir, wie eigentlich alle Menschen in Mandalay, auf der Straße übernachtet.
Die Leute haben sich auf Parkplätzen oder Schulhöfen eingerichtet, über den
Schlafplätzen sind Moskitonetze gespannt. Wie Zelte sehen sie aus. Andere suchen
Zuflucht in ihren Autos, schlafen entweder im Innenraum, auf der Motohaube oder
dem Dach. Mir fällt es schwer, in den Schlaf zu finden. Wie erwartet blieb es
ja nicht bei dem einen Beben: Die Nacht über folgten fünf, sechs weitere –
jedes Mal schreckte ich hoch, war hellwach.
Seit die Telefonverbindungen nach und nach wieder aufgebaut
werden können, versuchen wir, so viel wie möglich über unsere Verwandten und
Freunde zu erfahren. Ich habe auch die Eltern der Kinder angerufen, die zu mir
in den Kindergarten kommen. Die meisten sind okay. Doch die schlechten
Nachrichten halten an: Die kleine Tochter einer Freundin von mir starb.
Seit heute Morgen funktioniert das Internet wieder.
Wer kann, postet auf Social Media einen aktuellen Status. Ich suche hektisch
nach Freunden, Verwandten, Kollegen, weil ich lesen will, ob sie noch leben und
wie es ihnen geht. Ich lese viel Schlimmes.