Energiewende mit Wasserstoff: Benötigte Mengen sind nicht in Sicht

Die bislang größte Bewährungsprobe der neuen Wasserstoffwirtschaft spielt sich in einem staubigen, abgelegenen Landstrich ganz im Nordwesten Chinas ab. Dort, im Landkreis Kuqa, hat der staatliche chinesische Ölkonzern Sinopec im vergangenen Sommer die weltgrößte Pilotanlage zur Erzeugung von klimaschonendem „grünen“ Wasserstoff in Betrieb genommen. Er wird mittels Elektrolyse aus erneuerbarem Strom und Wasser hergestellt. Der Strom dafür stammt aus Solarparks in der Region. Mit der Wasserstofffabrik im Rekordformat hat China im internationalen Wettlauf um die Industrialisierung von Klimaschutztechnologien wieder einmal die Nase vorn. Fachleute aus der ganzen Welt blicken gespannt darauf, ob das Vorzeigeprojekt hält, was es verspricht.

Grüner Wasserstoff gilt nicht nur in China als eine Art Wundermittel der globalen Energiewende. Er soll in Stahlwerken die Kohle ersetzen und in der Chemieindustrie das Erdgas. Er kann zudem als dringend benötigtes Speichermedium für erneuerbaren Strom aus Wind- und Solaranlagen genutzt werden, indem er später in Gaskraftwerken wieder zu elektrischem Strom rückumgewandelt wird.

Brennstoffzellen, E-Fuels und Wasserstoffheizungen

Auch im Verkehr trauen Experten dem klimaschonenden Wasserstoff einiges zu. Er soll schwere Lastwagen, Busse und vielleicht auch Autos, die mit Brennstoffzellen statt Verbrennungsmotoren ausgestattet sind, auf Klimaschutz trimmen. Er kann aber auch zu nachhaltigen synthetischen Kraftstoffen, sogenannten E-Fuels, weiterverarbeitet werden. Die sollen etwa große Passagierjets beflügeln, für die ein batterieelektrischer Antrieb wegen des hohen Gewichts der Batterien schwierig ist.

Optimisten glauben sogar daran, dass Wasserstoff beim Heizen von Gebäuden auf breiter Front Erdgas ersetzen kann. Die Industrie bewirbt heute schon Heizungen, die „H2 ready“ sind, also mit Wasserstoff (chemische Bezeichnung: H2) befeuert werden können.

Das klingt alles toll. Kaum einer der großen Pläne für den grünen Großumbau von Energiesystem, Industrie und Verkehr kommt ohne klimaschonenden Wasserstoff aus. Genau diese große Bedeutung und die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten des Energieträgers werden nun aber zum Problem. Denn das bedeutet auch: Der Bau der großtechnischen Elektrolyseanlagen zur Erzeugung von grünem Wasserstoff müsste eigentlich mit Hochdruck vorangetrieben werden. Doch der Aufbau der neuen Wasserstoffwirtschaft ist rund um den Globus ins Stocken geraten. Und das bedeutet: Die Welt steuert auf eine gewaltige Wasserstoff-Lücke zu.

„Wir müssen realistisch sein“

Die Internationale Energieagentur (IEA) in Paris befürchtet, dass die Ausbauziele global verfehlt werden, weil in den kommenden Jahren viel zu wenige Anlagen in Betrieb gehen. Wie gigantisch die Herausforderung ist, zeigt eine Modellrechnung der IEA. Demnach müssen die globalen Produktionskapazitäten für grünen Wasserstoff bis 2030 von weniger als ein Gigawatt auf 590 Gigawatt verzigfacht werden, damit die Welt eine realistische Chance hat, bis 2050 klimaneutral zu werden und die Ziele des Klimagipfels von Paris einzuhalten.

Kann das überhaupt noch gelingen? „Wir müssen realistisch sein, diese Ziele sind extrem ambitioniert“, sagt Werner Ponikwar, Vorstandschef des Dortmunder Anlagenbauers Thyssenkrupp Nucera, eines der führenden Hersteller von Elektrolyseanlagen in Europa. Von den ersten Plänen bis zur Inbetriebnahme einer Wasserstoffproduktion vergingen in der Regel fünf bis sieben Jahre, rechnet Ponikwar vor. Das bedeutet: Wasserstoffprojekte, die heute nicht angegangen werden, können bis Ende des Jahrzehnts, wenn sie benötigt werden, kaum fertiggestellt werden.

F.A.S.

Für das Industrieland Deutschland sind das schlechte Nachrichten. Denn für den Klimaschutz etwa in den Chemiefabriken und Stahlhütten werden enorme Mengen an Wasserstoff benötigt. Aber gemessen am zukünftigen Bedarf, gibt es den Energieträger bisher nur in homöopathischen Dosen. Beispiel Thyssenkrupp: Der Ruhrgebietskonzern betreibt in Duisburg das größte deutsche Stahlwerk und fertigt dort Spezialstahl für die Autoindustrie. In Zukunft soll die Stahlhütte mit Wasserstoff statt mit Kohle betrieben werden.

Deutschland braucht Importe – aber woher?

Im ersten Schritt will Thyssenkrupp rund ein Viertel der Produktionskapazität umstellen. Jährlich rund 140.000 Tonnen grüner Wasserstoff werden dafür benötigt. Zum Vergleich: Vergangenes Jahr wurden auf der ganzen Welt nur rund 100.000 Tonnen erzeugt. Notfalls muss Thyssenkrupp nach der Umstellung erst einmal auf klimaschädliches Erdgas als Energieträger ausweichen.

Die Pläne der Bundesregierung sehen vor, dass Deutschland den Großteil seines zukünftigen Wasserstoffbedarfs durch Importe deckt. Denn andere Länder haben bessere Standortbedingungen für die Erzeugung des vielen Wind- und Solarstroms, der für die Elektrolyse nötig ist. Aber wird Deutschland international genügend einkaufen können, wenn in vielen Ländern der Aufbau der Wasserstoffwirtschaft nur zäh vorankommt?

Der Essener Energiekonzern Eon hat vor zwei Jahren den großangelegten Import von Wasserstoff aus Australien nach Europa angekündigt. Doch im April musste der australische Geschäftspartner von Eon einräumen, dass sich das als interkontinentale „Wasserstoffbrücke“ angepriesene Vorhaben verzögern wird. Auch ein geplantes Wasserstoffprojekt von Uniper in Rotterdam lässt auf sich warten. Und die Energiekonzerne Shell und Engie haben im April ein Großprojekt in Portugal gleich ganz gestrichen.

„Wenn es so weitergeht wie bisher, dann werden wir mittelfristig in Deutschland nicht annähernd so viel Wasserstoff zur Verfügung haben, wie wir benötigen“, warnt Katherina Reiche. Die Eon-Managerin ist Vorsitzende des Nationalen Wasserstoffrats, eines Expertengremiums, dem Vertreter von Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft angehören und das die Bundesregierung bei deren „Wasserstoffstrategie“ berät.

Lücke zwischen Ambition und Realität

Sowohl der Bau heimischer Wasserstofferzeugungsanlagen, als auch der Aufbau einer Importinfrastruktur komme viel zu langsam voran, beklagt Reiche. 10 Gigawatt an eigener Elektrolyse-Kapazität will Deutschland nach den Plänen der Bundesregierung bis 2030 aufbauen. Aber bisher gebe es nur für ganze 3 Prozent davon feste Investitionsentscheidungen, rechnet Reiche vor. „Die Lücke zwischen Ambition und Realität könnte kaum größer sein.“

Ob in Europa, Nordamerika oder in Asien – überall hakt es. Auch in China gibt es Probleme, womit wir zurück in der Wasserstofffabrik im chinesischen Kuqa sind. Deren Produktionsstart verlief nämlich offenbar ziemlich holprig. 20.000 Tonnen grünen Wasserstoff sollen die großtechnischen Elektrolyseanlagen dort jährlich produzieren.

Der Betreiber Sinopec will den Wasserstoff für eine seiner Raffinerien nutzen. Es soll dort konventionellen Wasserstoff als Rohstoff ersetzen. Nur haperte es zunächst gewaltig bei dem Wasserstoff-Prestigeprojekt in der chinesischen Steppe. Sinopec räumte ein, dass die Anlage zunächst nur ein Fünftel so viel Wasserstoff erzeuge wie angestrebt. Die Elektrolyseanlagen aus chinesischer Produktion kamen offenbar nicht damit zurecht, dass die Stromversorgung mit Solarstrom je nach Wetterlage schwankt. Mittlerweile hat die Wasserstofffabrik laut Sinopec die Hälfte der Kapazität erreicht.

Die Hälfte aller Elektrolyseure steht in China

Aber immerhin ist China deutlich weiter als der Rest der Welt. In Europa und den USA gibt es zwar große Ankündigungen für den Bau von Anlagen zur Wasserstoff-Elektrolyse – aber kaum handfeste Investitionsentscheidungen. In China wird dagegen heute bereits viel mehr investiert, wie eine Auswertung der Unternehmensberatung PWC auf Basis von Daten der Internationalen Energieagentur zeigt.

„Etwa die Hälfte aller Elektrolyseure, die heute auf der Welt in Betrieb sind, stehen in China“, sagt Dirk Niemeier, Wasserstoffexperte bei PWC. Nicht nur in der Produktion von Wasserstoff, auch bei der Fertigung von Elektrolyseanlagen verfügt China über die weltgrößten Produktionskapazitäten. Klimaschutzziele gibt es eben nicht nur in Europa: Die Regierung in Peking hat angekündigt, den weiteren Anstieg der Treibhausgasemissionen in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt bis 2030 zu stoppen. Bis 2060 soll China klimaneu­tral werden.

Im Nahen Osten will derweil vor allem Saudi-Arabien zur Wasserstoff-Großmacht aufsteigen. Im Rahmen des Mega-Siedlungsprojekts Neom bauen saudische und amerikanische Investoren am Roten Meer für mehr als 8 Milliarden Dollar die erste Wasserstoffproduktion der Welt im Gigawatt-Bereich. 2026 soll die Anlage in Betrieb gehen. Den Strom werden Wind- und Solarparks liefern, der Wasserstoff soll zu Ammoniak verflüssigt und mit Schiffen exportiert werden.

Die Technik für ihre riesige Wasserstofffabrik kaufen die Saudis in Deutschland ein: Thyssenkrupp Nucera liefert die Wasserstoff-Erzeugungsanlagen auf die arabische Halbinsel. Aber auch Nucera macht die Blockade bei vielen anderen Wasserstoffprojekten zu schaffen. Es zeigten sich „immer deutlicher Verzögerungen bei der finalen Investitionsentscheidung bei vielen potentiellen Kunden“, warnte das Unternehmen Mitte Mai in seinem Halbjahresbericht. Am Finanzmarkt ist der große Wasserstoff-Hype ohnehin erst einmal vorbei. Der Aktienkurs von Nucera hat sich seit dem Börsengang vor elf Monaten fast halbiert.

„Rote Ampel für grünen Wasserstoff“

Ein Haupthindernis für den nachhaltigen Wasserstoff ist sein bisher hoher Preis. Grüner Wasserstoff aus erneuerbarem Strom ist aktuell bis zu sechsmal so teuer wie grauer aus Erdgas. Eine Alternative ist der sogenannte blaue Wasserstoff, der zwar ebenfalls aus Erdgas hergestellt wird, dessen CO2-Emissionen aber unterirdisch eingelagert werden, statt in die Atmosphäre zu gelangen. Vor allem in den USA, wo es viel heimisches Erdgas gibt, setzen Unternehmen auf das sogenannte Carbon Capture and Storage (CCS). Aber auch diese Methode ist teuer: Blauer Wasserstoff kostet etwa doppelt so viel wie grauer.

Ohne staatliche Zuschüsse zum Bau und auch zum Betrieb der Wasserstoffanlagen gehe es vorerst nicht, sagen Fachleute. Nur so könne überhaupt ein Markt mit einer ausreichend großen Nachfrage für klimaschonenden Wasserstoff entstehen – und nur dann könnten sich Größenvorteile und Lerneffekte einstellen, die zu niedrigeren Erzeugungskosten führen. Soweit die Theorie, die Realität sieht anders aus.

Weder in der EU noch in den USA stehe bislang fest, unter welchen Voraussetzungen es wie viel Förderung für die Wasserstoff-Pioniere gebe, sagt Nucera-Chef Ponikwar. Das sei der Hauptgrund, warum so viele Wasserstoffprojekte in der Warteschleife hingen. „Die Investoren brauchen Klarheit“, fordert er. „Die Definition von grünem Wasserstoff in Europa und den USA ist viel zu eng und komplex“, kritisiert auch der PWC-Wasserstoffexperte Niemeier. China sei da sehr viel pragmatischer.

Hinzu kommen andere Probleme, etwa die gestiegenen Zinsen, die die Finanzierung der Wasserstoffprojekte verteuert haben, und der gesunkene Erdgaspreis, der konventionellen Wasserstoff billiger macht – und damit den Kostennachteil von grünem Wasserstoff vergrößert. Alle Faktoren zusammen haben die große Wasserstoff-Offensive in vielen Ländern ausgebremst. Oder wie Katherina Reiche, die Vorsitzende des Wasserstoffrats, kalauert: „Die Ampel für grünen Wasserstoff steht auf Rot.“

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