Als die EU in den ersten Dezembertagen beschloss, alle Importe von russischem Gas bis Ende 2027 einzustellen, dauerte es noch einen Tag, bis der türkische Energiekonzern Botaş und sein russisches Pendant Gazprom ihre Vertragsgespräche beendeten. Sie einigten sich auf die Verlängerung der Ende Dezember auslaufenden Verträge, wie Energieminister Alparslan Bayraktar mitteilte. Damit bleibt Russland der größte Gasversorger der Türkei – und die Türkei der letzte bedeutende Kunde von russischem Pipelinegas im Westen.
Die Türkei geht weiter ihren eigenen Weg. Aufforderungen aus Brüssel oder Washington, die Gas- und Öleinkäufe in Russland einzustellen und die russische Kriegskasse nicht weiter mit Milliardenbeträgen zu füllen, beeindrucken Ankara vordergründig gesehen wenig. Dennoch klingt das Geschäft für Moskau, das auf das Geld angewiesen ist, besser, als es ist: Zum einen laufen die Verträge über den Bezug von bis zu 22 Milliarden Kubikmeter Gas nicht mehr über 25 Jahre, sondern nur noch über zwölf Monate. Das gibt Ankara Spielraum, sich an eine schnell wandelnde geopolitische Lage anzupassen. Zum anderen lässt die türkische Seite keinen Zweifel daran, die Importmenge weiter reduzieren zu wollen.
Abkehr von Russlands Gas
Früher habe der Anteil russischen Gases in der Türkei bei 60 Prozent gelegen, heute seien es noch knapp 40 Prozent, sagt Vizeenergieminister Ahmet Berat Çonkar, und: „Unser Ziel ist es, ihn auf 25 Prozent abzusenken. Wir wollen nicht von einem einzigen Land abhängig sein.“ Aktuell verfeuern die Türken etwa 55 Milliarden Kubikmeter Gas, 2030 könnten es 60 Milliarden sein. Damit dürfte Gazproms Beitrag um ein Drittel sinken.
Der Kurs weg vom russischen Gas ist nicht neu. Seit Jahren diversifiziert Ankara die Gasbezüge. Knapp zehn Milliarden Kubikmeter Gas umfasst der Vertrag mit Iran, ein Teil davon gehört zu einem Dreiecksgeschäft mit Turkmenistan. Der Vertrag läuft Mitte 2026 aus und soll verlängert werden. Überdies wurden die LNG-Importe stark ausgeweitet, etwa aus Algerien. Zuletzt wurden Verträge mit amerikanischen Lieferanten geschlossen, die auf 1500 Schiffslieferungen binnen 15 Jahren hinauslaufen.
Was der energiehungrigen Türkei die Emanzipation von Russlands Gas leicht macht, sind vor wenigen Jahren gefundene große Gasvorkommen im Schwarzen Meer. Putins türkisches Problem liegt ein paar Dutzend Seemeilen nördlich der türkischen Küstenlinie in 4500 Meter Tiefe. Dort stießen Erkundungsbohrungen im Jahre 2020 auf Gas. Zuerst war von 305 Milliarden Kubikmetern die Rede, heute beliefen sich die gesicherten Reserven auf 785 Milliarden Kubikmeter, sagt Gökhan Merey. Das reiche, um ein Viertel der Nachfrage der Türkei für die kommenden 25 Jahre zu befriedigen. „Wir glauben, dass da noch mehr Gas ist.“
„Eines der wichtigsten Projekte“
Merey ist der Manager des Hafens und Logistikzentrums Filyos, wo das Gas Land erreicht. Man kann den Punkt von dem an den Meeressaum gebauten, sich wie eine auslaufende Welle lang am Ufer erstreckenden, weiß strahlenden Verwaltungskomplex erkennen: ein dunkelgraues, großes, rundes Etwas, das an Land kriecht. Von hier aus sind es 500 Kilometer Richtung Osten nach Samsun, wo die russische Blue-Stream-Gaspipeline türkisches Festland erreicht. Die 2003 in Betrieb genommene Leitung schöpft ihre 16 Milliarden Kubikmeter Kapazität schon lange nicht mehr aus. Bald könnte sie ganz überflüssig werden.
In Filyos wird das türkische Schwarzmeergas getrocknet und ins Netz eingespeist. „Das ist eines der wichtigsten Projekte der Türkei“, sagt Merey. Die doppelreihige Umzäunung mit Stacheldraht obenauf, Polizisten mit Maschinenpistolen und gepanzertem Fahrzeug an der Einfahrt machen das augenfällig. Scharf fiel auch die Reaktion aus, nachdem ukrainische Drohnen in der türkischen Wirtschaftszone nahe den Gasfeldern zwei leere Öltanker in Brand geschossen hatten, die der russischen Schattenflotte zugerechnet werden. „Sehr beängstigend“ nannte Außenminister Hakan Fidan das.
Fördermenge soll verdoppelt werden
In Filyos lässt sich der frühere Marineoffizier Merey davon nicht erschrecken. Die aktuelle Fördermenge von neun Millionen Kubikmetern am Tag will er binnen Jahresfrist auf 20 Millionen verdoppeln. Bis 2028 solle die Förderung auf 40 bis 45 Millionen Kubikmeter am Tag erhöht werden. Verlegearbeiten seien bereits im Gang.
Als müsse er das bestätigen, verlässt derweil gemächlich ein in der türkischen Nationalfarbe rot gestrichener Versorger den neu angelegten Hafen. Dutzende meterhohe Kabeltrommeln auf dem Vorfeld zeugen von anstehenden Arbeiten. Wie viele Milliarden Euro der Staat in das Unterwasserprojekt 2000 Meter unter der Meeresoberfläche investiert habe, will Merey nicht sagen. Man möge die Regierung fragen.
Vizeenergieminister Çonkar spricht unbestimmt von „Milliarden Dollar“, nennt das Investment lohnend. „Wir machen gute Geschäfte.“ Man werde weiter investieren. Es geht nicht nur ums Geld. Außen- und sicherheitspolitische Interessen kommen dazu. Türkische Explorationsschiffe haben in umstrittenen Gewässern vor Zypern, auch vor der Küste Somalias nach Öl und Gas gesucht. Vorige Woche hat Bayraktar das mit der Regierung Pakistans verabredet. Auch die Küste vor Libyen ist als Arbeitsplatz der stetig wachsenden Flotte an Erkundungs- und Bohrschiffen im Gespräch.
Es geht auch um Flüssiggas
Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan will sein Land zu einer Drehscheibe für den Gashandel mit der EU machen. Bereits heute fließt Gas aus Aserbaidschan durch die Türkei bis nach Italien. Russisches Gas, das über die Turk-Stream-Leitung kommt, wird über Bulgarien bis in die Ukraine gepumpt.
Man könne die Durchleitungskapazitäten verdoppeln oder verdreifachen. Doch dafür bräuchten die Produzenten am Kaspischen Meer Abnahmegarantien, sagt Çonkar. „Die Türkei ist in der Lage, beachtliche Gasmengen zu verkaufen.“
Dabei geht es nicht nur um das selbst produzierte oder aus dem Osten bezogene Gas. Um US-Präsident Donald Trump ruhigzustellen, hat die Türkei zuletzt ihre LNG-Einkäufe in den USA ausgeweitet. Auch mit Italiens ENI und der deutschen SEFE – der staatlichen deutschen Nachfolgegesellschaft von Gazprom Germania – hat man die Abnahme von LNG verabredet. Dabei dürfte es sich um russisches LNG handeln, das die Europäer nicht mehr akzeptieren wollen.
Die Gasinfrastruktur wächst. Zu den fünf Anlagen zur Regasifizierung sollen zwei weitere dazukommen. Das Fassungsvermögen der Gasspeicher wird auf zwölf Milliarden Kubikmeter verdoppelt. Das dient der Versorgungssicherheit, auch dem Handel. Mit dem liebäugelt auch der ungeliebte Nachbar im Westen. Griechenland bietet sich als LNG-Anlandestation für Einfuhren nach Südosteuropa an. Die Ukraine hat dort bereits LNG-Lieferungen aus den USA eingebucht.
Zuwachs durch Atomstrom
Ankaras Gasstrategie ist Teil einer größeren Energiestrategie. Bis 2035 soll die Kapazität der Wind- und Sonnenstromerzeugung von 36 auf 120 Gigawatt verdreifacht werden. Das soll Kohlekraftwerke ersetzen, ohne viele Gaskraftwerke neu bauen zu müssen. Gezielte Staatshilfen für heimische Hersteller von Solar- und Windkraftanlagen gehören dazu. Nur die Wasserstromerzeugung schwächelt wegen Wassermangels in Stauseen.
Einen großen Zuwachs erwartet sich die Regierung vom Atomstrom. Drei große Kraftwerke sollen entstehen, dazu weitere kleine. Der erste von vier 1200-Megawatt-Blöcken des neuen Kernkraftwerks Akkuyu am Mittelmeer soll im kommenden Jahr ans Netz gehen. Einmal komplett in Betrieb würde es zehn Prozent des türkischen Strombedarfs decken. Dass es vom russischen Staatskonzern Rosatom geplant, gebaut, finanziert und betrieben wird, sieht Vizeminister Çonkar nicht als Problem. Die Risiken seien nicht anders, behauptet er, als wenn Eon in der Türkei ein Gaskraftwerk betreibe.