„Noch einmal duschen, dann ist Weihnachten“ – Seite 1
Manfred Kiekbusch hat sich eine rote Weste übergeworfen, eine Tasche mit Hertha-BSC-Sticker, über seiner Schulter hängt noch ein Jutebeutel, aus dem Lampenkartons und eine Steckerleiste ragen. Er zieht die Glastür auf und tritt in die Sonne, die sich zwischen den Hochhausriegeln der Weißen Siedlung in Berlin-Neukölln ihren Weg bahnt. Sein Job: Menschen beim Geldsparen helfen.
Für die Caritas geht Kiekbusch in die Wohnungen von Geringverdienern, Arbeitslosen, Aufstockerinnen und Asylsuchenden, tauscht Glühlampen gegen LED, misst den Stromverbrauch von Fernsehern, Kühlschränken, Durchlauferhitzern, rückt Sofas weg von der Heizung und schraubt Perlatoren unter Wasserhähne, weil die dafür sorgen, dass mehr Luft und weniger Wasser aus dem Hahn kommt.
Seit Jahren macht Kiekbusch das, jeden Tag. Und mit ihm im Land mehr als 600 Kolleginnen und Kollegen allein an den Standorten der Caritas, dazu die der Verbraucherzentrale, Arbeiterwohlfahrt, Diakonie, Kommunen, privaten Agenturen – Energiesparhelfer, die Menschen davor bewahren, wegen hoher Energiekosten arm zu werden. Davon waren im vergangenen Jahr laut Statistischem Bundesamt knapp 16 Prozent der Bevölkerung bedroht. Eine Art Schwelbrand, den Kiekbusch und die vielen anderen mit ihrer Beratung noch halbwegs kleinhalten konnten.
Doch inzwischen ist die Lage eine andere: Im Juli waren die Importpreise von Erdgas dreimal, die Strompreise viermal so hoch wie im Vorjahresmonat. Die Abschläge bei der Gasabrechnung im kommenden Jahr könnten um den gleichen Faktor steigen. Der Schwelbrand könnte sich zu einer Feuerwalze entwickeln. Und die könnte auch Manfred Kiekbusch selbst erfassen.
„Man hilft den Leuten“
Vom Büro der Caritas in einem der Hochhäuser geht Kiekbusch in Richtung Dammweg. Die grauen Haare hat er zur Tolle gekämmt, an seinem Ohr glitzert ein Stecker. Er wirkt agil für seine 63 Jahre, nur die Schulter mache ihm Probleme; als er die Straße überquert, zieht er ein Bein etwas nach. Kiekbusch biegt in eine Siedlung aus braunen Mehrfamilienhäusern ein und steuert auf eine Fensterfront an der Ecke zu: ein Sozialladen, sein Ziel für heute.
Den Stromsparcheck der Caritas und des Bundesverbands der Energie- und Klimaschutzagenturen gibt es seit 2008, mittlerweile in 150 Städten. Das Angebot richtet sich an Menschen, die eine geringe Rente beziehen, deren Nettoeinkommen unter dem Pfändungsfreibetrag von knapp 1.300 Euro liegt oder die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind – in Bürokratiedeutsch: Transferleistungsempfänger. Deren Betriebs- und Nebenkosten übernimmt zwar in der Regel das Amt. Jedoch oft nur in Höhe eines individuell festgelegten Bedarfs, den Rest müssen sie selbst zahlen. So soll der Check die Haushalte, die Staatskasse und auch das Klima entlasten – das Programm ist Teil des Bundesprojekts Nationale Klimaschutzinitiative.
Das Besondere: Die Stromsparhelferinnen und -helfer waren selbst schon einmal in einer ähnlichen Situation wie diejenigen, die sie beraten. Auch Manfred Kiekbusch: Seit seiner Ausbildung als Schlosser hatte er für Zeitarbeitsfirmen Fenster und Türen montiert und sich damit Bandscheiben und Knie kaputtgemacht. Dann brach er sich die Schulter und war ein Jahr lang arbeitslos, bis ihm seine Fallmanagerin die Stelle als Energiesparhelfer anbot: ein Förderprogramm zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Seitdem ist er dabei, 30 Stunden die Woche. „Mir gefällt das“, sagt er. „Man hilft den Leuten.“
Vor dem Eingang des Eckladens sitzen ein paar Frauen und unterhalten sich. Kiekbusch grüßt hier und da: „Hallo, Doreen!“, „Na, Chef?!“ Drinnen in den Regalen stehen Ostersüßigkeiten, Duschgel, Fertigsuppen. Auf jedem Artikel ein Preisschild, nur viel günstiger als im Supermarkt. Kiekbusch stellt seinen Jutebeutel auf einem Tisch ab und breitet die LED und Steckerleisten aus. „Hier mache ich jeden Donnerstag Werbung.“
„Der Druck wächst“
Wer Manfred Kiekbusch begleitet, erfährt viel über die Energiekrise. Wie die Sorgen vor den Heizkosten wachsen und die Haushaltskassen schrumpfen. Da ist zum Beispiel eine Frau mit grauem Dutt und Rollwagen an der Hand. Sie nennt sich Nathalie, aber das ist nicht ihr richtiger Name. Die 55-Jährige lebt allein, bezieht Arbeitslosengeld II und kommt jede Woche in den Sozialladen. „Ich kaufe nur noch billig ein“, sagt sie. „Der Druck wächst.“ Den Stromsparcheck hat sie bereits vor ein paar Jahren gemacht. Nun hat eine Bekannte sie angesprochen, ob sie nicht mal einen Kontakt herstellen könnte. „Klar komme ich auch nach Charlottenburg“, sagt Kiekbusch und schreibt seinen Namen auf den Flyer.
Oder eine Frau mit Blümchenbluse und grauem Kurzhaarschnitt, die jetzt den Laden betritt. Auch sie möchte ihren Namen nicht nennen. Die Rentnerin lebt allein und von einer schmalen Rente. Ihr Durchlauferhitzer sei 25 Jahre alt und verbrauche viel Strom, erzählt sie. Doch ersetzen wolle ihn der Vermieter nicht. „Nun mache ich mir Sorgen, wie ich über den Winter komme.“ Kiekbusch notiert sich Name und Telefonnummer. „Ich melde mich!“
Die Sorgen, die Kiekbusch hier im Sozialladen und anderswo hört, waren schon immer da. Auch vor der Gaskrise, auch vor dem ersten Teil der neuen Energieeinsparverordnung, der seit vergangener Woche in Kraft ist. Doch für manche geht es heute um mehr: ob sie Energierechnungen noch bezahlen können, vielleicht sogar in Transferleistungen rutschen, die sie vorher nicht in Anspruch nehmen mussten.
Ersparnis: etwa 167 Euro pro Jahr und Haushalt
Ist ein Termin vereinbart, kommt Kiekbusch mit einem Kollegen der Caritas vorbei. Sie geben Tipps: Den Kühlschrank nicht neben den Herd stellen. Die Heizung freiräumen und von Staub befreien. Keinen Stand-by-Modus verwenden. Außerdem dokumentieren sie jedes Elektrogerät samt Wattzahl, jede Lampe, füllen Zeile um Zeile auf einem vierseitigen Formular. Die Fragen gehen ins Detail:
Wie viele Personen leben hier? „Manche lügen dann, weil da vielleicht welche wohnen, die es eigentlich nicht dürften“, sagt Kiekbusch. „Aber das interessiert mich ja gar nicht.“ Wie oft kochen Sie warm? „Die Araber kochen zweimal warm, die Brasilianer auch“, sagt Kiekbusch, der selbst zehn Jahre lang in Brasilien gelebt hat. „Ich esse abends eine Scheibe Brot.“ Wie oft gehen Sie auf Toilette? „Die Frage verkneife ich mir manchmal.“
Anhand der Antworten erstellt Kiekbusch eine Berechnung, wie viel Energie eingespart werden könnte. Dazu eine Liste von LED, Steckerleisten und anderen Hilfsmitteln, die von der Caritas gestellt werden. Auch eine Gutschrift über 100 Euro gibt es, wenn ein neuer, energiesparender Kühlschrank angeschafft wird. Knapp zehn solcher Beratungen macht Kiekbusch im Monat. Durchschnittliche Ersparnis laut Caritas: 420 Kilowattstunden Strom und 240 Kilowattstunden Heizenergie pro Jahr und Haushalt. Nach aktuellen Energiepreisen entspräche das etwa 167 Euro.
Manche zögerten dennoch, erzählt Kiekbusch. Ihnen sei ihre Wohnsituation unangenehm, sie hätten keine Lust auf den Papierkram oder würden niemanden in ihre Wohnung lassen wollen – auch die Presse nicht. Kein Haushalt hat sich bereit erklärt, eine Beratung begleiten zu lassen. „Kann ich verstehen“, sagt Kiekbusch. „Würde ich auch nicht wollen.“
„Das würde wehtun“
Wenn sich Kiekbusch im Sozialladen mit den Menschen unterhält, öffnen sie sich schnell. Er kommentiert die Sorgen seines Gegenübers mit einem Nicken, heitert mit einem Spruch auf, hat keine Berührungsängste. „Herr Kiekbusch kann sich gut in die Menschen hineinversetzen“, sagt Kiekbuschs Chef. „Er ist auf Augenhöhe.“ Vielleicht auch, weil er weiß, was es heißt, mit wenig Geld auszukommen.
Manfred Kiekbusch ist in Kiel aufgewachsen, mit neun Geschwistern, in „ärmlichen Verhältnissen“, wie er selbst sagt. Der Vater arbeitete bei der Müllabfuhr, die Mutter schmiss den Haushalt. Jeden Freitag kam der Lohn und manchmal habe ein Teil schon am Abend gefehlt, wenn der Vater aus der Kneipe kam. „Dann gab es Mittwoch keine Butter mehr“, sagt Kiekbusch. Wenn er von dieser Zeit erzählt, werden seine Augen glasig.
Heute lebt er in Neukölln, eineinhalb Zimmer, 48 Quadratmeter. Die Hälfte seines Nettolohnes geht für die Warmmiete drauf, 600 Euro. Seinen monatlichen Strom- und Wärmeverbrauch kennt er im Detail. Kocht er mit seiner Freundin, überschlägt er die Kosten pro Gericht im Kopf. Und seine Reisen in diesem Sommer sind schnell aufgezählt: Im Juli fuhr er mit dem 9-Euro-Ticket zur Trauerfeier der HSV-Ikone Uwe Seeler nach Hamburg, kurz darauf zum Auswärtsspiel von Hertha in Braunschweig.
„Dann kommt was auf uns zu“
Kiekbusch ist in Neukölln unterwegs, um anderen beim Geldsparen zu helfen. Dabei wird es für ihn selbst immer knapper. Auch er muss sich weiter einschränken: Abwasch nur kalt, noch kürzer duschen, von etwa fünf auf vier Minuten. „Ich versuche ja schon alles.“ Über die Sparappelle des Wirtschaftsministers Robert Habeck schüttelt er deswegen den Kopf. Unter seinen Kolleginnen und Kollegen mache ein Spruch die Runde: „Noch einmal Duschen, dann ist Weihnachten“, sagt Kiekbusch und lacht.
Ob die Bundesregierung gut auf den Winter vorbereitet ist, vermag Kiekbusch nicht einzuschätzen. Politik sei nicht so seine Sache. „Ich bin Hertha-Fan, da habe ich schon genug Probleme.“
Was er jedoch beobachte: In den vergangenen Monaten habe das Telefon viel öfter geklingelt, viel öfter würden nun Menschen nachfragen, die vorher gut über die Runden gekommen seien. Und auch die Schlangen vor der Essensausgabe seien zuletzt länger geworden. Kiekbusch ist sich sicher: Wenn im Frühjahr die Abschlagszahlungen festgelegt werden, wenn die Inflation weiter anhält, „dann kommt was auf uns zu“.
Er selbst würde dann Abstriche bei Stadionbesuchen oder der Dauerkarte fürs Stadion machen müssen. „Das würde wehtun.“ Kiekbusch sagt das leise, als sei es ihm unangenehm.