Ende gut, was auch immer gut? Wie die Haftbefehl-Doku mit Suizid umgeht, bringt mich ins Grübeln

Triggerwarnung: In diesem Artikel geht es um Suizid, was beunruhigend sein kann. Bitte entscheiden Sie selbst, ob Sie diesen Artikel gerade lesen möchten. Wer das Gefühl hat, sich in einer scheinbar ausweglosen Lebenssituation zu befinden, sollte nicht zögern, Hilfe anzunehmen. Hilfe bieten zum Beispiel auch die Telefonseelsorge in Deutschland unter 0800-111-0111, das Info-Telefon Depression unter 0800-334-4533 oder die Stiftung Deutsche Depressionshilfe auf dieser Website.

Ich habe mich schon wesentlich wohler gefühlt beim Schreiben eines Textes. Aber diesen Text nicht zu schreiben, weil einige Menschen meine Gedanken als zu sensibel oder zu kritisch bewerten könnten, würde sich anfühlen wie wegzuschauen. Dabei habe ich ziemlich genau hingeschaut und Babo – Die Haftbefehl-Story gesehen. 92 Minuten lang.

Ich wurde zur Voyeurin des Leids einer realen Familie, zwischen Hip Hop, Sucht und Fame. Zwischen Männlichkeits- und Weiblichkeitsbildern sowie traumatischen Kindheitserlebnissen, die von Netflix und der Produktionsfirma 27KM’B Pictures gerade nicht von ungefähr als brutal ehrlich vermarktet werden. Seitdem frage ich mich: Wie können wir diese Doku zum Anlass nehmen, um konstruktiv über Suizidprävention und die Verantwortung der medialen Berichterstattung zu sprechen?

Falls irgendjemand in den letzten Tagen noch nicht von ihm gehört haben sollte: Aykut Anhan alias Haftbefehl ist ein Ausnahmetalent des Hip Hop. Ein Musikgenie für viele Menschen, auch für mich, unbestritten. Er ist für Menschen mit Migrationsgeschichte und Diskriminierungserfahrungen aufgrund ihrer sozialen Herkunft seit Beginn seiner Karriere eine wichtige Identifikationsfigur, die den Rassismus und Klassismus unserer Gesellschaft am eigenen Beispiel aufdeckt.

Als weiße Frau würde ich mir nie anmaßen, den durch Rassismus geprägten Struggle von Haftbefehl nachvollziehen zu können. Und doch gibt es da diesen einen Teil, den wir – zusätzlich zum Aufwachsen in Armut – gemeinsam haben und der für mich eine gewisse Verbundenheit herstellt: Aykut Anhan und ich, wir beide verloren 1999 unsere Väter durch Suizid.

Bin ich zu sensibel, oder ist die Haftbefehl-Doku nicht sensibel genug?

Aykut Anhan war zu diesem Zeitpunkt 14, ich 11 Jahre alt. Dass so ein frühes traumatisches Erlebnis nur schwer zu verarbeiten ist und Auswirkungen auf den weiteren Lebensweg hat, ist wissenschaftlich bereits gut belegt und soll nicht Thema dieses Artikels sein. Denn dieser Text ist ganz sicher kein Versuch, die individuelle Schuld eines Rappers an seiner Sucht zu verhandeln.

Ich möchte dahin gehen, wo die wissenschaftlichen Erkenntnisse noch nicht so klar sind. Da, wo ich ins Grübeln kam, ob ich aufgrund meiner Erfahrungen mit dem Thema vielleicht einfach sehr sensibel bin oder gerade deshalb die richtigen Fragen zu einem medialen Diskurs auf der Klinge zwischen Sensation und Zurückhaltung stelle?

Als ich die Doku zu Ende gesehen hatte, nachdem ich mehrere Tage auf die Veröffentlichung gewartet hatte, blieb das Gefühl: Vieles von dem, was ich gerade gesehen und gehört hatte, war nicht für meine Augen und Ohren bestimmt.

Ich denke seither, hoffentlich werden die Kinder von Nina und Aykut Anhan das Eindringen von Millionen von Menschen in ihre intimste Privatsphäre, um etwas über Sucht und mentale Gesundheit zu lernen, später einmal ähnlich unkritisch sehen wie viele der Zuschauenden. Aber vor allem lässt mich seither das Gefühl nicht los, dass die Art der Erzählung in Teilen Risiken für suizidale Menschen birgt.

Zu wenig Verantwortung bei Regie und Produktion von Netflix für das Thema Suizid

Dass Babo – was aus dem Kurdischen übersetzt „Vater“ bedeutet – keine wissenschaftliche Abhandlung wird, wenn es um Haftbefehl als Protagonisten geht, der seine eigene Geschichte zu Lebzeiten erzählt wissen will, das war mir klar. Und dennoch habe ich einen verantwortungsvolleren Umgang mit dem Thema Suizidalität erwartet. Nicht von Haftbefehl, seiner Frau Nina oder seinen Brüdern Cem und Aytac, die interviewt werden und dabei traumatische Erlebnisse aufrollen müssen. Aber von den Interviewenden, den Regisseuren und Produzenten im Hintergrund, die das geschnittene Endprodukt der Doku zu verantworten haben.

Die Dokumentation ist filmisch und dramaturgisch absolut brillant umgesetzt. Eindringlich, schockierend und – so die Erzählung rund um den Film – dadurch abschreckend. Dass die Doku das Thema Sucht, mentale Gesundheit und die Gefahren bis hin zur Suizidalität am Beispiel einer Identifikationsfigur wie Haftbefehl zeigt, hat definitiv eine große Signalwirkung auf ihr Publikum. Im Identifikationspotential der Zuschauenden liegt meines Erachtens die damit verbundene Verantwortung.

Nach der Netflix-Serie „13 Reasons Why“ stieg die Suizidrate an

Ein Streaminganbieter wie Netflix sollte das aus Erfahrung wissen. So stiegen nach Veröffentlichung der fiktionalen Netflix-Serie 13 Reasons Why (im Deutschen: Tote Mädchen lügen nicht) 2017 in den USA die Suizidraten von Mädchen im Alter von 10 bis 19 Jahren markant an. Zu dem Ergebnis kamen 2019 Forscher der Unit Suizidforschung & Mental Health-Promotion am Zentrum für Public Health der MedUni Wien.

In einer Pressemitteilung zur Studie heißt es: „Statt üblicherweise rund 720 Suiziden in drei Monaten US-weit in dieser Altersgruppe gibt es assoziiert mit der TV-Serie daher insgesamt mehr als 800. Das untermauert die Ergebnisse einer vorangegangenen US-Studie, zeigt aber darüber hinaus auch auf, dass proportional mehr weibliche Jugendliche betroffen waren, was auch aufgrund der weiblichen Hauptprotagonistin in der TV-Serie von den ForscherInnen erwartet worden war.“

Erst nach über zwei Jahren Kritik durch Expert*innen entfernte Netflix die Szene des Suizidvollzugs der Protagonistin Hannah Baker aus der Serie. Das Thema Suizidalität zu erzählen ist extrem heikel.

Der Werther-Effekt: Es motiviert zur Nachahmung

Nun geht die Haftbefehl-Doku Babo, wie wir am Ende der Doku erfahren haben, für den Protagonisten Aykut Anhan vorerst gut aus. Zwar wurde er gegen seinen Willen von seinem Bruder in eine Klinik zum Entzug gebracht, scheint jedoch froh darüber zu sein und macht anscheinend eine Therapie. Die Doku zeigt damit, dass der Protagonist mithilfe seiner Familie einen Ausweg aus der Krisensituation finden konnte, was präventiv äußerst relevant und positiv zu bewerten ist.

Doch die Gefahr der Erzählung liegt für mich in den Szenen davor. So werden das suizidale Verhalten von Aykut Anhan und seinem Vater detailliert erläutert und cineastisch mit Schauspielern nachgestellt. Zudem zeigt eine nachgestellte Szene den vollzogenen Suizid des Vaters und die Suizidmethode. Für mein Gefühl entstehen dadurch bereits potenziell triggernde Situationen, die zur Nachahmung motivieren und den sogenannten Werther-Effekt auslösen können.

Der Name des Effekts referiert auf die vermehrte Anzahl von Suiziden nach der Veröffentlichung von Johann Wolfgang von Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther. Der Soziologe David Phillips prägte den Begriff, da er in seiner Forschung einen Zusammenhang zwischen der Berichterstattung zu den Suiziden prominenter Menschen und den darauffolgenden Suizidstatistiken darlegen konnte.

Birgt die Inszenierung der Haftbefehl-Story ähnliche Risiken oder bin ich schlicht besonders sensibel als Hinterbliebene eines Suizids?

Ich nehme Kontakt zu den Studienleitern Thomas Niederkrotenthaler und Benedikt Till der bereits genannten Studie zur Serie 13 Reasons Why auf und möchte wissen, ob bereits das Inszenieren von missglückten Suizidversuchen eine Gefahr zur Nachahmung darstellen kann. Thomas Niederkrotenthaler und Benedikt Till haben mit ihrer Forschung seit 2010 den Begriff des Papageno-Effekts geprägt.

Der Papageno-Effekt: Krisensituationen bewältigen

Der Papageno-Effekt beschreibt – im Kontrast zum Werther-Effekt –, dass positive Erzählungen über das Bewältigen von Krisensituationen von Menschen mit mentalen Problemen Suizidgedanken verringern können. In der Presseerklärung zur Ausgangsstudie „The role of media reports in completed and prevented suicide-Werther versus Papageno effects“ aus 2010 heißt es: „Basierend auf Papagenos bewältigter suizidaler Krise in Mozarts Zauberflöte (Papageno beschäftigt sich darin intensiv mit Suizidplänen und -vorbereitungen als er den Verlust seiner geliebten Papagena befürchtet; er wird jedoch in letzter Minute durch die Drei Knaben davon überzeugt, dass er die Kraft hat, Papagena für sich zu gewinnen) nannte das ForscherInnenteam den hier auftretenden Effekt ,Papageno-Effekt‘.“

Mir scheint, das narrative Ende der Babo-Doku soll eben jenen Papageno-Effekt erzeugen. Aber ist es so einfach zu sagen: Hauptsache, Ende gut, alles gut? Kann man erst triggernde Inhalte so en détail zeigen, um sich dann auf den positiven Ausgang als Lösung zu berufen?

Die Haftbefehl-Doku enthält wohl keinen Papageno-Effekt

Die beiden Wissenschaftler bestätigen mir, dass die Forschung bezüglich positiver Effekte von Darstellungen der Krisenbewältigung (Papageno-Effekt) sich ausschließlich auf Medieninhalte bezieht, die KEINE potentiell triggernden Inhalte wie Suizidmethoden beinhalten. Es sei sicherlich ein Risiko für negative Effekte vorhanden, wenn Suizidversuche einen wesentlichen Teil der Darstellung ausmachen. Die Darstellungen eines „konstruktiven“ Umgangs mit Suizidalität, der auf Krisenbewältigung und professionelle Hilfe fokussiert und auf triggernde Inhalte verzichtet, kann hingegen Suizidalität bei Zuseher:innen reduzieren.

Das bedeutet, dass der Papageno-Effekt laut aktuellem Stand der Forschung nicht einfach so auf die Doku übertragen werden kann. Der Werther-Effekt, welcher durch die Inszenierung der Suizidalität bis hin zum Vollzug des Vaters Aykut Anhans riskiert wird, lässt sich möglicherweise nicht mit dem positiven Ende der Doku aufwiegen.

Netflix reagiert auf die Vorwürfe

Ich habe im Laufe meiner Recherche sowohl die Produktionsfirma als auch Netflix kontaktiert und nach den Gründen für die dramaturgischen Entscheidungen, die in Teilen von den Empfehlungen für Medienberichte und Filmschaffende abweichen, gefragt. Zudem habe ich Netflix darauf hingewiesen, dass sie sowohl im Hinweis vor dem Film auf ihrer Infowebseite als auch in ihrem Leitfaden zu suizidalen Gedanken immer wieder einen stigmatisierenden Begriff verwenden, und erfragt, ob dieser überarbeitet werden könne.

Denn ein Suizid ist keine kriminelle Tat und sollte daher begrifflich nicht in Verbindung mit Mord gebracht werden.

Eine Sprecherin von Netflix erklärt mir, dass das Unternehmen nach meinem Hinweis sowohl den Warnhinweis vor dem Film als auch die Infowebseite überarbeiten werde. Auch der Leitfaden darüber, was bei suizidalen Gedanken unternommen werden kann, soll überarbeitet werden. Zur grundsätzlichen Einordnung der weiter oben beschriebenen Szenen sagte sie, dass die Regisseure und das Team hinter dem Film diese als notwendig erachtet haben, um die Geschichte von Haftbefehl und das traumatische Ereignis, das ihn bis heute prägt, erzählen zu können. Dabei sei die Darstellung sorgsam abgewogen und auf zusätzliches Material verzichtet worden.

Die Babo-Doku ist zu einem Momentum geworden. Aykut Anhan und seine Familie haben der Öffentlichkeit so viel von sich preisgegeben, dass es wünschenswert wäre, dass nicht nur die Musik- und Filmindustrie von unserem Voyeurismus profitiert. Wir müssen als Gesellschaft unbedingt lernen, über mentale Gesundheit und Suizide zu sprechen. Idealerweise so stigma- und triggerfrei, dass wir dabei nicht riskieren, neue Suizide zu motivieren. Uns Medienschaffenden kommt dabei eine besonders hohe Verantwortung zu. Ich hoffe, wir bleiben in einer konstruktiven Diskussion dazu.

Wer das Gefühl hat, sich in einer scheinbar ausweglosen Lebenssituation zu befinden, sollte nicht zögern, Hilfe anzunehmen. Hilfe bieten zum Beispiel die Telefonseelsorge in Deutschland unter 0800-111-0111, das Info-Telefon Depression unter 0800-334-4533 oder die Stiftung Deutsche Depressionshilfe auf ihrer Website.

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