Wir Menschen wollen klug sein. Wir wollen auf Partys mitreden können und dabei belesen und eloquent wirken. „Belesen“ lautet das entscheidende Stichwort. Welche Bücher muss man also gelesen haben, um unsere Zeit zu verstehen? Sachbuch oder Roman?
Immer wieder wird diese Frage anhand von Neuerscheinungen gestellt, doch wir wissen: Manche Bücher, egal wie sehr wir sie als prägend empfinden oder andere davon schwärmen, sie geraten einfach in Vergessenheit. Zu Unrecht.
Wir wollen an wenigstens fünf von solchen unbedingten Lesetipps erinnern: Holt eure Bücher aus dem Regal!
1. West-Berlin, HIV und Mauerfall: „Böse Schafe“ von Katja Lange-Müller
Die Preisverleihung war vorbei, der Empfang im Frankfurter Römer auch. Die Berliner Autorin Katja Lange-Müller wollte aber noch nicht ins Hotel. Sondern auf den Schock in der Kneipe gegenüber – trotz des gerade eingeführten „Raucherschutzgesetzes“ – erst noch in Ruhe eine rauchen, vielmehr „eene rochen“, wie ich mich erinnere. Ihr Roman Böse Schafe (KiWi 2007) war nominiert; das ziemlich biedere Werk Die Mittagsfrau von Julia Franck gewann schließlich die wichtige literarische Auszeichnung.
Die Geschichte des Deutschen Buchpreises, die 15 Jahre nach der Einigung ihren Anfang nahm, hat nicht selten Kopfschütteln provoziert. Wie konnte man diesen fantastischen Roman über die Liebe zwischen einer republikflüchtigen „Aushilfsblumenhändlerin“ und einem HIV-positiven Junkie mit kleinkrimineller Karriere übergehen, der im teils arg abgefuckten Schöneberg, Kreuzberg und Neukölln der 80er spielt. Ja, das Stadtbild war in Berlin auf beiden Seiten oftmals durch Tristesse geprägt.
Nun sind fast 20 Jahre seit diesem Abend in Frankfurt vergangen, aber diese schnoddrig-liebevolle Lovestory mit all ihrer Kaputtheit liest sich immer noch wie im Rausch (habe ihn gerade noch mal durchlebt). Vielleicht auch, weil Lange-Müller eine Erzählform gewählt hat, die extreme Nähe erzeugt: die Du-Form. Das literarische Stilmittel der direkten Adressierung ist selten in der Gegenwartsliteratur, vermutlich auch, weil das ziemlich enervierend sein kann.
Doch der frechen Lange-Müller, die als Tochter der ranghohen Funktionärin Ingeburg Lange selbst 1984 von Ost- nach West-Berlin „rübermachte“, gelingt dieses Wagnis Satz für Satz. Atmosphärisch dicht, aber auch humorvoll erzählt sie von Soja, die dem Charme von Harry kurz nach ihrem Wechsel aus der DDR nach West-Berlin erliegt. Wenige Tage nach dem Mauerfall lässt Lange-Müller den schwer kranken Harry kurz vor seinem Tod Folgendes sagen: „Ich weiß, bei euch drüben zieht jetzt der Suffkopp Krenz die Strippen, und Honecker und die Zonengrenze sind weg, nur ich bin noch hier. Eigentlich hatte ich geplant, dass auch mal ein Westberliner an der Mauer stirbt, doch das scheint ja nun nicht mehr zu klappen. Schlechtes Timing – von euch oder mir.“ Solche Hammersätze kann nur Lange-Müller. Philipp Haibach
2. Radikal, widerspenstig und unvergessen: „Ausgewählte Schriften“ von Gerburg Treusch-Dieter
Dieses Buch ist wie seine Schöpferin: ausgreifend und wild, apodiktisch und zärtlich, aufregend und enervierend. Wie alle Auftritte, die Gerburg Treusch-Dieter hingelegt hat: Wenn sie, chronisch zu spät, auf eine Redaktionssitzung stürmte, auf einem Podium die Moderierenden in die Flucht schlug, oder wenn sie vor Studierenden saß: präsent, leidenschaftlich, ironisch und nicht zu beeindrucken, wenn man ihr nicht folgen mochte. Bis zu ihrem Tod 2006 war die 1939 geborene Soziologin, Kulturtheoretikerin, Schauspielerin, Publizistin, also: das Gesamtkunstwerk Gerburg Treusch-Dieter, Mitherausgeberin des Freitag.
Eine wissenschaftliche Anarchistin, disziplinübergreifend, undiszipliniert, aber scharf denkend. Ein „Werk“ im herkömmlichen Sinn hat die nachträglich über das Begabtenabitur in die Alma Mater aufgestiegene Feministin nicht hinterlassen. Erst posthum erschien ein kaum zu bewältigendes Konvolut an Aufsätzen, Analysen und theoretischen Proklamationen, in jahrelanger akribischer Sammel- und Editionstätigkeit von einem Wiener Herausgeberquartett bearbeitet. Nachzulesen sind in Ausgewählte Schriften (Turia + Kant 2014) ihre radikalen Überlegungen zu „Finis Matrae“, der Suspendierung der „Mutterposition“ durch die Gen- und Reproduktionstechnologie, in einer Zeit, als die deutschen Frauen noch für die Fristenlösung auf die Straße gingen. Früh auch ihre kritische Revision der „sexuellen Revolution“, die sie miterlebt und -gelebt hat.
Sie dachte mit „den Franzosen“ – von Foucault über Michel Serres bis hin zu Georges Bataille und Jean Baudrillard –, die sie selbst mitübersetzt und in Deutschland zugänglich gemacht hat. Bei ihren anthropologischen Grabungen mit Dietmar Kamper profitierte sie von ihren Stoffkenntnissen als Schauspielerin. Ihr Denken kreiste um den Ort des Weiblichen unter den Bedingungen von Ein- und Ausschluss. Von einer fundamentalen Position kritisierte sie nicht nur den Mythos Frau, sondern auch den Mythos Arbeit, wie ihn der Kapitalismus hervorgebracht hat. Eine „großartige Kulturanthropologin“ nennt sie Oskar Negt, mit dem sie in enger Freundschaft verbunden war, in seinem Nachwort. Eine Vergessene und wieder zu Entdeckende. Ulrike Baureithel
3. Verletzlichkeit, Freiheit und Verantwortung: „Die vulnerable Gesellschaft“ von Frauke Rostalski
Früher nannte man es Betroffenheit. Betroffenheit galt als gute Sache, denn es machte aus einem Bürger einen engagierten Bürger. Kritik gab es nur selten, wenn, dann wurde bemängelt, dass an die Stelle der politischen Vernunft das Gefühl getreten sei. Nun aber spricht man von Vulnerabilität, und die ist ambivalent. Vulnerable Gruppen (Transmenschen, Geflüchtete) verdienen einen besonderen Schutz.
Verwundbarkeiten gab es schon immer, aber jetzt werden sie richtig ernst genommen, so weit, so gut. Problematisch wird es, und das macht Frauke Rostalski in Die vulnerable Gesellschaft. Die neue Verletzlichkeit als Herausforderung der Freiheit (C.H. Beck 2024) deutlich, wenn die Bedürfnisse und Rechte von Bürgern mit der verfassungsmäßig garantierten Freiheit des einzelnen Bürgers in Spannung treten. Mehr Verletzlichkeit führt zu einer stärkeren Normierung des menschlichen Miteinanders. Sinnfällig wurde das zum Beispiel in der Maskenpflicht während Corona.
Die Pandemie ist noch in einem anderen Sinn beispielgebend für Rostalskis Buch. Hier wurde zum ersten Mal deutlich, was sie die „Diskursvulnerabilität“ nennt. Mit persönlichen Beschimpfungen, Abkanzelungen etc. verschlechterte sich ein Diskursklima, das sich bis heute nicht erholt hat und in vielen Beiträgen und Büchern, Richard David Precht you name it, kritisiert wird.
In unseren verhunzten Debatten ist Vulnerabilität plötzlich nicht mehr ein Phänomen von unterdrückten Minderheiten, sondern der Common Sense. Das Problem ist erkannt, aber wie aus ihm herausfinden? Ohne eine Antwort geben zu können, läuft es auf die unangenehme Frage hinaus: „Wie viel Sensibilität schuldet die Gesellschaft einander?“ Michael Angele
4. Vanille, Verlangen und Verliebtheit: „Moskauer Schönheit“ von Viktor Jerofejew
Ich habe mich doppelt verliebt: in einen Duft und in einen Schriftsteller. Weil ich neulich etwas Zeit habe, auf dem Weg von A nach B, stolpere ich ins KaDeWe – es regnet. Der Duft liegt in der Luft (Basisnoten: Vanille, Tonkabohne, Weihrauch Olibanum). Das KaDeWe gehört jetzt einer thailändischen Firma, Vanilla Barka einem Parfumhaus aus dem Oman.
Der Russe Viktor Jerofejew gehört niemandem, sein Buch liegt in meiner Tasche. Und dann steht es vor mir, das cognacbraune Fläschchen. Verstohlen tupfe ich mir einen Hauch auf den Puls. „Ein sehr privater Duft“, bedrängt mich eine Verkäuferin, „den riecht man nur, wenn man Ihnen nahe kommt.“ Zuerst ist es, wie bei jeder Nähe, bei jeder Verliebtheit, bei russischen Schriftstellern, zu viel, eine Überwältigung, ein Benebeltsein, und dann kann ich so wenig genug davon kriegen wie von Jerofejews Moskauer Schönheit (S. Fischer 1990), die im Original Russische Schönheit und namentlich Irina heißt und von Männern Geschenke bekommt. Auch sie kann nicht genug kriegen. Wie hoch der Preis für Männergeschenke sein kann, stellt sich in dem Roman aus dem Jahr 1989 rasch heraus.
Teure Geschenke sind in Russland üblich, stelle ich mir vor, und ich frage mich, ob die Gaben dann, wie die Krim, mit Gewalt wieder zurückgenommen werden, sobald die Liebe vorbei ist. So was macht man nicht, sagt Jerofejew, doch aus Sicherheitsgründen sagt er das mittlerweile im Exil. Seine betörende Irotschka interessiert sich nicht für Politik, in einer Woche hat sie mehr Sex als ich in einem Jahr, die dafür erforderlichen Männer liebt sie, wenn sie genug Geld haben – oder Ruhm.
Sie hat auch Vergewaltigungsfantasien, hat auch kindheitliche Gewalterfahrungen im Herzen vergraben, die nur angedeutet und kaum übelgenommen werden, hat einen Alkoholiker zumVater und jede Menge andere Herkunftsbürden, für die hierzulande gleich mehrere Selbsthilfegruppen zur Verfügung stünden. Bei Jerofejew jedoch ist all das Schicksal, denn was wäre eine Geschichte ohne Schicksal? Einer Irina hätte mein Duft gefallen, weil privat, weil intensiv, weil teuer. Sie erzählt einfach drauflos, von der „Ewigkeit, die in den alten Frauen nistet“ und nichts anderes sei als „das Gleichgewicht zwischen Leben und Tod“.
Und ich lasse mich in den russischen Abgrund reißen, kann nicht genug davon kriegen, besorge mir auch Leben mit einem Idioten, Der gute Stalin und Der große Gopnik, allesamt ausreichend hoffnungsfeindlich für eine, die sich in Unerreichbare verliebt. Außerdem sind Bücher günstiger; Zwölf Milliliter Vanilla Barka kosten 490 Euro. Das Parfum habe ich weggeduscht, mein Tuch riecht noch danach. Die Moskauer Schönheit ist derweil gebraucht schon für drei Euro erhältlich, plus Versandkosten – irre, oder? Katharina Körting
5. Idealistisch, opportun mit authentischen Blick: „Rummelplatz“ von Werner Bräunig
Es gibt wenige DDR-Romane, die mich so beeindruckt haben wie Rummelplatz von Werner Bräunig. Das Buch stellt nichts weniger dar als den Versuch, den Beginn des sozialistischen Experiments in Ostdeutschland zu erzählen – ungeschönt, widersprüchlich, aus proletarischer Perspektive. Die Geschichte spielt in den Aufbaujahren zwischen 1949 und 1953: Der Roman begleitet verschiedene Menschen, die in einem fiktiven erzgebirgischen Dorf stranden, um dort bei dem Unternehmen Wismut Uran für die sowjetische Atomindustrie abzubauen.
Die Arbeitsbedingungen sind hart, die Bergarbeiter ein bunter Haufen aus Idealisten, Glücksrittern, Opportunisten und Überlebenskünstlern. Manche von ihnen glauben an den Sozialismus, andere nicht, alle schlagen sich im rauen Nachkriegsdeutschland irgendwie durch. Die Figuren werden dabei nicht als karikaturhafte Helden gezeigt, sondern als Menschen mit Ecken und Kanten.
Das war der DDR-Staatsführung nicht geheuer – sie untersagte die Veröffentlichung. Bräunig schrieb den Roman zwischen 1959 und 1966, er blieb aber unvollendet. Erst im Jahr 2007 konnte er posthum im Aufbau Verlag veröffentlicht werden. Christa Wolf blickt im Vorwort kritisch zurück und betont die „wirklichkeitsgesättigte Prosa“, den authentischen Blick des Autors auf die Arbeiterschaft, die am 17. Juni 1953 – das Ende des Buchs – den Aufstand wagte.
Bräunig, SED-Mitglied, wusste, wovon er schrieb. Er hatte selbst als Arbeiter unter anderem bei der Wismut gearbeitet und war einer der Unterstützer des DDR-Kulturprogramms „Bitterfelder Weg“. Dieses verfolgte das Ziel, Arbeiter*innen zum kreativen Ausdruck zu motivieren und die Trennung von Kunst- und Arbeitswelt zu überwinden. Auch wenn das Projekt unter den Bedingungen von autoritärem Staat und Propagandadruck letztlich scheiterte, scheint seine Grundidee sympathisch. Autoren wie Bräunig bekamen dadurch das Selbstbewusstsein, selbst literarisch tätig zu werden. Gedankt wurde es ihm nicht.
Nach der Zensur des Buchs schrieb Bräunig nur noch Kurzgeschichten und verfiel dem Alkohol. 1976 verstarb er in einer Einzimmerwohnung in Halle mit 42 Jahren. Er hinterließ einen außerordentlichen Roman, der dem Leben treuer blieb als der Doktrin. Sebastian Bähr