Als Julie Inman Grants im Juni vor dem australischen National Press Club eine Rede hielt, sagte sie: „Wie Sie sich vorstellen können, habe ich meine größte Fangemeinde auf X.“ Das war gewiss nicht ernst gemeint, aber es steckt mehr als ein Körnchen Wahrheit drin: Der Eigentümer von X, vormals Twitter, und reichster Mann der Welt, Elon Musk, hat alles versucht, um der australischen eSafety-Beauftragten in den letzten 18 Monaten das Leben schwer zu machen
Inman Grant hat seit 2017 das Amt der „eSafety Commissioner“ Australiens inne, sie ist also so was wie eine Regierungsbeauftragte für Online-Sicherheit. Als solche verfügt sie zwar nicht über Musks Macht oder sein Budget, aber sie hat doch ein kühnes Ziel – welchem Musk unbeabsichtigt geholfen hat.
„Die Tech-Branche macht Rückschritte, wir wollen Fortschritt“, sagte Inman Grants, die Australierin ist, aber in den USA geboren wurde. „Wir versuchen, in ein System einzugreifen, um unsere Kinder zu schützen, in dem es bisher fast keine Einflussmöglichkeiten gab. Aber endlich behandeln wir Big Tech so, wie es richtig ist: als Industrie, die sich auf unsere Kosten bereichert.“
Das ist der Hintergrund des Social-Media-Verbots für unter 16-Jährige, das seit dem 10. Dezember in Australien gilt. Es ist das erste seiner Art. Inman Grant sagt: „Es steht viel auf dem Spiel – wir wissen, dass die Augen der Welt auf uns gerichtet sind.“ Unter 16-Jährigen wird in Australien ab sofort der Zugang zu Facebook, Instagram, TikTok, YouTube, Snapchat, Reddit, Kick, Twitch und X verwehrt.
Denkt denn niemand an die Kinder?
Ausgangspunkt für die Idee eines Social-Media-Verbots für Kinder ist die Feststellung, dass es keine Chancengleichheit zwischen Kindern und Social-Media-Algorithmen gibt. Die Statistiken zeichnen ein düsteres Bild: Eine eSafety-Studie ergab, dass sieben von zehn Kindern im Alter von 10 bis 15 Jahren online auf potenziell schädliche Inhalte gestoßen sind. Drei Viertel von ihnen waren zuletzt auf einer Social-Media-Plattform auf solche Inhalte gestoßen – darunter Frauenfeindlichkeit, Gewalt, Essstörungen und Suizid.
Man könnte auch sagen, dass es keine Chancengleichheit zwischen Grants eigener Haltung und den Tech-Giganten gibt. Deren Einfluss ist so groß, ihre Verflechtung mit unserem täglichen Leben so tief, dass es keinen vergleichbaren Präzedenzfall in der jüngeren Vergangenheit gibt. Sicherheitsgurte in Autos, Stromsicherheitsschalter, selbst der Kampf gegen die mächtige Tabakindustrie – nichts reicht an die undurchsichtige, monetarisierte Macht der sozialen Medien heran.
In diesem Kampf ist es Inman Grant gelungen, Reibung zu erzeugen. So sehr, dass die Frau, die laut der US-Regierung die Aufgabe hat, die Australier vor den „angeblichen Risiken von sogenannten ‚Online-Gefahren‘“ zu schützen, aufgefordert wurde, vor dem US-Kongress auszusagen, was sie jedoch ablehnte. Dabei sollte sie über ihren Versuch berichten, „die amerikanische Meinungsfreiheit zu unterdrücken“, indem sie sich angeblich mit der Global Alliance for Responsible Media (Garm) „zusammengetan“ habe, um die Twitter-Plattform zu „zensieren“.
Inman Grant arbeitete selbst früher für Twitter
Eine E-Mail aus dem Jahr 2022, die für den Zwischenbericht des Kongressabgeordneten Jim Jordan zu diesem Thema erstellt wurde, verriet den Konservativen alles, was sie über ihre Loyalität wissen mussten. Inman Grant schrieb Rob Rakowitz von Garm: „Amerika ist nicht mehr das Land der Verheißung, in dem ich aufgewachsen bin“, und fügte mit einem Smiley-Emoji hinzu: „Zieh nach Australien!!!“
Heute ist sie jedenfalls dem australischen Parlament gegenüber rechenschaftspflichtig, nicht dem US-Kongress. Und als jemand, der für X gearbeitet hat, als es noch Twitter hieß, weiß sie, was Social-Media-Unternehmen tun könnten, um ihre Nutzer zu schützen – und warum sie sich dagegen entscheiden.
Ab dem Alter von fünf Jahren wuchsen Inman Grant und ihre Schwester in Seattle bei ihrer alleinerziehenden Mutter auf, eine Zeit, die sie als prägend für ihre Unabhängigkeit und Widerstandsfähigkeit bezeichnet. Ihre Mutter arbeitete für die Stadt Seattle, der Serienmörder Ted Bundy war ihr ein Kollege, erzählte Inman Grant dem Time Magazine. Aber die Stadt ist besser bekannt als Technologie-Wiege, und Inman Grant ging zu Microsoft, das seit 1979 seinen Hauptsitz in Seattle hat – wo auch Amazon geboren wurde.
Vor 26 Jahren wurde sie von Microsoft nach Australien entsandt. Anfang der 2000er Jahre heiratete sie den australischen Geschäftsmann Nick Grant und zog 2012 endgültig nach Australien. Anfang der 2010er Jahre arbeitete sie für Adobe und anschließend zwei Jahre lang für Twitter, wo sie die Richtlinien, Sicherheits- und Philanthropieprogramme in Australien, Neuseeland und Südostasien aufbaute.
Sie sieht sich als eine Art Rettungsschwimmerin für den Cyberspace
Im Jahr 2017 wurde sie unter Premierminister Malcolm Turnbull zur eSafety-Kommissarin ernannt; vier Jahre später war sie für die Durchsetzung des weltweit ersten Online Safety Act 2021 verantwortlich.
Ihr Ziel ist es, dass die Menschen in einer Cyber-Badezone „zwischen den digitalen Flaggen schwimmen“, eine Anspielung auf das Mantra der Wasserrettung, das an australischen Stränden gilt. Sie verwendet also inzwischen australische Metaphern, um ihre Argumente zu untermauern, aber laut dem ehemaligen Kommunikationsminister Paul Fletcher schade es ihr nicht, in den USA aufgewachsen zu sein, dass sie vor allem mit US-Medien und Mogulen zu tun hat.
In Australien könnte ihr ihr US-Hintergrund zum Nachteil gereicht haben, sagt ihr Vorgänger Alastair MacGibbon – obwohl sie Wahlaustralierin ist. Er begann vor 20 Jahren, mit ihr zusammenzuarbeiten, als sie bei Microsoft in der Regulierungsabteilung tätig war und sich auf die Prävention von Kindesmissbrauch konzentrierte, während er bei der Polizei arbeitete.
Sie profitiere davon, dass sie ihre heutigen Gegner von innen kennt, sagt MacGibbon. „Sie weiß, wie man das angeht. Sie weiß, was diese Unternehmen tatsächlich Gutes bewirken können, wenn sie sich dafür einsetzen. Sie kennt die Menschen in diesen Organisationen, die das tun könnten, und sie weiß, warum sie es könnten und warum sie es nicht tun.“
Inman Grant sagte im Podcast „Full Story“: „Ich habe diese Position vor neun Jahren angenommen, weil mir die Online-Sicherheit am Herzen liegt. Vorher habe ich versucht, innerhalb von drei großen Technologieunternehmen als interne Antagonistin zu agieren.“
„Wir Erwachsenen tun uns schwer, gegen diese unsichtbaren Kräfte anzukämpfen“, sagt sie über die süchtig machenden Designmerkmale wie Snap Streaks, Auto Play und undurchsichtige Algorithmen. „Welche Chance haben da unsere Kinder?“
Inman Grant hätte nie gedacht, dass sie einmal eine Person des öffentlichen Lebens werden würde, aber die Herausforderung des Online-Zeitgeistes brachte sie zwangsläufig in eine exponierte Position.
Grant hat sich ausdrücklich zu den Drohungen geäußert, die sie bekommen hat. Ein Bericht der Columbia University hat Zehntausende Fälle von beleidigenden Inhalten – darunter Vergewaltigungs- und Morddrohungen – festgestellt, die sich gegen sie und ihre Familie richteten. Die „gezielte Belästigung“ von Inman Grant umfasste allein am 23. April 2024 insgesamt 73.694 Erwähnungen ihres Namens oder ihrer Rolle bei X – die meisten davon waren negativ.
Sie wurde gedoxxed
Elon Musk nahm im vergangenen Jahr Anstoß an ihrer Macht, als sie versuchte, grafisches Filmmaterial eines Messerangriffs in einer Kirche in Sydney von X entfernen zu lassen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt hatte X sieben laufende Rechtsverfahren im Zusammenhang mit Mitteilungen der Kommissarin.
Musk bezeichnete sie als „Zensurkommissarin“ und „nicht gewählte Bürokratin“ – Bezeichnungen, die sie als „Fehlinformationen, gegen die wir nichts tun konnten“ bezeichnet. Im Februar dieses Jahres revanchierte sie sich, nachdem der damals neu gewählte US-Präsident Donald Trump Musk zum Leiter des Department of Government Efficiency (DOGE) ernannt hatte. Bei einer Veranstaltung des Tech Policy Design Institute sagte sie: „Schauen Sie sich an, wer jetzt der nicht gewählte amerikanische Bürokrat ist.“
Es war ein kleiner Stich gegen „das größte Megafon der Geschichte“, das ihr „unerbittliche Wellen von Gift“ entgegengeworfen hatte. Was ihre ohnehin schon schwierige Arbeit noch erschwerte. In einem ABC-Interview beschrieb sie es als „sehr belastend“ und „ein wenig undankbar“. Sie wurde gedoxxed, unter anderem von Neonazi-Gruppen auf Telegram, wodurch ihre Familie und ihre Kinder in Gefahr gerieten.
„Wenn Ihre Kinder ins Visier genommen werden und Sie glaubwürdige Morddrohungen erhalten und die Polizei Sie begleiten muss und Sie auf unterschiedlichen Wegen zu Ihrem Büro gehen und Ihre Lebensweise und Ihr Auftreten ändern müssen, hat das einen hohen Preis“, sagte sie gegenüber Full Story. Dennoch waren ihre Kinder der Weg zu einem Großteil ihres Engagements für das Verbot, wenn nicht sogar dessen Gegenstand. Im November schrieb Grant: „Mit drei Teenagern zu Hause bekomme auch ich gelegentlich zu hören, was sie von dem bevorstehenden Social-Media-Verbot halten.“
Sie sprach auch als Elternteil darüber, dass sie den „sehr wirksamen umgekehrten Gruppendruck“ von Social-Media-Plattformen gespürt habe. Eines ihrer Kinder habe sich ein Social-Media-Verbot für sich gewünscht, ein anderes habe „auf Nimmerwiedersehen“ zu den sozialen Medien gesagt und das dritte damit „wirklich zu kämpfen“ gehabt. Weil es soziale Medien als einen wichtigen Weg sah, um mit ihren Freunden in Kontakt zu bleiben.
„Jedes Kind ist also anders. Und ich denke, als Eltern oder Erziehungsberechtigte müssen wir wirklich abwägen.“ Wie die meisten Eltern scheint sich Inman Grant vorsichtig heranzutasten: Sie rechnet mit einigen „Ruckligkeiten und Rückschlägen“ und weiß, dass das Verbot keine Lösung oder sofortige Veränderung bringen wird. Denn: Es gebe „kein Patentrezept“.