Die 18jährige Ella Keidar Greenberg verweigerte in Israel den Militärdienst und widersetzte sich öffentlich. Nun sprach die junge Linke auf der Großdemonstration „All Eyes on Gaza in Berlin“. Dass dies möglich sein würde, war nicht immer klar: Im März diesen Jahres erschien Greenberg in einem Rekrutierungszentrum bei Tel Aviv und erklärte vor laufender Kamera ihre Weigerung, Israels Armee beizutreten. Wenig später wurde sie verhaftet und in ein Militärgefängnis gebracht.
Greenberg ist die erste trans Frau seit über zehn Jahren in Israel, die aus Gewissensgründen verweigert. Sie ist Teil von Mesarvot [Deutsch: Wir verweigern], einem Netzwerk junger Israelis, die sich aus politischen Gründen gegen den Militärdienst stellen. „Wenn unsere Enkelkinder eines Tages fragen, was wir während dem Genozid in Gaza getan haben, weiß ich, was ich antworten werde“, sagte Greenberg vor ihrer Verhaftung. „Ich habe verweigert.“ Das Gespräch fand im Juni 2025 statt.
der Freitag: Was hat Sie dazu gebracht, den Dienst in der israelischen Armee zu verweigern?
Ella Keidar Greenberg: Prinzipiell ist die Antwort einfach: Es findet ein Genozid statt – man schließt sich keiner Armee an, die einen Genozid begeht.
Gab es einen konkreten Auslöser, der Ihre Entscheidung beeinflusst hat?
Das war kein einzelner Moment – es war ein Prozess. Ich wusste seit Jahren, dass ich keine Waffe tragen und keine Gewalt ausüben will. Anfangs war das noch nicht wirklich politisch. Als ich älter wurde, begann ich mich mit politischer Theorie zu beschäftigen und wurde aktiv im Kampf gegen die israelische Besatzung, vor allem mit dem Mesarvot-Netzwerk und der Kommunistischen Jugend. Da wurde mir sehr klar: Ich kann mich nicht zur Armee melden. Die Entscheidung, öffentlich den Dienst zu verweigern, fiel zwischen 2023 und 2024.
Sie haben Mesarvot erwähnt – ein Netzwerk junger Israelis, die öffentlich den Militärdienst verweigern. Wie ist diese Bewegung entstanden?
Die Verweigerungsbewegung gibt es, seit es das israelische Militär gibt. Das Mesarvot-Netzwerk selbst wurde 2016 von Verweiger*innen ins Leben gerufen. Seitdem hat es sich zu einer Plattform entwickelt, die rechtliche, soziale und mediale Unterstützung für Verweigernde organisiert. Es gibt eine Anwältin, die mit Mesarvot zusammenarbeitet. Und ehemalige Verweigernde begleiten neue. Mesarvot ist auch ein sozialer Raum, in dem wir uns austauschen, uns gegenseitig stärken und gemeinsam aktiv werden. Im Zentrum steht der Widerstand gegen Militärdienst und Besatzung.
In einer militarisierten Gesellschaft wie Israel wird Weiblichkeit grundsätzlich abgewertet
Israel ist eine extrem militarisierte Gesellschaft. Haben Sie Gegenwind für die Entscheidung bekommen?
Meine Familie war im Großen und Ganzen sehr unterstützend. Natürlich bedeutet, öffentlich den Dienst zu verweigern, dass man sich gegen eine Institution stellt, die fast jeden Aspekt unseres Lebens durchdringt. Damit entfremdet man sich von weiten Teilen der israelischen Gesellschaft. Die Reaktionen reichen da von Wut über Ablehnung bis hin zu Gewalt.
Was haben Leute Ihnen konkret vorgeworfen?
Zum Beispiel eine „Verräterin“ zu sein – das ist so ziemlich der häufigste aller Vorwürfe. Auch etwa so was wie „Zona Shel Aravim“ [„Hure der Araber“], ein ziemlich abwertender Begriff.
Sie sind trans. Hat Ihre Perspektive als trans Frau Ihre Entscheidung beeinflusst, den Dienst zu verweigern?
In einer militarisierten Gesellschaft wie Israel wird Weiblichkeit grundsätzlich abgewertet. Von Jungs wird erwartet, dass sie echte Männer und Soldaten werden – jede Abweichung von traditioneller Männlichkeit wird mit „korrigierender“ Gewalt beantwortet. Das Coming-out und die Auseinandersetzung mit den Reaktionen darauf, wirklich ich selbst zu sein – das war schwierig für mich, aber auch wichtig. Diese Erfahrung von Entfremdung, des Aus-der-Gesellschaft-Gedrängt-Werdens, das hat mich gewissermaßen auf die Entfremdung vorbereitet, die ich heute als Verweigernde erlebe.
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Israel präsentiert sich gern als LGBTQ-freundliche Gesellschaft. Gleichzeitig gibt es seit Jahrzehnten Kritik an sogenanntem Pinkwashing: dass Israel dieses Image nutze, um von seinem Besatzungsregime abzulenken. Wie blicken Sie darauf?
Nicht alle in Israel existierenden queeren Rechte sind eine gezielte Strategie, um die Verbrechen der Besatzung zu vertuschen. Strategisch ergibt das auch wenig Sinn – niemand würde eine Gleichstellungspolitik nur deshalb entwerfen, um sich von Kriegsverbrechen reinzuwaschen. Die Rechte, die queere Menschen in Israel heute haben, sind Ergebnis jahrelanger Kämpfe der queeren Community – nicht von oben verordnet. Gleichzeitig stimmt es natürlich, dass die IDF ihr queeres Image nutzt, um vom Genozid in Gaza und von der Besatzung im Westjordanland abzulenken.
Denken Sie, Ihre Identität als trans Frau hätte ein Problem dargestellt, wenn Sie sich nicht verweigert hätten?
Definitiv – so wie es auch im Militärgefängnis ein Problem war. Die IDF ist fortschrittlicher als andere Institutionen in Israel, was Rechte für Queers betrifft. Aber das heißt nicht, dass sie ein sicherer Ort für queere Menschen ist. Als trans Person hätte ich es dort sehr schwer gehabt.
Weil Sie es erwähnen: Sie wurden zu 30 Tagen Militärhaft verurteilt. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Ich wurde zu 30 Tagen verurteilt und saß am Ende dann 23 Tage. Ich war in der Frauenabteilung, einer von fünf Hafteinheiten auf dem Stützpunkt, wo ich einsaß. Von diesen 23 Tagen habe ich 16 in Einzelhaft verbracht.
Wie sah der Alltag im Gefängnis aus?
Die meiste Zeit ist man einfach in einer Zelle – meist zusammen mit drei bis sechs anderen Personen. Die IDF hat eine Regelung für trans Soldat*innen, was Toiletten und Schlafplätze betrifft. Als trans Häftling wurde ich von den anderen getrennt – das bedeutet, dass ich die ersten 16 Tage täglich 21 Stunden am Stück komplett allein in meiner Zelle war. Es war ziemlich kafkaesk. Das Militär sagte, es liege an den Regeln bezüglich Geschlechtertrennung zwischen Männern und Frauen – so richtig erklären konnte es mir niemand.
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Was war der offizielle Grund für die Einzelhaft?
Sie sagten, es liege an einer IDF-Richtlinie für trans Soldat*innen – die allerdings nirgends öffentlich zugänglich ist. Praktisch wurde ich wie ein männlicher Soldat behandelt, obwohl ich in einer Fraueneinheit war. Also hielten sie mich von den anderen fern – de facto Einzelhaft. Kürzlich habe ich einen zweiten Einberufungstermin erhalten.
Die Wehrpflicht für Frauen in Israel dauert zwei Jahre. Sie bekommen für diesen Zeitraum jetzt einfach immer weitere Einberufungsbefehle?
Ja, das geht so lange, bis ich ausgemustert werde. Bei Verweigernden läuft das meist so: Wir verweigern, werden entlassen und ein paar Tage später kommt dann ein neuer Einberufungsbefehl. Dann verweigern wir wieder und werden wieder verurteilt – meist zu 30 Tagen. Itamar Greenberg ist ein gutes Beispiel: Er saß in den letzten anderthalb Jahren fast 200 Tage im Gefängnis, nicht am Stück, sondern in mehreren Haftperioden. Manchmal zieht das Militär diese Perioden absichtlich in die Länge, um es einem möglichst schwer zu machen. Ich bin jetzt in einer Art Schwebezustand. Ich könnte jederzeit einberufen und eingesperrt werden.
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Sie hatten vermutlich keinen Zugang zu Ihrem Handy oder Internet – aber Bücher durften Sie mitnehmen?
Handys werden einem bei der Einlieferung abgenommen. Man bekommt etwa sieben Minuten Telefonzeit pro Tag per Festnetz. Aber ich hatte Bücher, ja. Ich habe insgesamt 17 Bücher gelesen. Das war immerhin das Einzige, was ich tun konnte. Viele Bücher wurden mir aber abgenommen. Man darf zum Beispiel keine englischsprachigen Bücher mit reinnehmen. Auch keine, die als zu obszön oder zu politisch gelten.
Was galt denn als „zu obszön“?
Ich hatte zum Beispiel Notre-Dame des Fleurs von Jean Genet dabei. Ein großartiges Buch. Überraschenderweise wurde es nicht wegen des Inhalts abgelehnt – obwohl der Inhalt wirklich total obszön ist –, sondern wegen des Covers. Auf dem hebräischen Umschlag war ein Kunstwerk, wo ein Baby mit nacktem Po zu sehen war. Da sagten sie: „Ein Babypo ist zu obszön.“ Nach einem Streit mit einer Offizierin durfte ich es am Ende dann doch behalten – aber nur unter der Bedingung, dass ich ein A4-Blatt über das Cover falte.
Was wurde noch verboten?
Einige. Marx und Engels, Foucault, ein Buch über Prozesse von Verweigerinnen. Auch Virginia Woolfs Autobiografie wurde verboten, weil sie sich mit Suizid beschäftigt. Sie haben sich die Bücher genau angeschaut. Das hing natürlich auch davon ab, welche Offizierin gerade Dienst hatte – manche waren literarisch gebildeter als andere. Ich hätte anfangs wirklich nicht gedacht, dass Jean Genet und Virginia Woolf für das israelische Militär eine Gefahr darstellen.
Wenn die Trans-Bewegung politisch was erreichen will, muss sie sich als Befreiungsbewegung verstehen
Was hat Sie ursprünglich politisiert?
Aktiv wurde ich Anfang 2023. Als ich so 14, 15 war, während der Corona-Zeit, habe ich den Onlineunterricht geschwänzt und einfach nur gelesen: politische Philosophie, marxistische Theorie. Ich hatte mich gerade erst geoutet, ich hasste mich selbst und die Welt. Das war ein Gefühl von totaler Ohnmacht. Ein paar Jahre später, bei den Protesten gegen die Justizreform, bin ich auf den Anti-Besatzungsblock gestoßen. Wir haben als Gruppe Teenager dann den Anti-Occupation Youth Block gegründet. Daraus wurde eine dauerhafte Gruppe. Da lernte ich Leute kennen, die im Westjordanland aktiv sind. Seit 2023 ist Aktivismus mein Leben.
Die Kämpfe für trans Befreiung und palästinensische Befreiung sind für Sie miteinander verbunden?
Absolut. Natürlich gibt es Leute, die für trans Befreiung kämpfen, ohne andere Unterdrückungsverhältnisse einzubeziehen – aber das reicht nicht. Wenn ein Genozid stattfindet, muss man sich dagegen stellen, Punkt. Unfassbar schlimme Dinge passieren direkt neben uns, in unserem Namen. Da gibt es keine andere Wahl, als zu handeln. Und grundsätzlich: Wenn die Trans-Bewegung politisch was erreichen will, muss sie sich als Befreiungsbewegung verstehen – nicht als Kampf um Integration. Ich will nicht zur Armee gehen dürfen. Ich will keinen trans Soldaten, keine trans Milliardäre, keinen trans Cop. Ich will, dass trans Menschen frei sind. Wir müssen uns von geschlechtsbezogenen Machtverhältnissen befreien, weil sie Teil der Produktionsverhältnisse sind. Jeder Kampf, der nur auf Teilhabe abzielt, bleibt unzureichend.
Was hat sich für Sie verändert, seit Sie öffentlich als Verweigerin aufgetreten sind?
Es hat mein Leben schon beeinflusst. Meine Beziehungen haben sich ziemlich verändert. Aber im Alltag erlebe ich keinen massiven Gegenwind.
Sehen Sie für sich eine Zukunft in Israel?
Ich denke nicht, dass ich weggehen werde. Wenn alles noch schlimmer wird, wonach es gerade aussieht, braucht es mehr Menschen, die dagegen ankämpfen. Woanders zu sein, würde sich wie eine Flucht anfühlen.
Ella Keidar Greenberg ist eine 18-jährige israelische trans Aktivistin und die erste offen transgeschlechtliche Kriegsdienstverweigerin Israels seit über einem Jahrzehnt. Im März dieses Jahres verweigerte sie öffentlich den Dienst in der israelischen Armee. Ihre Verweigerung, unterstützt von der Anti-Besatzungs- und Kriegsdienstverweigerer-Gruppe Mesarvot, führte zu einer 30-tägigen Haftstrafe. Greenberg, die sich selbst als Kommunistin bezeichnet, versteht ihren Widerstand als Teil eines umfassenderen Kampfes gegen Militarismus, Patriarchat und Siedlerkolonialismus.