Die anhaltenden Proteste gegen die Inhaftierung des Bürgermeisters von Istanbul werden zur Herausforderung für Präsident Erdoğan. In einer Rede vor der versammelten Menge warnt İmamoğlus Frau die Behörden
Die Polizei in Istanbul setzt Pfefferspray, Tränengas und Wasserwerfer gegen die Demonstranten ein
Foto: Kemal Aslan/AFP/Getty Images
Ein Gericht in Istanbul hat es fertiggebracht, den Bürgermeister der Stadt, Ekrem İmamoğlu, an dem Tag in Untersuchungshaft zu schicken, an dem ihn seine Partei als Präsidentschaftskandidaten nominiert hat. Dem bisherigen Oberhaupt der größten türkischen Stadt und Rivalen von Präsident Recep Tayyip Erdoğan werden die Führung einer kriminellen Vereinigung, Bestechung und Korruption vorgeworfen. Gleiches gilt für Dutzende seiner Mitarbeiter und für städtische Beamte. Über İmamoğlu schwebt zusätzlich die Anschuldigung, er habe durch die Zusammenarbeit mit einer linken Koalition vor den Kommunalwahlen im Vorjahr „eine bewaffnete terroristische Gruppe“ unterstützt.
In Izmir versucht die Polizei, Proteste mit gepanzerten Wasserwerfern aufzulösen
Zahlreiche Demonstranten, die sich bereits den fünften Abend in Folge in der Nähe des Istanbuler Rathauses versammeln, zeigen ihren Ärger über die jüngst offenbarte Willkür. Sie sehen sich mit Polizeieinheiten konfrontiert, die jede Menge Pfefferspray versprühen und Tränengas-Granaten abfeuern. Videos aus der Stadt Izmir zeigen, wie die Polizei versucht, die Proteste mit gepanzerten Wasserwerfern aufzulösen.
In einer Rede vor der in Istanbul versammelten Menge warnte İmamoğlus Frau die Behörden, dass sie für die Vorgänge zur Rechenschaft gezogen würden: „Er wird euch besiegen! Ihr werdet verlieren!“, rief Dilek Kaya İmamoğlu laut von der Bühne herunter. „Die Ungerechtigkeit, die Ekrem widerfahren ist, berührt jedes einzelne Gewissen. Alle haben in dem, was jetzt geschieht, etwas erkannt, was sie selbst angeht.“
Die Staatsanwaltschaft hat entschieden, dass İmamoğlus Inhaftierung allein wegen der Korruptionsvorwürfe gerechtfertigt sei, obwohl ein starker Verdacht wegen noch anderer Verbrechen bestehe. Sie entschied sich dafür, drei weitere Personen wegen Terrorismusvorwürfen inhaftieren zu lassen, nicht aber den Bürgermeister. Es wird davon ausgegangen, dass diese Entscheidung es der Republikanischen Volkspartei (CHP), der größten Oppositionspartei der Türkei, ermöglicht, einen Bewerber für die Kontrolle der Istanbuler Stadtverwaltung auszuwählen. Es würde dann nicht dem Staat überlassen sein, einen Verwalter zu bestimmen.
İmamoğlu, der in das Gefängnis Silivri am Stadtrand von Istanbul eingeliefert wurde, weist die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zurück und erklärte den Ermittlern während der Vernehmung, seine Inhaftierung habe „nicht nur dem internationalen Ruf der Türkei geschadet, sondern auch das Rechtsempfinden der Öffentlichkeit und das Vertrauen in die Wirtschaft erschüttert“. Sein Sprecher Murat Ongun, der ebenfalls in Untersuchungshaft sitzt, postete auf X: „Ich wurde wegen Verleumdung verhaftet, aber es gibt dafür keinen einzigen Beweis!“
Jede Nacht Zehntausende auf der Straße
Die türkischen Behörden haben zudem gerichtlich verfügt, dass mehr als 700 Konten auf X geschlossen werden. Diese Maßnahmen richteten sich gegen Nachrichtenagenturen, Journalisten, Politiker und Studenten in der Türkei, so die Online-Plattform. Sie nannte das Vorgehen der türkischen Regierung „rechtswidrig“ und erklärte, das Recht auf freie Meinungsäußerung vor Gericht verteidigen zu wollen.
Die Massenproteste haben bisher dazu geführt, dass jede Nacht Zehntausende auf die Straße gehen und es häufig zu Zusammenstößen mit der Polizei kommt. Innenminister Ali Yerlikaya gab bekannt, dass in der Istanbuler Stadtverwaltung 323 Personen festgenommen worden seien. Einen Tag zuvor hatte er die Inhaftierung von 343 Frauen und Männern wegen Protesten bekanntgegeben.
Türkische Beamte weisen jeglichen Verdacht von sich, das Vorgehen gegen İmamoğlu, gegen Kommunalbeamte, Geschäftsleute und Dutzende Mitglieder der CHP sei politisch motiviert. Doch haben diese Beteuerungen die regierungsfeindliche Stimmung zehntausender Demonstranten nicht mildern können, zumal sie durch Präsident Erdoğan als Verursacher von „Straßenterror“ bezeichnet werden.
Sie wollen verteidigen, was von der türkischen Demokratie noch übrig ist
Tatsächlich umgeben seit Tagen Reihen gepanzerter Wasserwerfer den Park des Rathauses, um gegen Protestmärsche eingesetzt zu werden. Im Licht eines nahegelegenen Minaretts sitzt eine Gruppe junger Türken auf einer hohen Mauer und schwingt Nationalflaggen über der versammelte Menge.
„Ich bin nicht aus politischen Gründen hier. Es geht um mehr als nur Politik; sondern um Ungerechtigkeit“, sagte Beril, eine Studentin, die mit ihrer Mutter unterwegs ist. Sie sei schockiert über die große Zahl bewaffneter Polizisten auf dem Campus ihrer Hochschule gewesen, die alles andere bewirkt hätten, als die Wut ihrer Kommilitonen einzudämmen. „Wir haben hier Gesetze, die nicht befolgt werden. Es gibt also keine Rechtsstaatlichkeit“, sagt Berils Mutter und unterbricht sich, um in Sprechchöre einzustimmen, die den Rücktritt der Regierung verlangen. „Wir sehen uns gezwungen, das vom Gouverneur von Istanbul verhängte Demonstrationsverbot zu missachten, um zu verteidigen, was von der türkischen Demokratie noch übrig ist“, fährt sie fort.