Einsamkeit und Kapitalismus: Abschied von Uwe

Eine Zeitlang hat es jede Nacht vor meinem Fenster gelärmt. Ein unbedachter Flaschensammler schob draußen den Einkaufswagen voll bepackt die Straße runter, wobei das Kopfsteinpflaster seine Habseligkeiten scheppern ließ, wieder und wieder im Echo der Häuserwände.

Ich wohne in Berlin-Prenzlauer Berg, gehöre praktisch zur indigenen Bevölkerung. Wir sind nicht mehr viele. Und vielleicht hatte auch der besagte Obdachlose, dieses kleine Männchen mit der Kapuzenjacke, hier einmal eine Tür mit seinem Namen drauf. Lange her. Und jetzt war es ihm egal, wer da in den Häusern schlafen wollte. Was will man da sagen? Sollte ich ihn nachts abpassen? „Hör mal, Bruder. Hier wollen Leute schlafen. Nimm Rücksicht, ja?“ Rücksicht auf jene, die noch ein Leben haben und sich davon ausruhen müssen. Rücksicht auf die Spießer.

Das „Einsamkeitsbarometer“ von Lisa Paus

Bundesfamilienministerin Lisa Paus von den Grünen hat dieser Tage das „Einsamkeitsbarometer“ vorgestellt. Für die Langzeitanalyse seien Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) von 1992 bis 2021 ausgewertet worden, was auch immer das ist, mit dem Ergebnis, dass Einsamkeit jetzt kein Phänomen mehr ist, das nur alte Leute was angeht. „Einsamkeit betrifft uns alle!“, heißt es im Clip des Ministeriums. Das mag ja sein. Und auch, dass durch Corona alles schlimmer geworden ist.

Aber was sagt das? Der unbehauste Störenfried und ich, wir sind beide einsam. Nur dass einer von uns sich öfter allein fühlt, während der andere von der Gesellschaft im Stich gelassen wurde. Im 80-seitigen „Einsamkeitsbarometer“ aber wird der Kapitalismus nicht ein Mal erwähnt.

Im Haus sind alle froh, dass Uwe im Frühling starb

Einsam war auch der ältere Herr im Seitenflügel, zweite Etage. Erst seit kurzem hatten wir uns überhaupt gegrüßt. Noch zwei, drei Jahre, und wir wären miteinander ins Gespräch gekommen. Bestimmt. Seit letzter Woche aber liegt er in einem Krankenhauskeller, luftdicht verschlossen, mit einem Zettel am Zeh. Inzwischen weiß ich, dass er Uwe hieß, Mitte 60 war und noch einen Bruder hatte, der ihn hin und wieder besucht hat. Außerdem kam noch eine Betreuerin, aber offensichtlich nur alle 14 Tage.

Der Mann ist einfach umgefallen und war tot. Der Leichengeruch hat sich in die Wände und Dielen gefressen. Im Haus sind alle froh, dass er im Frühling gestorben ist, wo man die Fenster aufreißen kann. Die Wohnung soll jetzt grundsaniert werden. Das dauert. Irgendwann aber wird an seiner Tür und am Briefkasten ein neuer Name stehen, und es wird sein, als hätte Uwe nie gelebt.

Am Leben ist hoffentlich noch der Flaschensammler. Ich würde mich freuen, von ihm zu hören.

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