Nicht erst der russische Angriff auf die Ukraine hat gezeigt: Der Staat braucht mehr Geld. Und das nicht nur für die Verteidigung: Nach dem Hochwasser im Saarland und in Rheinland-Pfalz verhandeln die Regierungen der Länder mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) über finanzielle Hilfen. Die Folgen des Klimawandels verlangen eine grundlegende Umgestaltung unserer Wirtschafts- und Lebensweise. Der Staat muss sich vom Sozialstaat zum sozial-ökologischen Staat wandeln. Für diese Transformationsphase braucht er mehr Geld. Doch wo soll das herkommen?
Zusätzliche Staatskredite sind aufgrund der Schuldenbremse nicht möglich, das Bundesverfassungsgericht hat auch Umwege versperrt, mit dem Hinweis, dass die Politik sich doch bitte an die selbst beschlossenen Gesetze halten soll. Nach der jüngsten Konjunkturprognose der „Wirtschaftsweisen“ ist mehr Geld in den Staatskassen über Wirtschaftswachstum auch nicht in Sicht.
Zusätzliche Finanzmittel könnten über Steuererhöhungen generiert werden. Aber Steuererhöhungen sind vor allem für Politiker*innen der FDP des Teufels. Sie fordern dagegen Sozialausgaben zu kürzen, um Finanzmittel für die neuen Aufgaben freizumachen. Stellt sich die Frage: Sollen die neuen Lasten getragen werden durch Verlust an Unterstützung für die Einen – oder durch höhere Abgaben für die Anderen? Es geht im Kern immer darum: Sind die Lasten gerecht verteilt? Offensichtlich sind immer mehr Menschen der Auffassung, dass dies gegenwärtig nicht der Fall ist – und sehen den Ausweg in der Unterstützung autoritärer Populisten, die ganz einfachen Lösungen versprechen.
Wir müssen deshalb wieder grundlegend über Verteilungsgerechtigkeit reden.
OECD: Deutschland ist eine Steueroase für Superreiche
Die Menschen sind sich zwar nicht einig darüber, wie im Einzelnen Gerechtigkeit aussieht. Aber es besteht das weitverbreitete Gefühl, dass das gegenwärtige Steuersystem höchst ungerecht ist. Ein Grundsatz, den das Bundesverfassungsgericht aufgestellt hat, lautet: „Die Besteuerung ist an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auszurichten“. Aber dieser Grundsatz ist vielfach verletzt: In der Realität wird nicht nach der Leistungsfähigkeit besteuert, sondern im Gegenteil: Hohe Einkommen und Vermögen können sich durch Steuersonderregelungen meist legal, aber höchst ungerecht, weitgehend der Besteuerung entziehen.
Diese Entwicklung wird durch Studien bestätigt, sei es von Nichtregierungsorganisationen oder internationalen Gremien wie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD): Deutschland ist ein Hochsteuerland für Menschen, die ihr Geld mit Arbeit verdienen, aber eine Steueroase für Superreiche, die ihr Einkommen aus Vermögen beziehen.
Durch die Steuergesetzgebung der letzten Jahrzehnte hat sich die Steuerbelastung für Reiche mehr als halbiert, sie zahlen nur noch die Hälfte dessen, was eine Durchschnittsfamilie an Steuern und Sozialabgaben zahlt. Dieses und viele andere Beispiele für Steuerungerechtigkeit sind aktuell wieder detailliert belegt im Jahrbuch Steuergerechtigkeit 2024.
Wie viel Ungleichheit und Armut sind mit einer Demokratie verträglich?
Die reichsten vier Familien Deutschlands besitzen mittlerweile genauso viel Vermögen wie jene Hälfte der Bevölkerung, die nicht so viel Einkommen bezieht. Diese Hälfte besitzt zusammen rund 200 Milliarden Euro, was annähernd dem Vermögen der Familien Böhringer (70 Milliarden Euro), Schwarz (45 Milliarden), der Geschwister Quandt (50 Milliarden) und von Heister & Albrecht (33 Milliarden) entspricht. Wie in anderen Ländern auch, war der Vermögenszuwachs bei den deutschen Milliardären zuletzt atemraubend. Stellt sich die grundsätzliche Frage: Wie viel Ungleichheit und Armut sind mit einer Demokratie verträglich? Und: Wie finanzieren wir die Zukunft, also unsere Schulen, Verkehrswege, unser Gesundheitssystem, die Kosten für die Energiewende?
Um dafür Spielraum zu erhalten, müssen wir weg von der neoliberalen Steuerpolitik, die im Rahmen der Steuerkonkurrenz der Nationalstaaten ihr Heil in kontinuierlichen Steuersenkungen für Konzerne und Reiche sah. Stattdessen brauchen wir Steuerregelungen, wie sie in der Zeit des Teilhabekapitalismus der Wirtschaftswunderzeit galten. Es geht um ein Steuersystem, das zu einer sozialen und nachhaltigen Gesellschaft beiträgt.
Dafür sind zehn Schritte notwendig:
1. Nettoeinkommen werden auf das Hundertfache des Mindestlohnes begrenzt
2. Vermögen über dem Tausendfachen des jährlichen Einkommens mit Mindestlohn wird schrittweise reduziert
3. Der Gini-Index für Einkommen soll dauerhaft maximal 20 Prozent betragen. Dieser Index beschreibt die Vermögensverteilung: Je höher der Wert, desto stärker ausgeprägt ist die gemessene Ungleichheit. Für Vermögen soll der Gini-Index dauerhaft bei maximal 50 Prozent liegen
4. Es gilt das Verursacherprinzip: Alle, die öffentliche Güter benutzen, Rohstoffe der Natur entnehmen oder Schäden verursachen, müssen so hoch belastet werden, dass damit die Folgekosten für die Gemeinschaft und die Natur ausgeglichen werden können
5. Die Gewinne von international tätigen Unternehmen werden unabhängig vom Firmensitz nach dem Umfang der wirtschaftlichen Tätigkeit in den einzelnen Ländern diesen zugerechnet und versteuert
6. Vermögen sind immer auch das Ergebnis gesamtgesellschaftlicher Kooperation. Erbe und Schenkung sind leistungslose Einkommen. Deswegen sollen Vermögensteuer und Erbschaftsteuer ab einer gewissen Grenze für Umverteilung sorgen
7. Jedes Kind hat Anspruch auf eine kostenlose Betreuung und eine kostenlose Bildung bis zum Abschluss der ersten Berufsausbildung
8. Alle Bürger*innen haben Anspruch auf eine einheitliche Krankenversorgung und Pflege sowie auf eine existenzsichernde Basisversorgung im Alter, bei Krankheit, Beeinträchtigung oder Arbeitslosigkeit
9. Die Verteilung der Steuern und Abgaben erfolgt so, dass 10 Prozent an die EU, 20 Prozent an den Bund, 20 Prozent an die Länder und 50 Prozent an die Kommunen gehen.
10. Diese Grundsätze der Steuer- und Abgabenpolitik werden einklagbar in die Verfassung aufgenommen. Eine unabhängige Kommission überprüft jährlich die Ergebnisse und erarbeitet Vorschläge für eine gesetzliche Weiterentwicklung in einer öffentlichen Stellungnahme
Wie man die Drohung mit der „Steuerflucht“ ins Leere laufen lässt
Dass der Weg in die Zukunft ein verändertes Steuersystem braucht, zeigt ein Blick in andere Länder. So hat US-Präsident Joe Biden in seiner Ansprache an die Nation im März eine höhere Unternehmens- und Reichenbesteuerung gefordert. Zudem bringen internationale Vereinbarungen wegweisende steuerpolitische Fortschritte: etwa die Vereinbarung über eine Mindestbesteuerung der internationalen Konzerne oder der verbesserte Informationsaustausch der Steuerbehörden, dem sich bereits über 100 Länder und Territorien angeschlossen haben.
Beide Vereinbarungen sind nicht ideal.
Den Lobbyverbänden gelang es Löcher hineinzuschneiden, so dass die steuerlichen Mehreinnahmen nicht die Höhe erreicht haben, die ursprünglich beabsichtigt waren. Aber die Vereinbarungen zeigen einen Weg auf: über die internationale Ebene die nationalstaatliche Steuerkonkurrenz aushebeln. Dann geht die Drohung mit der Steuerflucht ins Leere, die bei nationalen Anstrengungen immer vorgebracht wird. Gegenwärtig gibt es erste internationale Ansätze: „Besteuert die Superreichen“ forderten Minister mehrerer Länder in einem offenen Brief.
Auch auf europäischer Ebene gibt es Ansätze: Unter dem Motto „Tax the Rich“ fordert eine Bürgerinitiative, eine europäische Steuer auf große Vermögen einzuführen. Das Geld soll zur Bekämpfung von Klimawandel und Ungleichheit in der EU sowie zur Entwicklungszusammenarbeit eingesetzt werden. Denn das reichste Prozent der Weltbevölkerung besitzt fast die Hälfte des globalen Vermögens und dieselben Ultrareichen stoßen mehr Treibhausgase aus als die ärmere Hälfte der Welt. Gestartet wurde die Initiative unter anderem von Marlene Engelhorn, Milliarden-Erbin und prominentes Mitglied von TaxMeNow, die sich mit anderen Vermögenden für eine gerechte Vermögensbesteuerung einsetzt.
Attac unterstützt diese Initiative. Soll sie erfolgreich sein, müssen bis Anfang Oktober eine Million Unterschriften erreicht werden.