Berlin, 17. Juni 1990. Palast der Republik, der Moment ist da, die Zwei-Drittel-Mehrheit erreicht. Die DDR-Volkskammer, bis vor Kurzem noch zahnloses „höchstes“ Gremium und von der SED geführt, hat eine folgenreiche Entscheidung getroffen. Jubel brandet auf. Draußen, auf dem Marx-Engels-Platz, wird mit selbst gemalten Schildern gefeiert: „Deutschland, einig Vaterland“. Drinnen aber, auf der Tribüne, sitzt ein Bonner Kanzler, der nicht klatscht.
Helmut Kohl wirkt erschöpft, irritiert. Was ist gerade passiert? Neben ihm Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth – auch sie schaut ernst. Beide scheinen zu denken: Dürfen die denn das? Die Volkskammer, das höchste Verfassungsorgan der DDR, hat eigenmächtig gehandelt. Ohne Absprache mit Bonn, und das ausgerechnet am 17. Juni, dem „Tag der deutschen Einheit“, wie er seit Jahrzehnten im Westen heißt und ritualisiert gefeiert wird. Ein Zufall? Kaum.
In diesem Deutschmark-Sommer mit seiner betörenden Blütenpracht gibt es kaum einen Tag ohne Verlangen, in die Geschichte einzugehen. Der 17. Juni ist dafür wie geschaffen. Vor 37 Jahren stand die DDR schon einmal am Abgrund und konnte nur von den Sowjets gerettet werden. Um daran zu erinnern, ist die Sondersitzung der Volkskammer jedoch nicht einberufen. Ein Treuhand-Gesetz muss her. DDR-Betriebe straucheln in Massen und können oft nur noch durch Verkauf dem sicheren Bankrott entgehen. Durch wen, an wen?
Parlamentspräsidentin Sabine Bergmann-Pohl (CDU) will die Debatte eröffnen, da meldet sich der Abgeordnete Jürgen Schwarz von der Deutschen Sozialen Union (DSU), um einen Antrag zu verlesen. Das Hohe Haus möge den Beitritt der DDR zur BRD „nach Artikel 23 des Grundgesetzes mit dem heutigen Tag“ beschließen. Wenn die Demokratie Ost einen Stich ins Krawallige hat, macht sich besonders die DSU darum verdient.
Sie imitiert die CSU in Bayern und ist Sturmgeschütz der DDR-Hasser. Antragsteller Schwarz, bis zum Herbst 1989 noch Geschichts- und Staatsbürgerkundelehrer an der Lilo-Hermann-Schule im sächsischen Boxdorf, will seinen Antrag auf der Tagesordnung sehen. CDU, DSU und SPD lassen sich das nicht zweimal sagen. Auf der Zuschauertribüne verfolgen Kohl und Süssmuth zunächst noch amüsiert, was unter ihnen geschieht. Und dann wird abgestimmt.
267 Abgeordnete dafür, 92 dagegen, sieben Enthaltungen. Die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit ist erreicht, die Kammer des Volkes hat gesprochen. Premier Lothar de Maizière (CDU) darf ihr nicht in die Parade fahren, ohne sich des Verfassungsbruchs schuldig zu machen. Seine Parteifreunde in der „Allianz für Deutschland“ kosten aus, dass ihnen 5,5 Millionen DDR-Bürger am 18. März eine erschlagende Mehrheit verschafft haben.
Auch die Sozialdemokraten machen mit, wenn über die Einheit jetzt und gleich entschieden wird. PDS und Bündnis 90 kommen mit 92 Gegenstimmen nicht einmal in die Nähe einer Sperrminorität. Ostdeutsche zeigen ihrem künftigen Vormund, dass sie selbst wer sind und eines Tages – wenn die „Allianz für Deutschland“ längst vergessen ist – die Alternative für Deutschland (AfD) wählen, falls das nicht respektiert wird.
DDR-Mark wird durch D-Mark ersetzt
Am Abend ist die Regierung Kohl nicht länger sprachlos und verkündet: Mit dem Beitritt sofort handle es sich um eine souveräne Entscheidung des DDR-Parlaments. Die sei getroffen worden, ohne dass man darauf auch nur den geringsten Einfluss genommen habe. Im Übrigen sei der Vertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion am 18. Mai unterzeichnet worden und trete am 1. Juli in Kraft. Das heißt, dann wird die DDR-Mark definitiv durch die D-Mark ersetzt. Das sollen alle DDR-Bürger wissen, die womöglich fürchten, ihnen komme durch diesen 17. Juni die D-Mark abhanden oder verspäte sich.
Der Journalist Hanns Joachim Friedrichs hatte die Tagesthemen am 9. November 1989 mit dem Satz eröffnet: „Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten, aber heute Abend darf man einen riskieren, dieser 9. November ist ein historischer Tag. Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort geöffnet sind.“
An diesem 17. Juni lässt Friedrichs das Historische weg und spricht in den Tagesthemen von einem „Betriebsunfall“, den man hätte vermeiden sollen. Er zitiert Jens Reich von Bündnis 90, der in der Debatte um den DSU-Antrag von einem „Kaiserschnitt ohne Narkose“ sprach, auf den „dieses hochmütige Manöver“ hinauslaufe. Die Einheit brauche zunächst einen Einigungsvertrag, vor allem die Zustimmung der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, findet Friedrichs.
Tatsächlich haben die Verhandlungen dazu noch nicht einmal begonnen. Eine erste Runde in Paris ist für den 17. Juli anberaumt. Bleibt es dabei? Was sagen die Sowjets zum Alleingang der Volkskammer? Am 17. Juni erst einmal nichts. Ihr Gesandter Igor Maximytschew hat den Palast der Republik, in dem das DDR-Parlament tagt, umgehend verlassen, nachdem Sabine Bergmann-Pohl das Abstimmungsergebnis gewohnt stotternd verlesen hat. Am Tag darauf gibt es in Moskau ein knappes Statement der Regierung. Darin wird „eine überstürzte Entscheidung“ beklagt, die so nicht hinnehmbar sei. Sie belaste das Vertrauen zur Regierung Kohl.
Deutlicher wird Valentin Falin, einst Sowjetbotschafter in Bonn, im Kommentar für die Iswestija. Die Sowjetunion sei bei der Grenzöffnung am 9. November 1989 überfahren worden – werde das neuerdings zur Gewohnheit? Beim Moskau-Gipfel zwischen Kohl und Gorbatschow am 10. Februar habe man vereinbart, sich auf dem Weg zur Einheit eng abzustimmen. Resoluter klingt es in der auflagenstarken Komsomolskaja Prawda. Weltkriegsveteran Sergej Kowaljow fragt: „Sind dafür beim Kampf um Berlin noch einmal Zehntausende unserer Jungs gefallen, die nun einsam in fremder Erde ruhen? Dürfen sie so mit uns umspringen?“ Wer ist „sie“? Offenbar wird in Moskau nicht daran geglaubt, dass die Volksammer ohne Zuspruch aus Bonn so kühn aus dem Sattel stieg.
Noch am gleichen Tag wird die in der DDR stationierte Westgruppe der Sowjetarmee (GSSD) – sie umfasst 360.000 Soldaten – in Alarmbereitschaft versetzt. Diese Verbände verfügen über das Gewaltmonopol im Osten, die Nationale Volksarmee hat sich bereits weitgehend aufgelöst. Den Befehl unterschrieben hat der GSSD-Oberkommandierende, Generaloberst Matwei Burlakow. Das lässt in Bonn, Washington, Paris und London kurz aufatmen. Es hätte auch General Pjotr Luschew sein können, der Oberkommandierende des Warschauer Paktes.
Demzufolge reagiert die Sowjetunion, nicht das östliche Bündnis an sich, das als Militärkoalition zumindest auf dem Papier noch existiert. Die alles beherrschende Frage lautet: Hat die Mobilisierung den Segen Michail Gorbatschows? Am 18. Juni rückt im Raum Halberstadt das 197. Gardepanzerregiment zum Manöver in den Klusbergen aus, bei Neustrelitz ist die 22. Panzerdivision „auf dem Marsch“. Länger geplante Übungen, beschwichtigt das sowjetische Oberkommando in Wünsdorf.
Die Einheit als Krisenfall
Das Wort „Kettenreaktion“ macht die Runde, als die Agentur AP am gleichen Tag behauptet, US-Präsident George Bush habe sich um ein Telefonat mit Gorbatschow bemüht, sei aber gescheitert. Das Weiße Haus dementiert umgehend: Man tausche sich nur mit den westlichen Verbündeten aus. In der Annahme, dass die deutsche Einheit urplötzlich zum weltpolitischen Krisenfall wurde? Die Volkskammer habe die Sowjets geradezu eingeladen, sich über ihren künftigen Status ernsthaft Sorgen zu machen, urteilt Egon Bahr im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. „Und sie haben allen Grund dazu.“ Kohl müsse ein Machtwort sprechen und „geltungssüchtige DDR-Amateure in die Schranken weisen“. Aber Kohl schweigt.
Am 19. Juni gibt es einen Knall und das gern beschworene Zeitfenster zur deutschen Einheit ist aus der Verankerung gerissen. In Moskau hat ein Notstandskomitee die Verantwortung übernommen und Gorbatschow für abgesetzt erklärt. Angeführt von Grigori Romanow, einst Gebietssekretär für Leningrad, putscht der Militär- und Sicherheitsapparat und will dem Rad der Geschichte in die Speichen greifen, das seine Macht zu überrollen droht.
Die Preisgabe der DDR gefährde nicht nur sowjetische Interessen, sondern bedrohe die UdSSR existenziell, erklärt Romanow, den ein „Rat der Marschälle“ zum Staatschef ernennt. Valentin Falin scheint zu sympathisieren, er darf in der Iswestija schreiben, man habe zuletzt bei Gorbatschows Deutschland-Politik nicht mehr gewusst, wen er am wenigsten verstand – sich selbst oder die Fakten.
In der Volkskammer haben sie mit Bauklötzern geworfen und die Welt dort getroffen, wo sie empfindlich ist. Die gleichen Leute, die den bundesdeutschen Staat später als „diktatorisch“ schmähen werden, werfen sich ihm an jenem 17. Juni liebend an den Hals. Man ahnt, welches Unheil eine völkische Zweidrittelmehrheit – käme sie je wieder zustande im deutschen Parlament – künftig stiften kann.