Wer in der Politik etwas werden will, hieß es einmal am Rande einer Sommerakademie der Rosa-Luxemburg-Stiftung, braucht eine Gruppe, Eloquenz und vor allem einen Mentor, einen Staatssekretär etwa oder eine Abgeordnete. Denn Seilschaften haben nur Erfolg, wenn wenigstens einer den Berg schon erklommen hat und die anderen nachziehen kann.
Zuvor aber muss sich das junge Talent ein paar Jahre bewähren: als Mitglied des Kreisvorstandes dem Mentor den Rücken freihalten oder beim Landesparteitag die richtigen Zwischenfragen stellen und helfen, den Leitantrag durchzuboxen. Als Lohn winkt ein Praktikum beim Mentor und später vielleicht sogar eine Festanstellung.
Eines Tages dann, jedoch nur bei bedingungsloser Gefolgschaft, wird der politische Ziehvater respektive die politische Ziehmutter den ehrgeizigen Assistenten nachholen, ihm zu einem guten Listenplatz bei der Landtagswahl verhelfen – Politik als Tauschgeschäft. Wie die Evolution belohnt auch die parlamentarische Demokratie die Angepassten.
Das Problem dabei: Erst jetzt kann der kleine Arschkriecher „seine“ Politik machen. Politik, die er schon vor drei, vier Jahren machen wollte. Und das ist das Traurige in diesem System: Selbst wenn es gut läuft, wird jede neue Politik eine Politik von gestern sein.
Gesine Lötzsch, seit nunmehr vierzig Jahren Mitglied ihrer Partei, hat dieses Prinzip der Mandatserhaltung perfektioniert wie keine andere. Seit der deutschen Wiedervereinigung gehört sie der politischen Klasse an, erst im Berliner Abgeordnetenhaus, dann seit 2002 als direkt gewählte Bundestagsabgeordnete. Und wer auch immer in Lichtenberg-Hohenschönhausen in Ostberlin politische Ambitionen hegte, jedenfalls als Linker, kam an „Genossin Gesine“ nicht vorbei.
Die ehemalige Co-Vorsitzende der Linkspartei hat nun erklärt, zur nächsten Bundestagswahl nicht mehr antreten zu wollen. Grund sei das verlorene Friedensprofil ihrer Partei wie auch das Desaster bei der Europawahl. Die Kandidatur der Aktivistin Carola Rackete sei ein großer Fehler gewesen: „Die Partei kannte sie nicht und sie kannte die Partei nicht.“
In Lötzschs Büro und im Linke-Bezirksvorstand warten die Genossen seit Jahren darauf, endlich kandidieren zu dürfen, und dann kommt so jemand von außen. Was für ein Skandal! Gesine Lötzschs später Protest gegen die Parteiführung erinnert an ein frühes Gedicht von Sascha Anderson: „Die Funktionäre sind im Widerstand.“
Vor vielen Jahren sollte ich für die Welt eine Reportage verfassen über Lichtenberg, das Bayern der PDS, wo die Partei dank des alten SED-Milieus mit gefühlter absoluter Mehrheit regierte. Mich interessierte aber auch das Paul- und-Paula-Ufer in Rummelsburg, das Theater an der Parkaue und die Vielzahl der Kneipen im Bezirk, jene letzten Reservate des schlechten Geschmacks mit Holzvertäfelung und Rex Gildo in der Musikbox.
Im Rahmen der Recherche traf ich Gesine Lötzsch, die direkt gewählte Bundestagsabgeordnete. Wir sprachen über dies und jenes, auch über den Tierpark in Lichtenberg, in dem ich mich zu DDR-Zeiten immer etwas freier fühlte, beim Anblick der eingesperrten Geschöpfe. Auf meine Frage, ob es ihr früher ähnlich ging, schloss ich Bekanntschaft mit ihrem „wissenschaftlichen Mitarbeiter“, der mir die Autorisierung der Zitate verweigerte, so dass mir die Welt ein Ausfallhonorar überwies.
Wie in unserem Gespräch damals fehlt auch jetzt in Lötzschs Erklärung jegliche Selbstreflexion, geschweige denn Selbstkritik. Mit keiner Silbe übernimmt Gesine Lötzsch Verantwortung für den Zustand der Linkspartei. Mit ihrer Absage an eine erneute Kandidatur antwortet sie auf eine Frage, die niemand mehr stellt.