Ein neues Narrativ. | 2023: Die schönere Welt, die unser Herz kennt, ist möglich

Übersetzt von Christoph Peterseil, Ingrid Suprayan und Bobby Langer

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Sie liegt viel näher, als man denkt. An der Oberfläche mag es den Anschein haben, die Weltlage würde sich in jeder Hinsicht verschlechtern. Und im Laufe des Jahres 2023 wird es wahrscheinlich so weitergehen. Krieg, Armut, Ungleichheit, ökologischer Kollaps, Kriminalität, Krankheit, Sucht und andere Formen des Elends werden nicht verschwinden, noch nicht, nicht im Außen. Vielleicht werden sie sogar weiter wachsen – gleich einer sich ausdehnenden Seifenblase, deren Haut immer dünner wird. Und dann platzt sie eines Tages, und ein winziger Tropfen Seifenwasser fällt zu Boden. So ein riesiges Gebilde aus so wenig Substanz.

Der Kern der alten Geschichte höhlt sich aus. Selbst die glühendsten Ideologen der Macht hegen insgeheim Zweifel. Die Gefängniswärter sehnen sich nach Befreiung. Die Reichen wünschen sich Entlastung von ihrer Armut. Die Mächtigen bitten um Erlösung von ihrer Ohnmacht. Die Bequemen sabotieren ihre feinsäuberliche Ordnung. Die Kriegerischen und Gewalttätigen beten im Stillen um Erlösung von ihrer Angst. Die Macht, der Reichtum, die Kontrolle und die Bequemlichkeit bergen eine Leere, die unerträglich wird.

Risse durchziehen die tragenden Teile unseres gesellschaftlichen Überbaus. Lang verdrängte Wahrheiten dringen durch die Risse. Widersprüche zerstören die beschädigte Oberfläche. Die Menschen glauben nicht mehr an die Geschichten, die die Welt einst zusammenhielten. Sie machen weiter wie gehabt, durch Höhen und Tiefen, und wiederholen die Gewohnheiten der Vergangenheit, die immer weniger mit ihrem Bewusstsein übereinstimmen.

Ich habe heute Abend mit meinem 18-jährigen Sohn gesprochen. „Meine Freunde glauben nicht mehr so richtig an die Feiertage“, sagte er. „Weihnachten, Erntedank … Niemanden interessiert das.“ Er erlebt den Höhepunkt einer Entwicklung, die ich mein ganzes Leben lang beobachtet habe. Was einmal andächtige Feierlichkeiten voller religiöser Bedeutung waren, verkam zu einer Inszenierung für die Kinder. Die dahinterliegende Mythologie ist zerbröckelt; geblieben sind Zeichentrickfiguren wie der Weihnachtsmann und der Osterhase. Philip fuhr fort: „Das Problem ist, dass nichts anderes an ihre Stelle tritt. Es gibt keine neuen Feiertage.“

Feiertage heißen im Englischen „holidays“, heilige Tage: Es gibt keine heiligen Tage. Was heilig ist, das ist in einem bestimmten Kontext heilig. Das Heilige webt die essenziellen goldenen Fäden durch den Brokat der Gesellschaft, verknüpft ihre Mythen, ihr Selbstverständnis, ihre Kosmologie, ihre Geschichte und ihre Erzählung vom Menschen. Dieser Brokat ist zerrissen. Sogar der Nachfolger der christlichen Weihnachtsfeiertage – das orgiastische Konsumritual mit seiner Kaufwut und den Geschenkebergen auf dem Altar des Weihnachtsbaums – erliegt dem Zynismus und der falschen Fröhlichkeit, die die universelle Erkenntnis überspielen, dass es nicht mehr viel zu bedeuten hat.

Ich heiße den Zynismus willkommen. Es stimmt zwar, dass Zyniker selten aktiv werden, um etwas zu verändern. Allerdings zeigen sie auch keinen starke Willen, die Realität aufrechtzuerhalten, an die sie nicht mehr glauben. Das macht die bestehende Realität fragil wie diese Seifenblase.

Zynismus ist auch ein Schutzschild gegen Enttäuschung und Verrat. Lieber nicht an die Menschheit oder an eine bessere Zukunft glauben, damit diese Hoffnung nicht noch einmal betrogen werden kann. Ganz genau, noch einmal – wir alle wurden mit einer biologisch eingeschriebenen großen Erwartung geboren, die unsere moderne Welt bei Weitem nicht erfüllt. Aber diese Erwartung geht nie ganz verloren. Sie schlummert vielleicht Jahre, Jahrzehnte im Tiefschlaf, aber die Glut bleibt mitten in der kalten Asche zahlloser Enttäuschungen lebendig. Heutzutage kehren viele von uns die Asche sanft zur Seite und pusten auf die Kohle im Inneren. Sie lodert wieder auf. Es ist die Flamme der Hoffnung – nicht der falschen Hoffnung des Wunschdenkens und der Realitätsverweigerung, sondern die wahre Hoffnung, die eine Ahnung einer realistischen Möglichkeit ist, einer Möglichkeit, deren Umsetzung in unseren Händen liegt.

Das meine ich mit dem Satz „Die schönere Welt, die unser Herz kennt, ist möglich“.

Diese Zukunft wächst bereits im hohlen Kern der alten Welt. Es ist eine Zukunft für die ganze Menschheit als Kollektiv, und es ist eine Zukunft für jede von uns als Individuum, und ebenso für jede Ebene der Gesellschaft zwischen und außerhalb dieser beiden Pole: enge Beziehungen, Gemeinschaftsbeziehungen, politische Beziehungen, ökologische Beziehungen. Unsere Arbeit ist es jetzt, einen neuen Brokat zu weben, aber nicht aus neuem Stoff. Wir weben ihn aus den Fetzen des alten. Nichts und niemand wird weggeworfen.

Ein Teil der neuen Geschichte, in die wir eintreten, ist ein neuer und uralter Sinn dafür, was heilig ist; aus diesem Wissen werden sich neue Feiertage entwickeln – neue heilige Tage, neue Traditionen, neue Zeremonien und wahre Feste.

In diesem Übergangsprozess, der 2023 eine neue Phase erreichen wird, gibt es zwei grundlegende Arten von Arbeit, mit denen wir ihm dienen können, und jede von ihnen hat eine innere und eine äußere Ausdrucksform. Die erste Arbeit besteht darin, die Strukturen, Gewohnheiten, Glaubenssätze und Mächte der alten Geschichte (ich nenne sie die Geschichte der Trennung) aufzubrechen. Die zweite Arbeit besteht darin, die Strukturen der neuen Geschichte zu kultivieren, der Geschichte des Interbeing.

In den letzten paar Jahren habe ich mehr im ersten Bereich getan als sonst. Ich hatte das Gefühl, dass das für mich anstand. Dieses Jahr werde ich mich wieder mehr der zweiten Art der Arbeit zuwenden. Ich habe vor, mich aus der Analyse aktueller Geschehnisse zurückzuziehen, auch wenn ich mich manchmal immer noch darauf beziehen werde. Ich werde mich mehr darauf konzentrieren, die Glut der neuen Geschichte anzufachen, die Asche wegzukehren und die Flamme zu hüten. Ich habe nämlich das Gefühl, dass wir auf der Makroebene den Punkt überschritten haben, an dem es kein Zurück mehr gibt. Die Welt – ihre bestimmenden Mythen, Narrative und Strukturen – wird ohne meine Hilfe auseinanderfallen.

Wir treten als Gesellschaft unwiderruflich in das ein, was ich den „Raum zwischen den Geschichten“ nenne. Selbstverständlich haben viele von uns diese Entwicklung schon geahnt, da Sinn und Bedeutung, Geschichte und Struktur in unseren Leben zusammengebrochen sind. Nun treten wir kollektiv in eine beschleunigte Phase ein. Das verlangt von mir, auf einer anderen Ebene zu arbeiten als bisher. Ihr werdet den Unterschied an den Themen bemerken, über die ich schreibe und spreche.

Ich weiß auch, dass es vielen Menschen ähnlich geht wie mir und sie sich dieser Art der Arbeit anschließen werden. (Es gibt natürlich auch einige, die bereits daran gearbeitet haben.) Meine Absicht ist es, Informationen, Geschichten und Verbindungen ans Licht zu bringen, die unsere Präsenz in der Geschichte des Interbeing festigen, sodass wir gemeinsam einen stabilen Kern bilden, um den herum eine schönere Welt entstehen kann. Letztendlich beinhaltet diese Arbeit auch die erste Aufgabe, die ich oben erwähnt habe, die Aufgabe des Kriegers. Warum? Nun, Kausalität funktioniert nicht so, wie es uns erzählt wurde. Ich werde das in diesem Jahr näher ausführen. Uns werden kreative Kräfte zuteil – mit der Liebe in ihrem Zentrum – die viele der alten Diskussionen überflüssig machen. Wie können wir solche Kräfte beherbergen? Auch darüber werde ich in diesem kommenden Jahr schreiben.

Das Jahr 2023 wird ein Jahr der Erleuchtung und der Erleichterung. Wir werden mehr und mehr Leichtigkeit erfahren. Die dunkelste Stunde liegt bereits hinter uns. Indessen bleiben die äußeren Strukturen des Elends in der Gesellschaft und in uns selbst bestehen, aber eine neue Geschichte von uns selbst und von der Welt hat sich in beidem bereits gebildet. Die Hülle des Alten wird trotz all ihrer Risse wahrscheinlich noch für ein paar Jahre intakt bleiben, aber ihr Zerfall ist jetzt unaufhaltbar, wenn wir sie nur nicht weiterhin zusammenzuhalten.

PS: Die schönere Welt, die unser Herz kennt, ist möglich ist der Titel meines Buches, das 2013 erschienen und scheinbar aktueller denn je ist.

Zur englischen Originalversion dieses Essays gelangst du HIER.

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