Gleich auf den ersten Seiten dieses wahnwitzigen Buches ist vom „Schleier der Realität“ die Rede und von den „Löchern, die die Sterne bohren“. Als die Hauptfigur George (wenn man denn bei einem Buch, das alle vertrauten Kategorien zu sprengen scheint, überhaupt von einer „Hauptfigur“ sprechen kann), als dieser George also wenige Seiten später eine alte Villa betritt, glaubt er, in einer Ruine zu sein. Er sieht überall nur verbrannte Bodenbretter, eingestürzte Mauern und Spinnweben, zerbrochene Möbel, kaputte Flaschen. Doch dann verwandeln sich auch jene Reste zuordenbarer Wahrnehmungen in nichts als einen „schwarzen Bereich“, in dem Müll und Teile von Dingen allenfalls erahnbar sind. Und es heißt: „Die Abfallschicht ist so dick, dass ihm vorkommt, er berühre beim Gehen nie den Boden. (. . .) Er fühlt sich in einer anderen Welt der Ausscheidungen und Abfälle, die die reale Welt überlagert.“
In den Imaginationsräumen des peruanischen Schriftstellers Gustavo Faverón Patriau ist die vermeintliche Realität immer nur ein winziger Teil dessen, was die ganze „Welt“ ausmacht. Schon in der bloßen Wahrnehmung der auftauchenden Menschen überlagern sich fortwährend Bilder, Erinnerungen, Erfundenes, Sprachsplitter und die Momente des Unbewussten, jede Beobachtung scheint durchsetzt von Schnitten und Rissen. Nicht von ungefähr hat Patriau, der 1966 in Lima geboren wurde, sich intensiv mit Filmgeschichte beschäftigt und zugleich die großen und kleinen Meteore der Weltliteratur besichtigt. Und obwohl seine Romane voll von eingeschleusten Theorien und Anspielungen auf Bücher und Filme sind, von Borges bis zu David Lynch, entwickeln sie immer wieder eine schier unglaubliche atmosphärische Nähe.
Zeitgeschichtliche Ereignisse und phantastische Aufladungen durchdringen sich
Für „Unten leben“, das im spanischen Original bereits 2018 erschienen ist, hat Patriau diese mahlstromartige Wirkung noch einmal zugespitzt. Und tatsächlich spielen „Ausscheidungen und Abfälle“ darin eine große Rolle. Es ist nicht nur die Vermischung der verschiedenen Bewusstseins- und Dingebenen, die man beim Lesen erlebt oder besser: durchlebt, manchmal geradezu erleidet. Man wird eingesaugt in einen düsteren Kosmos der Metamorphosen, wird in buchstäblich irre Szenerien gesetzt, in denen sich zeitgeschichtliche Ereignisse und phantastische Aufladungen durchdringen – und deren Elemente in anderer Form in neuen Szenerien auftauchen, verschoben, verzerrt. Mehr noch als um die Metapher von der Welt als Labyrinth, die Patriau fast schon exzessiv bedient, geht es um unheimliche Räume wie Keller, Höhlen, Gefängniszellen und Gräber. Man fühlt sich bisweilen an die „Carceri d’invenzione“ Giovanni Battista Piranesis erinnert, jene eingedunkelten Gefängniswelten voller Leitern, Brücken, Treppen, Ketten, Seile und Holzkonstruktionen, deren Modergeruch man beim Betrachten der Bilder förmlich zu riechen meint.
Dabei beginnt das Buch, beinahe klassisch anmutend, wie ein Kriminalroman. Man folgt den „Nachforschungen“ eines Erzählers, der auf zwei Zeitebenen – 1992 und 2015 – sein recherchiertes Material zu George Walker Bennett ausbreitet. „Groß, dicker Bauch, lange Schritte“, heißt es über das Äußere von George, der so etwas wie ein Filmemacher ist, leidenschaftlich Robert Frost liest und Anfang der Neunzigerjahre zur Guerillaorganisation „Sendero Luminoso“ (Leuchtender Pfad) arbeitet. Der Erzähler, der sich als Journalist und späterer Professor für Filmwissenschaft beschreibt und George selbst kennt, zeichnet dessen Wege durch Lima nach, Treffen mit Freunden, Essen und Gespräche, in denen George Handlungen von unbekannten Filmen nacherzählt, die nicht wie Filmhandlungen wirken, sondern „wie mit den Zähnen aus der Haut gezogene Splitter“.
Die eigentlichen Menschenfresser
Und genau so, überraschend, brutal, ist der Mord, in den dieser erste Romanabschnitt mündet. 55 Tage lang hält George den Vater einer Freundin im Keller der eingangs erwähnten alten Villa fest. Während der acht Wochen foltert er ihn, filmt jedes Detail seiner Prozeduren, tötet ihn schließlich, um den Körper auch post mortem noch zu bearbeiten. Ein Buch über einen „Ogro“, wie der Menschenfresser in spanischsprachigen Märchen heißt? Das auch, aber die eigentlichen Menschenfresser siedeln in einer umfassenderen Sphäre. Nicht umsonst endet der erste große Romanteil mit der Erwähnung der „Legion jener Geister, die George in diesen Keller führten und ihn zwangen, sich in ein Monster zu verwandeln“.
Patriau lässt dem ersten drei weitere Großkapitel folgen, die den Auftakt an Länge weit übersteigen und in ganz unterschiedlichen Tönen, Stilarten und Variationen des Stoffes immer neue Sichtweisen der Morde und ihrer Geschichte ausfalten. Einer der wichtigsten Stränge führt weit hinein in die Vergangenheit von Georges Vater, der als CIA-Agent ein Spezialist für Verhörmethoden war und nicht nur Folterknechte in Bolivien, Paraguay und Argentinien schulte, sondern für den paraguayischen Diktator Alfredo Stroessner eigene Foltergefängnisse baute. Im Privaten foltert er seine Frau und den besten Freund seines Sohnes, den er in einem unvergleichlichen Gewaltakt auch tötet.
Anhand des Motivs der Tortur rollt Patriau zahlreiche Querverbindungen zu geflüchteten Nazis auf, die ebenfalls von der CIA in Dienst genommen wurden. All die unbeschreiblichen Grausamkeiten, die im historischen Hintergrund genauso wie auf der Oberfläche der Romangegenwart pulsieren, führen an den Punkt, an dem sich Gut und Böse nicht mehr unterscheiden lassen: „An irgendeinem Ort auf dieser Welt befindet sich der Teufel und an einem anderen Gott, wenn du die Welt zu schnell drehst, siehst du den einen und hältst ihn für den anderen.“
Gefängniswelten von Pinochets Chile
Und sowohl der Teufel als auch Gott können hier ironisch, ja sogar sarkastisch sein. Sei es in der Geschichte eines durchgeknallten Schriftstellers, der 135 Romane schreibt, die nahezu im Monatstakt entstehen. Sei es in der Figur des bolivianischen Dichters Jaime Saenz, der in mehreren Kapiteln auftaucht und als Prophet einmal die halbe Romanhandlung voraussagt. Sei es in der Liebesgeschichte von George und Raymunda, die in die Gefängniswelten von Pinochets Chile führt. Oder sei es in den Erzählfäden zu Georges Lehrerin Laura Trujillo, die das Opfer eines brutalen Altnazis wird und am Ende, wie so viele der Figuren, in der Nervenheilanstalt landet.
Natürlich erinnert schon die Konstruktion des Buches überdeutlich an Roberto Bolaño, vor allem an dessen Großprojekt „2666“. Und natürlich sind viele der selbstreflexiven Volten inzwischen alte postmoderne Hüte. Doch der Rahmen ist nur der Rahmen, heißt es einmal sinngemäß. So folgt man Patriau dabei, wie er auf seine ganz eigene Weise traditionelle Wertsetzungen und Dualismen wie Realität/Fiktion, Original/Fälschung, Unmittelbarkeit/mediale Vermittlung oder auch nur unten/oben auflöst. Man verfängt sich lesend in einem Geflecht aus Prophezeiungen, Verdrehungen, Täuschungen und Verwechslungen und beobachtet Patriau dabei, wie er Direktheit und Komik verbindet. Im Grunde sind alle Figuren vom Wahnsinn betroffen, selbst der Erzähler. Kein Wunder, dass sich George auf die Suche nach dem „Stein des Wahnsinns“ macht, der laut einem mittelalterlichen Aberglauben im Gehirn wächst und mit einem Eingriff entfernt werden kann.
Patriaus wichtigstes Mittel aber ist seine Sprache. Sätze, die nichts Verschachteltes haben und doch in ihren Bildern, in ihren Rhythmen, im plötzlichen Wechsel der Bezugsebenen (manchmal innerhalb eines Halbsatzes) in tiefste Verschlingungen und semantische Abgründe führen. Obwohl gleichzeitig alles miteinander verzahnt ist. Man kann den Übersetzer Manfred Gmeiner nur für das bewundern, was er im Deutschen daraus gemacht hat. Es mag ein simpler „Kackfleck an der Windschutzscheibe“ sein, „der das Sternenlicht verzerrt“. Oder jenes „System von Gräbern an der Decke einer Höhle, eine Art fester Himmel, an dem die Särge haften wie Kieselsteine“ – vielleicht ein Bild für das Buch selbst. Dieser Roman ist ein Ereignis, aber eines von der dunkelsten Sorte. Ein Buch, in dem kein Stein auf dem anderen bleibt und die Bäume im Wind rückwärts gehen können.
Gustavo Faverón Patriau: „Unten leben“. Roman. Aus dem Spanischen von Manfred Gmeiner. Literaturverlag Droschl, Graz 2025. 600 S., geb., 34,– €.
Source: faz.net