Dokfilm | Dokumentation „Das Deutsche Volk“: Wer gehört dazu – und wer nicht?

Der Dokumentarfilm „Das deutsche Volk“ von Marcin Wierzchowski begleitet Angehörige der Opfer von Hanau. Die Wunden sitzen weiterhin tief. Die Aufarbeitung bis heute in vielen Bereichen respektlos


Emis Gürbüz in dem Film „Das Deutsche Volk“. Die Mutter verlor ihren Sohn Sedat Gürbüz bei dem Hanauer Attentat 2020.

Foto: Rise And Shine Cinema



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Am 18. Oktober 1896 wurde auf dem Marktplatz der damals noch preußischen Stadt Hanau feierlich ein sogenanntes Nationaldenkmal für die in der Stadt geborenen Brüder Jacob und Wilhelm Grimm enthüllt: zwei damals gerade mal zwanzig Jahre zuvor verstorbene Sprach- und Kulturforscher, die auch für eine deutsche Demokratie gekämpft hatten. Stifterin des Denkmals laut Sockelinschrift „Das Deutsche Volk“.

Über einhundert Jahre später geht es nun darum, dort einen weiteren Gedenkort einzurichten. Am 19. Februar 2020 ermordete ein rechtsextremer Rassist insgesamt neun junge Menschen in mehreren Lokalen der Stadt. Seitdem steht der Stadtname Hanau auch für die dunkelste Seite der deutschen Geschichte.

Doch nach dem Attentat gibt es auch eine von Angehörigen der Opfer und Überlebenden getragene aktivistische Gegenbewegung, die unter dem Slogan „#saytheirnames“ vehement Verantwortung einklagt: „Wir fordern Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen!“, steht auf ihrem Banner, daneben Tafeln mit den Porträts der neun Ermordeten: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili-Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.

Die „Initiative 19.Februar“ steht im Zentrum des Films von Marcin Wierzchowski, der einige der Beteiligten und Opfer-Angehörigen vier Jahre lang begleitet hat: die Eltern des ermordeten Sedat Gürbüz, die sich in der ersten Trauer an materiellen Hinterlassenschaften ihres Sohnes festhalten. Niculescu Păun, dessen Sohn Vili-Viorel den Täter mutig mit seinem Auto verfolgt hatte, bevor er von diesem erschossen wurde. Oder Cetin Gültekin, der den sich in umständlichem Juristendeutsch windenden Lokalpolitikern bei einer Bürgerversammlung die scheinbar einfache Frage stellt: „Warum ist mein Bruder tot?“

Laue Ergebnisse

Zur Trauer kommen Wut und Verbitterung über das Verhalten von Polizei, Politik und Behörden, die der Film in Statements festhält: Die ins Leere gelaufenen Notrufe. Der respektlose Umgang mit Toten, Verletzten und Angehörigen. Der versperrte Notausgang des Tatorts Arena-Bar. Die Erkenntnis, dass unter den eingesetzten Polizisten notorische Rechtsextreme waren und der durch extremistische Strafanzeigen auffällige Täter seine Waffen behalten durfte. Ein CDU-Politiker, der schon bald nach der Tat davon redet, dass Hanau „zurück zur Normalität kommen“ müsse. Und eine Justiz, die wegen des Todes des vermeintlichen Einzeltäters jegliche Aufklärungsarbeit einstellt und sich blind für individuelles Leid wie rassistische Strukturen zeigt.

Auch ein Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag kam erst durch Druck der Initiative zustande. Aber er wird von Niculescu Păun angesichts der lauen Ergebnisse – so ernüchtert wie realitätsnah – als bloßes „Spiel“ deklariert. In seiner rumänischen Heimatgemeinde gelingt es ihm jedoch, den Bürgermeister von der Benennung einer Straße nach seinem Sohn zu überzeugen.

Der in Schwarz-Weiß gehaltene Film beobachtet und zeigt trotz seiner klaren Positionierung auf der Opferseite inhaltlich ein breites und Ambivalenzen eröffnendes Spektrum von persönlicher Bewegtheit und politischen Auftritten. Dazu gehört auch das deutlich spürbare Unbehagen des Hanauer Bürgermeisters, als die Hoffnung auf einen Standort der geplanten Gedenkstätte neben den Grimm-Brüdern auf dem Marktplatz ganz banal am Mehrheitswillen der städtischen Wählerschaft zu scheitern droht – also genau dem titelgebenden „Deutschen Volk“ (oder dem Hanauer Teil davon).

So liefert Marcin Wierzchowskis sehenswerter Film nicht nur ein aktuelles und kraftvolles Statement gegen die xenophoben Ausfälle (auch derzeitiger) deutscher Politik, sondern auch einen zeitübergreifenden Kommentar zu den manchmal schmerzlichen Realitäten einer repräsentativen Demokratie.

Das deutsche Volk Marcin Wierzchowski Deutschland 2025, 132 Minuten

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