Divers | Roman „Odenwald“ von Thomas Meinecke: DJ Queerness

Thomas Meinecke zeigt die Gender Studies als Lebenspraxis: verspielt, anspruchsvoll und zugleich höchst vergnüglich


Autor Thomas Meinecke

Foto: Michaela Melián/Suhrkamp Verlag


Alles graue Theorie? Wer sich heute für Diversität engagiert, muss nicht zwangsläufig Judith Butlers Klassiker Das Unbehagen der Geschlechter kennen. Oder doch? Kann man Feminist:in sein, ohne die Grundlagen des (Post-)Feminismus studiert zu haben?

Dass Idee und Praxis aufs Engste miteinander verknüpft sind, bildet jedenfalls die Kernidee im schriftstellerischen Schaffen Thomas Meineckes. Bereits im Studium von den Gender Studies fasziniert, stellen seine Romane spielerische Versuchsanordnungen für eine Welt dar, in der liberale Geschlechterverhältnisse zum normalsten überhaupt gehören. In sie fließt alles ein, was der 1955 in Hamburg geborene Pop-Autor an Beiträgen aus dem Dunstkreis des Poststrukturalismus liest. Er zitiert und montiert, scratcht lose Textpassagen wie Schallplatten. Ähnlich einem DJ (als solcher er übrigens auch immer wieder in Erscheinung tritt) arbeitet er mit Loops, legt Diskurse wie Melodien übereinander.

So nun auch in seinem neuen Roman Odenwald, in dem etwa Kordula die Androgynität ihres Freundes Cord auf Jugendbildern bewundert. An einer anderen Stelle befassen sich die beiden hingegen mit der Frage, warum der mittelalterliche Dichter Konrad von Würzburg Achill als verkleidete Frau präsentiert. Oder: es geht um das einst im Odenwald mächtige Adelsgeschlecht zu Leiningen. Um ihr Jagdrevier zu vergrößern, ließ es im 19. Jahrhundert ganze Dörfer räumen, was eine regelrechte Auswanderungswelle nach Texas lostrat. Dadurch entstanden Siedlungen mit Namen wie New Braunfels oder Bettina.

Was das alles soll? Letztlich geht es Meinecke um die Einsicht, dass es keine Natur der Sache gibt. Alles, wirklich das gesamte Dasein folgt dem Prinzip der Bewegung. So wie sich Geschlechtsbeschreibungen außerhalb einer strengen heteronormativen Matrix ändern können, so wandeln sich nationale und kulturelle Zugehörigkeiten. Aus Odenwäldern werden waschechte Amerikaner.

Anhand dieser und weiterer exemplarischer Metamorphosen problematisiert Thomas Meinecke die aktuell von Rechtspopulisten verfochtene Behauptung, es gäbe so etwas wie eine völkische, unverrückbare Identität. Wo jene mit einfachen Antworten kommen, tritt der Autor mit einem Bollwerk an Argumentationen auf. Zwischen den einzelnen Szenen der Figuren finden sich Abhandlungen über Arnold Schönberg und John Cage, Exegesen von queeren Texten eines Balzac und eben Adorno, Adorno, Adorno – ziemlich überfrachtet ist das, aber dadurch eine herrliche Feier des Intellekts. Man kann und muss nicht alles verstehen. Viel entscheidender mutet an, was der Text mit uns macht. Ganz im Sinne des Vordenkers der Frankfurter Schule regt er uns zum kritischen Denken an. Er motiviert uns dazu, im Wust der Zitate Zusammenhänge zu unserem eigenen Dasein zu erkennen, ja zu deuten statt bloß nachzuplappern.

Dass das ambitionierte Projekt gelingt, verdankt sich nicht zuletzt seiner Komik. Deutlich wird dabei: Eine plurale Gesellschaft entspricht eben keinem Elitenprojekt, sondern findet ihren Ausdruck in Kultur und Wissenschaft sowie in all den absurden Facetten des Alltags gleichermaßen. Theorie wird hierbei Teil einer kuriosen Ästhetik, die durchaus einzigartig in der deutschsprachigen Literatur ist.

Odenwald Thomas Meinecke Suhrkamp 2024, 440 S., 26 €

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