Bürokratie zu bekämpfen, lässt sich leicht fordern. Es tatsächlich zu tun, ist ungleich schwerer. Das liegt schon an der Natur der Sache, für die Bill Anderson, Vorstandsvorsitzender des Pharmakonzerns Bayer, eine griffige Formel hat: „Niemand steht morgens auf und sagt: Heute schaffe ich Bürokratie“, so formuliert er es auf dem „Berlin Global Dialog“ am Donnerstag in Berlin. „Bürokratie entsteht, wenn Menschen unabsichtlich Dinge schaffen, die alles ausbremsen.“
Ihm gegenüber sitzen Valdis Dombrovskis, europäischer Wirtschaftskommissar, und Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) und können nicht wirklich widersprechen. Reiche hat selbst erst vor Kurzem die Seiten gewechselt und beim Sprung von der Wirtschaft in die Politik erst einmal eine Entschleunigung erlebt: Keine digitalen Anwendungen mehr, sondern: „zurück zur Zettelwirtschaft“, berichtet sie.
Triviale EU-Debatten behindern Forschritt
Immerhin hat der Wunsch, Bürokratie im großen Stil abzuschaffen, inzwischen nicht nur die Bundesregierung, sondern auch Europa erfasst. Sechs Omnibus-Verfahren habe die EU in diesem Jahr schon in Gang gesetzt, um die wachsenden bürokratischen Lasten einzuhegen, so betont Dombrovskis. Aber deutlich wird ebenso: Es ist nur ein Anfang. Auf EU-Ebene entstünden jedes Jahr 150 Milliarden Euro an Bürokratiekosten, sagt Reiche. Allein in Deutschland seien es 65 Milliarden Euro.
Zugleich verhakt sich die EU in ebenso trivialen wie hinderlichen Debatten, das geplante Verbot vegetarischer Wurst gehöre dazu, so wettert Anderson. Dies seien die „lustigen Fälle“, die es in die Zeitung schafften. Zugleich gebe es Hunderte Fälle, die in aller Stille Arbeitsplätze zerstörten und Fortschritt behinderten. „Wir können uns den Erfolg nicht herbeiregulieren.“ Nicht nur die Politik sei zu kritisieren, so betonte der amerikanische Manager, der in seinem Konzern schon vor zwei Jahren etliche Hierarchiestufen abgebaut hat. Mit Verordnungen auf gesetzgeberischer Ebene könnten in Unternehmen die Powerpoint-Präsentationen mithalten, kritisiert er. Auch das sei überflüssige Bürokratie.
Unternehmer besorgt geopolitische Lage
Die hat Anderson auch seinem Unternehmen verschrieben: „Dynamic Shared Ownership“ nennt er den Ansatz, der vor allem eine Verlagerung von Entscheidungen nach sich zieht. 95 Prozent der Entscheidungen würden inzwischen auf unteren Ebenen entschieden, berichtet der Manager, die Führungsebene sei nur noch dafür da, die Organisation dabei zu unterstützen. „Die Architektur kommt von oben, die Richtung gibt die untere Ebene vor“, so fasst Anderson die Strategie zusammen.
Wandel mehr akzeptieren
Noch grundsätzlicher wird Gerald Braunberger, Herausgeber dieser Zeitung. Er beobachtet ein „Mindset-Problem“: Deutschland verfüge über finanzielle und intellektuelle Ressourcen, aber es fehle die Denkweise, die akzeptiere, dass vieles geändert werden muss, um alles zu bewahren. Die aktuell wohl größte Herausforderung beschreibt er so: „Deutschland war lange Zeit zu erfolgreich – und das erschwert Veränderungen.“ Die Politik ziele häufig nur noch darauf, das schon Geschaffene zu verteidigen. Doch Wandel bedeutet nicht nur Risiken, sondern auch Chancen.
Zu oft hielten sich Politik und Gesellschaft mit Nebensächlichkeiten auf: „Wir brauchen eine offene gesellschaftliche Debatte über den Wandel. Die wird aber nicht geführt.“ Stattdessen gäben Politiker unrealistische Versprechen ab. Da kann Anderson nur beipflichten: Aufgabe von Führungspersönlichkeiten in allen Bereichen sei es, Ziele nur auf realistischer Grundlage auszugeben.
Probleme bereitete zudem eine immer größer werdende Ignoranz in der Politik, beklagte Braunberger. Mit der Wirtschaft sei es lange Zeit bergauf gegangen, deshalb habe sich niemand darum gekümmert. Ergebnis sei nun ein breites Unwissen über Wirtschaft und Unternehmensentwicklung in Parlamenten. Politiker kümmerten sich zu oft um andere Dinge und hätten oft keinen beruflichen Hintergrund in der Wirtschaft. Wie wichtig Wandel ist, werde deshalb nicht erkannt.
Beim „Berlin Global Dialog“ hingegen herrscht kein Mangel an Aufbruchstimmung: Ein Erlebnis aus San Francisco nimmt Anderson zum Anlass, die Hauptstadt herauszufordern. Schon seit Längerem gebe es in der kalifornischen Metropole selbstfahrende Autos. Deutschland dagegen biete diese Möglichkeit nicht – obwohl es in der Automobiltechnologie noch immer führend sei, sagt Anderson. „Lasst uns einen Grund finden, warum autonomes Fahren möglich ist und nicht eine Millionen Gründe dagegen.“ Spätestens zur nächsten Veranstaltung sollten auf den Berliner Straßen autonome Fahrzeuge zu sehen sein, fordert er. „Jetzt haben wir zwölf Monate, um das umzusetzen.“