Diskurs | Hexenjagd oder moralische Panik? Adrian Daub glaubt nicht an eine „Cancel Culture“

Alle reden von „Cancel Culture“, aber gibt es sie wirklich? Denn: Keiner kann sie definieren. Möglicherweise ist sie nur ein altes Gespenst mit vielen Verwandten. Der Literaturwissenschaftler Adrian Daub klärt auf

Unter den vielzitierten Gespenstern, die in der Kultur umgehen, ist Cancel Culture nicht mehr das jüngste, aber eines der hartnäckigsten. Wobei es sich dabei vielleicht eher um ein Gerücht handelt, behauptet Adrian Daub in seinem neuen Buch Cancel Culture Transfer. Ein Gerücht, das besagt, missliebige Meinungen dürften nicht mehr in der Öffentlichkeit geäußert werden, Intellektuelle, Künstler*innen, Politiker*innen, die vermeintliche Sprachregelungen missachteten, würden mundtot gemacht. Meinungskorridor, Gesinnungspolizei, man kennt es. Die Liste der Aufreger und Artikel darüber ist lang, Welt-Chef Ulf Poschardt etwa schreibt regelmäßig die Bedrohung der Freiheit durch eine außer Kontrolle geratene Moral herbei, zahlreiche Bücher widmen sich dem Thema.

Der in Köln geborene und in Stanford lehrende Literaturwissenschaftler Adrian Daub geht einem Verdacht nach: Beim Diskurs um Cancel Culture handelt es sich nicht um eine kritische Analyse der Debattenkultur, sondern um eine moralische Panik, wie es im Untertitel heißt; schon dieser Begriff evoziert das sozialkonservative Klima der Reagan-Jahre. Vielleicht ist die alte Marx-Metapher vom Gespenst nicht so schief, denn die Cancel-Furcht ist ein Wiedergänger, ein Geist älterer Debatten, ein neues Wort für einen alten Sachverhalt.

Ein Ahne, so Daub, ist die Debatte um „politische Korrektheit“, ein Begriff, der vor dem Zweiten Weltkrieg selbstironisch von US-Linken benutzt wurde, und wer sich auf die Suche nach der Herkunft von Cancel Culture begibt, stellt fest, dass auch dieser Begriff einmal ironisch gebraucht wurde. Jene, die cancelten, waren User aus der Black-Twitter-Bubble, allerdings ohne die Macht, mächtigen Celebrities die Plattform zu entziehen.

Als Literaturwissenschaftler interessiert sich Daub für die Genrekonvention seines Gegenstands. Will man das alles verstehen, schreibt er, darf man nicht mit Kanye West, Donald Trump oder Harvey Weinstein anfangen. Die Narrative sind älter, die Strategien haben eine lange Tradition, und sie drehen sich, so Daub, um einen besonderen Ort – den Universitätscampus. Denn hier treffen verschrobene Gestalten aufeinander, zumindest in der Außenwahrnehmung, jene, die man wohlwollend als weltfremd bezeichnet, und solche, die man üblicherweise von rechts mit Misstrauen betrachtet. Und diese Imaginationen klingen nicht nur literarisch, viele kommen wirklich aus Romanen. Der Campusroman hat in den USA seit den 1950ern Tradition, denn die Universität ist ein Mikrokosmos, der Metaphern liefert: für das Altern und Erwachsenwerden. Sie ist der Ort, wo Kinder ihrem Elternhaus entwachsen und den Eltern allmählich fremd werden.

Cancel Culture in Deutschland via Flüsterpost

William F. Buckley, eine prägende Figur für den amerikanischen Konservatismus in der zweiten Jahrhunderthälfte, veröffentlichte – genau als sich der Campusroman als Genre etablierte – sein God and Man at Yale. Es ist eine Art Abrechnung mit dem Bildungssystem, der Autor geht darin impressionistisch und aufgrund von Anekdoten dem dort grassierenden Atheismus und Kommunismus nach. Wenige Jahre später, Mitte der 60er, als Ronald Reagan für das Amt des Gouverneurs von Kalifornien kandidiert, zeichnet dieser ein wirkmächtiges Bild der Zustände an den US-Unis. Freizügige Sexualität, Drogen und Rockmusik gefährdeten die Moral des Landes. Mittel sollten gekürzt werden. Als Reagan später Präsident war, änderte sich das Setting der Geschichte nur leicht. Es gerieten neuere progressive Bewegungen ins Visier der konservativen Kulturkämpfer*innen: Feminismus und Antirassismus, zum Beispiel. Die Rhetorik ist wieder eine der Entrüstung: Nicht mit meinen Steuergeldern, forderten die Konservativen. Dabei war das ja gar nicht nötig, denn unter Reagans Wirtschaftspolitik wurden ohnehin allerorten staatliche Förderungen gestrichen. Zu jener Zeit wurde das Gespenst der Political Correctness geboren.

Mit ein bisschen Verspätung schaffte es der Begriff über den Atlantik. Der Kulturkritiker Diedrich Diederichsen umreißt den Kern dieser Panik Mitte der 90er so: Wann immer politische Bedenken auf ästhetische Produktion angewandt werden, witterten manche gleich schon Zensur. Daub beobachtet, dass die Mahnenden vor politischer Korrektheit eine neue Rolle finden, nämlich als Kämpfer*innen für Freiheit der Kunst und des Denkens. Konservative positionieren sich als Liberale, wie im Fall von Dinesh D’Souza, Berater von Reagan, der nicht müde wurde, seine liberalen Wurzeln zu betonen, obwohl seine Karriere größtenteils an konservative Einrichtungen gebunden war.

All das wird in Deutschland verzögert rezipiert. Flüsterpost, nennt Daub das, und eigentlich ist auch nur so zu erklären, dass der Bundespräsident a. D. Joachim Gauck in einem Buch von 2019 Philip Roths Roman Der menschliche Makel als Beleg für die Zustände an amerikanischen Universitäten anführen kann. Anekdoten werden zum Beleg für eine Kultur der Hexenjagd, und zur Not tut es auch ein fiktionales Werk.

Die Rede von Cancel Culture ist in Deutschland immer auch an die sogenannten „amerikanischen Verhältnisse“ geknüpft, die stets drohen, nach Europa zu gelangen. Ein latenter Antiamerikanismus trifft auf altbekannte moralische Panik und verbreitet sich wie ein Meme. Dabei ist die Panik und das beständige Mahnen nicht die Verteidigung der liberalen Demokratie gegen eine übergriffige Campuskultur. Sie ist gerade ein Backlash dagegen, und sie erfüllt viele Funktionen. In einer Medienlandschaft nach der Digitalisierung erschließt sie eine neue Leser*innenschaft, sicher. Die Panik eint auch verschiedene politische Strömungen: In den USA die Konservativen, in Europa die Liberalen, die ihren eigenen Universalismus bedroht sehen. Nur neu, das ist die Panik vor der Cancel Culture ganz sicher nicht.

Cancel Culture Transfer: Wie eine moralische Panik die Welt erfasst Adrian Daub Suhrkamp 2022, 371 S., 20 € (Leseprobe)

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