Dirigent Lars Ulrik Mortensen: Wie man Musik sprechfähig macht

Lars Ulrik Mortensen ist heute einer der bedeutendsten Dirigenten der Welt für die Musik des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. Nach dem Tod von Nikolaus Harnoncourt kann man von Mortensen und von René Jacobs am ehesten lernen, was historisch informiertes Musizieren bedeuten sollte: leidenschaftliche Beredsamkeit, die auf verantwortungsvollem Quellenstudium beruht, mit Spieltechniken und klanglichen Eigenheiten alter Instrumente vertraut und in genauer Kenntnis von kompositorischer Satztechnik und der Figurenlehre musikalischer Rhetorik verankert ist.

Wer sich mit Mortensen unterhält, trifft auf einen Mann klarer Begriffe bei hohem Sprechtempo und lebhaftester Gestik. Er kann einem an der Partitur erklären, warum das Air aus der dritten Orchestersuite von Johann Sebastian Bach von unübertrefflicher Schönheit ist: weil Bach die Melodie, die Händel schlichter gehalten hätte, mit Durchgangs- und Wechselnoten anreichert, die ihrem Schweben einen schmerzlichen Zug geben; weil Bach über dem fallenden Bass, der sich so auch bei Corelli finden könnte, mit den Mittelstimmen Harmonien erzeugt, die einen Silberschimmer unfassbarer Gnade über ihn legen. So wird dieses Air, wie Mortensen sagt, ein Stück Schönheit, das die eigene Vergänglichkeit selbstreflexiv erfasst. Diese tiefsinnige, ernsthafte Nostalgie mache dessen Größe aus.

Mortensen, im dänischen Esbjerg geboren, ist ein exzellenter Cembalist und Organist, dessen artikulatorische Schärfe vor Elektrizität knistert. Bei der von schroffen Gesten zerfetzten Musik des italienischen Frühbarock und der drastischen Rhetorik der Musik des Ostseeraums im siebzehnten Jahrhundert ist der Feuerkopf besonders in seinem Element.

Auch als Dirigent seines Ensembles Concerto Copenhagen, das er an die Weltspitze geführt hat, leistet er Mustergültiges in der theologisch grundierten Sprechfähigkeit des Klanges, etwa wenn er in Dietrich Buxtehudes Kantate „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ mit den Trompeten des Anfangs die Attribute des Herrschers und Richters Christus aufruft, dann die Verheißung singen lässt wie die feste Zusage eines Fürsten, worauf die Streicher mit bebendem Bogenvibrato die Sterbensnot des Menschen und das Geheimnis des Todes malen, das sich Wort und Bild entzieht.

Aber auch als Dirigent der Opern Monteverdis, Vivaldis, Händels oder Mozarts schafft es Mortensen immer wieder, den Text rein klanglich zu kommentieren, sodass Worte als falsche Fährten und täuschende Fassaden bloßgestellt werden. In Mortensens Musizieren schlägt Detailanalyse in packend erlebte, manchmal durchlittene Erkenntnis um. Diesen Sonntag wird unser mitreißender Zeitgenosse siebzig Jahre alt.

Source: faz.net