Wie Washington quasi per Präsidenten-Dekret Europa in die Mangel nimmt, bestätigt das Ende transatlantischer Verlässlichkeit. Dass die USA kein Alliierter mehr sein wollen, kündigt sich aber schon seit Obama an. Wie kann die EU reagieren?
Unter Trump steht der Nordatlantikpakt vor einer Zeitenwende
Foto: John Thys/AFP/Getty Images
„Zeitenwende“ war das Wort des Jahres 2022. Es bezeichnet das Ende eines Zeitalters und den Beginn eines neuen. Die erste „Zeitenwende“ erkannte der frühere Kanzler Olaf Scholz (SPD) nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dieser war in der Tat ein Kipppunkt, der die europäische Friedensordnung erschütterte. Er kam jedoch alles andere als aus dem Nichts. Ihm ging eine Erweiterungspolitik der NATO voraus, vor der erfahrene Realisten wie Henry Kissinger oder John Mearsheimer eindringlich gewarnt hatten.
Nach fast vier Jahren Krieg und einigen bislang ergebnislosen US-Friedensplänen ist zumindest ein Anfang gemacht, das Kämpfen zu beenden. Sollte es gelingen, diesen Prozess zu verstetigen – wonach es angesichts russischer und europäischer Unversöhnlichkeit bislang nicht aussieht –, stellt sich früher oder später die Frage, wie denn die neue europäische Friedensordnung aussehen soll. Europa hat darauf bislang keine Antwort, obwohl es direkt betroffen ist. Es ist orientierungslos und glänzt durch Ideenlosigkeit, durch fehlende Initiative und Irrelevanz.
Der amerikanische Rückzug deutete sich schon mit Barack Obama an
Das Verhängnis dieser Mängel wird verstärkt durch eine zweite Zeitenwende, deren Dramatik der ersten in nichts nachsteht: das Ende des transatlantischen Bündnisses, wie wir es kannten, und die Hinwendung der USA zu einer Politik der exklusiven Einflusszonen mit einem klaren Dominanz-Anspruch für die „westliche Hemisphäre“. Auch diese Entwicklung kommt nur scheinbar abrupt. Anzeichen des Rückzugs gab es bereits seit Barack Obamas „Pivot to Asia“-Strategie von 2009.
Allerdings geht die von der Trump-Administration anvisierte Neuausrichtung der US-Außen- und Sicherheitspolitik, wie sie nun in der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie verschriftlicht worden ist, viel weiter. Sie kommt einem weiteren Kipppunkt gleich, der radikale Auswirkungen auf Deutschland und Europa haben wird.
Einerseits gibt sie sich als Friedenspolitik, die auf einer Politik der Stärke basiert, strikt auf die Wahrung nationaler Eigeninteressen ausgerichtet ist, ideologische Bindungen ablehnt und die Souveränität anderer Staaten respektiert. Andererseits maßt sie sich an, ihr nationalistisches und kulturkämpferisches Weltbild in Europa und der „demokratischen Welt“ durchzusetzen.
Der Ansatz, „zielgerichtete Partnerschaften“ anzustreben, die faire Lastenteilung und ökonomische Anreize wie etwa Zölle, Technologietransfer oder die Lieferung von Rüstungsgütern verbinden und für Staaten in Aussicht zu stellen, die mehr Verantwortung für ihre regionale Sicherheit übernehmen, dürfte erhebliches Spaltungspotenzial für Europa haben. Dabei will Washington auf regionale Champions setzen, die eine Führungsaufgabe bei der Verfolgung eigener wie von US-Interessen übernehmen.
Washington sieht sich in der Rolle eines Vermittlers, nicht Alliierten
Noch bleibt offen, wen man dafür konkret „rekrutieren“ will, doch wird kein Zweifel daran gelassen, große Hoffnungen auf patriotische Parteien und Strömungen zu setzen. Nähe zum Gedankengut etwa der AfD wird deutlich bei der Analyse, Europa befinde sich auf dem absteigenden Ast und laufe Gefahr, kulturell ausgelöscht zu werden. Gleiches gilt für die Einschätzung der EU, die angeblich eine Gefahr für Europa darstellt, weil sie politische Freiheit und Souveränität ebenso unterminiere wie nationale Souveränität und Selbstvertrauen.
Dieses Dilemma zeige sich am stärksten im Verhältnis zu Russland. Obwohl Europa über mehr Hard Power verfüge, müssten die USA dafür sorgen, dass die strategische Stabilität auf der eurasischen Landmasse wiederhergestellt und das Kriegsrisiko abgeschwächt werde. Washington sieht sich also in der Rolle eines Vermittlers und nicht eines Alliierten. Die durchgesickerte Aufforderung, bereits 2027 die konventionelle Verteidigung innerhalb der NATO selbst zu übernehmen (mit Deutschland als neuem SACEUR/Supreme Allied Commander Europe), belegt die Ernsthaftigkeit der zweiten Zeitwende.
Vieles von dem, was in der Sicherheitsstrategie niedergeschrieben ist, hat sich lange angekündigt. Angefangen von der Infragestellung der NATO und der Beistandszusage über den massiven Druck, die Verteidigungsausgaben, drastisch zu erhöhen, bis zu den kulturkämpferischen Tönen von Vizepräsident JD Vance und dem Verhängen hoher Zölle. Jetzt stellt Washington das Europa der EU vor die Alternative, entweder in einer „amerikanisch geführten Welt souveräner Staaten“ zu leben oder in einer von China dominierten. Europa sollte es als Drohung verstehen, wenn die Sicherheitsstrategie betont, die USA könnten es sich nicht leisten, Europa abzuschreiben, weil sie dadurch ihre eigenen Ziele konterkarieren würden.
Europas Antwort auf die neue Monroe-Doktrin der USA?
Müssen „die Europäer“ also folgen? Das hieße nicht nur, universelle Werte aufzugeben, sondern mit der EU auch einen zentralen Pfeiler deutscher Friedens-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik. Deutschland würde in die Rolle eines Hilfssheriffs gedrängt, unheilvolle nationalistische Ideologien würden gestärkt. Das mögen rechtsnationale wie konservative Kreise in Deutschland und darüber hinaus begrüßen. Gerade darin liegt die Gefahr, besonders dann, wenn sie von Washington aus aktiv unterstützt werden.
Die andere Möglichkeit wäre, die Dinge einfach laufen zu lassen. Das gliche aber einer Vogel-Strauß-Politik, die zutiefst verantwortungslos wäre. So bleibt nur die Option, die europäischen Reihen zu schließen und dieser neuen Version der amerikanischen Monroe-Doktrin eine europäische Aufklärung und Selbstbehauptung entgegenzusetzen. Dafür müsste die Bundesregierung allerdings das Dogma aufgeben, sich einer kollektiven europäischen Finanzpolitik zu widersetzen, und in ihrer Russland-Politik eigene, neue Wege gehen.