Die antisemitische Welle in Deutschland ist nicht nur eine Gefahr für Juden, sondern für die Demokratie. Deshalb war die bewegende Rede des Bundeskanzlers zur Wiedereröffnung der Reichenbach-Synagoge in München so wichtig, schreibt unsere Gastautorin, die deutsch-israelische Politikberaterin Melody Sucharewicz.
Es war einer dieser menschlichen Momente in der Politik, der lange Zeit nachwirkt und unvergesslich bleibt. Wie der Kniefall von Willy Brandt in Warschau und Helmut Kohls Handhalten mit François Mitterrand in Verdun. Das Ringen mit den Tränen des Bundeskanzlers bei seiner Rede zur Wiedereröffnung der Reichenbach-Synagoge in München.
Friedrich Merz sprach an einem Ort, den ich als Kind zu hohen Feiertagen mit meiner Familie besuchte. Ein Ort, an dem ich verstand, lange bevor ich lesen und schreiben konnte, dass uns Juden etwas Schreckliches widerfahren ist in Deutschland. Und dass, obwohl diese Ereignisse in der Vergangenheit liegen, wir immer noch Schutz brauchen. Das klang unlogisch, aber zumindest verstand ich, warum die innen so schöne und gemütliche Synagoge hinter massiven Marmorstein-Mauern versteckt war – unsichtbar von der Reichenbachstraße.
Wie die meisten deutschen Juden meiner Generation wuchs ich als Enkelin Holocaust-Überlebender aus Ost-Europa auf. Das Trauma war frisch, der kollektive Schmerz Teil unserer Identität. Diesen Schmerz teilte der Bundeskanzler am Montag mit uns, in einem bewegenden Moment der Nähe und der Menschlichkeit.
Es war ein Moment, der für viele die Vergangenheit mit der Gegenwart verknüpft: den eliminatorischen Hass der Nazis mit dem eliminatorischen Hass der Hamas am 7. Oktober. Denn die Geschichten der unmenschlichen Grausamkeit der Nazis, die unsere Großeltern mit uns teilten, gleichen den Bildern des Horrors, die uns am 7. Oktober aus dem Süden Israels erreichten. Das macht die heutige Situation so unerträglich für Juden in aller Welt. Vor allem in Deutschland. Noch am 7. Oktober wurde die Nachricht von verbrannten jüdischen Babys von Islamisten auf Berlins Straßen gefeiert.
Seither erleben wir, wie der propalästinensische Mob Poster von Geiseln zerreißt, jüdische Denkmäler mit Hamas-Dreiecken beschmiert, Juden verbal und physisch attackiert und die eliminatorischen Gelüste der Hamas in Hörsälen deutscher Universitäten herumgrölt – lange bevor Israel begann, sich gegen die Massaker der Hamas und den Raketenterror zu verteidigen. Längst war klar, dass die Hamas Tod und Terror will, nicht Freiheit und Leben für die Palästinenser.
Die antisemitische Welle, die Deutschlands Straßen und soziale Medien überrollt, ist längst kein Antisemitismus-Problem mehr. Sie ist ein Demokratie-Problem. Und das betrifft die gesamte Gesellschaft. Was auf propalästinensischen Demos gegrölt und gefordert wird, paraphrasiert die Charta der Hamas: Die Auslöschung des jüdischen Staates ist nur der Anfang. Die Wunschwelt der Hamas ist die Wunschwelt vom IS und von Al-Qaida: eine Welt, in der die Scharia herrscht – anstelle europäischer Demokratien. Ein Kalifat, in dem Frauen gesteinigt, Homosexuelle erhängt, Christen verfolgt und Dissidenten von Dächern geworfen werden.
Hamas-nahe Verbände in Deutschland haben angekündigt, dass Männer und Frauen, die zu propalästinensischen Aufmärschen befördert werden, in den Bussen getrennt voneinander sitzen sollen. Bereits heute gibt es Fälle, in denen Entscheidungen von Scharia-Richtern von deutschen Richtern übernommen werden. Bereits heute ist die Bedrohung durch den radikalen Mob so groß, dass das Berliner Konzert des jüdischen Dirigenten Shani Lahav, der in Belgien ausgeladen wurde, wie ein Staatsbesuch von Donald Trump geschützt werden musste.
Nahost-Politik ist längst kein exklusiv außenpolitisches Thema mehr. Sie ist nolens volens ein gesellschaftspolitisches Barometer. Stärkt oder schwächt eine Entscheidung die Feinde der freien Welt auf Deutschlands Straßen? Das sollte der Lackmustest sein. Und damit auch die Frage, ob sie neben der Staatsräson ureigene strategische Interessen Deutschlands fördert oder nicht – und dazu gehört die enge Zusammenarbeit mit Israel in allen Bereichen.
Die bewegende Rede von Friedrich Merz in der Synagoge Reichenbachstraße war ein bedeutendes Ereignis für die Demokratie in Deutschland. Ein unvergesslicher Moment, der die Vergangenheit mit der Gegenwart verknüpfte – und der Hoffnung gibt.
Melody Sucharewicz ist eine deutsch-israelische Politikberaterin und Terrorismus-Expertin. Sie war außenpolitische Beraterin des israelischen Politikers Benny Gantz und schrieb ihre Dissertation am King’s College in London über Deradikalisierungsprozesse islamistischer Terroristen
Source: welt.de