Die Rückkehr der Manchester-Liberalen – Frankfurter Zeitung von 1923

In der wissenschaftlichen Nationalökonomie spielen sich seit einiger Zeit Vorgänge ab, die auch für ein weiteres Publikum von Interesse sind. Man kann sie unter den Titel bringen: sozialpolitische Wandlungen. Schon in der letzten Zeit vor dem Kriege hatten sich Ansätze zu einem neuen Manchestertum gezeigt, jetzt aber wächst sich das zu einer Strömung aus, die um sich greift.

Die Erfahrungen, die man mit der bürokratischen Kriegswirtschaft gemacht hat und die Haltung der Gewerkschaften in den letzten Jahren, wovon gleich noch zu reden sein wird, haben eine Anzahl jüngerer Nationalökonomen bewogen, ganz unumwunden die Lehre zu verkünden, dass der Staat nur für den Schutz der Personen und der Eigentümer zu sorgen habe. Die volkswirtschaftliche Entwicklung solle lediglich auf der gänzlich freien Konkurrenz isolierter Individuen beruhen; von Regelungen durch Verbände will man ebenso wenig wissen wie von Eingriffen der Staatsbehörden. Selbst der Schutz kindlicher, jugendlicher und weiblicher Arbeitskräfte erscheint als verwerflicher Sozialismus.

Neu ist diese Ansicht nun wahrhaftig nicht; sie ist genau das, was bis zu den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts gang und gäbe war, eben das, was man als Manchestertum bezeichnete und erst durch die Wirksamkeit der Gruppe, die sich im „Verein für Sozialpolitik“ zusammenfand, überwunden wurde. Neu ist nur, dass diese alte Lehre heute wieder aufersteht und heute mit den Mitteln arbeitet, die die Nationalökonomie seither geschaffen und ausgebildet hat. Wenn es sich nur um ein paar talentierte junge Leute handelte, könnte man sagen, dass also eine neue Mode der Volkswirtschaftslehre aufgestanden sei. Moden gibt es bekanntlich auch in der Wissenschaft. Nachdem man sich solange mit Sozialpolitik, nämlich mit positiver Sozialpolitik beschäftigt hat, muss doch auch wieder mal etwas anderes kommen, das die Begabungen des Nachwuchses interessiert, statt sie zu langweilen.

Aber es ist doch nicht das allein. Dieses neue Manchestertum macht doch auch auf ältere Personen Eindruck, obgleich sie nicht so weit gehen wie die jüngeren Umstürzler. Ein Zeichen dafür ist ein Aufsatz, den Professor Herkner in der Zeitschrift „Der Arbeitgeber“, dem Organ der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, veröffentlicht.

Wer sich jemals auch nur ein wenig mit Sozialpolitik befasst hat, kennt den Namen Herkner, denn er hat ein Buch über die Arbeiterfrage geschrieben, das die beste Einführung in die sozialpolitischen Probleme ist. Fast drei Jahrzehnte lang hat dieses Buch gewirkt und Unzähligen die Bedeutung dieses Gebietes vor Augen geführt. Es ist daher eine Sache, an der man nicht vorbeigehen kann, dass gerade Herkner nunmehr die arbeiterfreundliche Richtung, die er stets vertreten hat, zu korrigieren unternimmt. Er weist zunächst darauf hin, dass insbesondere drei Gesichtspunkte für diese Richtung maßgebend gewesen seien: Man sagte sich, dass den Arbeitern, oder wenigstens den sozialistischen, die Rechtsgleichheit versagt würde, dass die mächtigen Arbeitgeberverbände sich weigerten, die Gewerkschaften als berufene Vertretung der Arbeiterschaft anzuerkennen, und dass bei der volkswirtschaftlichen Kraft Deutschlands auch erhebliche sozialpolitische Fortschritte keine Bedrohung des Wirtschaftslebens einschlössen. Aber all das habe sich seit 1918 von Grund aus geändert.

Auf den Gebieten des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens werde heute der Arbeiterklasse nicht nur Gleichberechtigung, sondern zum Teil noch mehr zugestanden. Durch die Begründung der Zentralarbeitsgemeinschaft seien die gewerkschaftlichen Organisationen und wesentliche Punkte ihres Programmes von den Arbeitgebern anerkannt worden. In der Volksvertretung und in der Regierung verfügten die Arbeiterparteien über einen so starken Einfluss, dass die Gesetzgebung in sozialwirtschafts- und steuerpolitischen Angelegenheiten eine Richtung eingeschlagen habe, gegen die die gelehrte Nationalökonomie selbst in der Vorkriegszeit Verwahrung eingelegt hätte. Wir wollen uns nicht dabei aufhalten, ob das alles bis aufs Wort stimme, denn wichtiger ist das Weitere.

Herkner wirft die Frage auf, welche Art von Sozialpolitik für das verelendete Deutschland volkswirtschaftlich überhaupt noch möglich sei, und er antwortet: „Offensichtlich nur eine Sozialpolitik, welche nicht ausschließlich an die Verteilungsprobleme, sondern vor allem an die Hebung der produktiven Leistungen denkt.“ Und von da aus erhebt er die schwersten Vorwürfe gegen die Gewerkschaften, die mit ihrem Widerstande gegen eine Verlängerung der täglichen Arbeitszeit und gegen die Einschränkung der Streikfreiheit Gefahr liefen, „auch bei Gelehrten, die Jahrzehnte hindurch die Grundgedanken der Gewerkschaftsbewegung mit größtem Eifer verteidigt haben, alle Sympathie zu verlieren.“

Nicht nur das Verteilungsproblem

Die deutsche Nationalökonomie hat von den Siebzigerjahren bis in den Anfang unseres Jahrhunderts eine Ausnahmestellung eingenommen. In einer Zeit, in der sich fast alle Wissenschaften immer mehr spezialisierten und den Zusammenhang mit dem wirklichen Leben einbüßten, hat der maßgebende Teil der deutschen Volkswirtschaftslehre ihren Quellpunkt nicht verloren. Zwar hat auch sie sich in vielen Detailarbeiten ergangen, aber sie hat damals doch nie vergessen, dass es sich ihr in letzter Linie nicht um irgendwelche spezielle Sachen, sondern um den ganzen lebendigen Menschen handle.

Es war nicht etwa bloß das Verteilungsproblem oder das Produktionsproblem oder nur Mitleid, das ihre Sozialpolitik veranlasste, sich um den Arbeiter zu kümmern, sondern die Überzeugung, dass da ethische Probleme vorliegen, also Fragen, die das Innerste des Menschen und damit den Menschen überhaupt erfassen. In den letzten Jahrzehnten hat dann die Abwendung vom Leben auch die Nationalökonomie ergriffen; sie wurde „wertfrei“.

Herkner ist einer der wenigen, die das nicht mitgemacht haben. Aber ist denn nun das, was er in der genannten Zeitschrift ausführt, nicht auch die Folge einer Trübung des Blickes in die menschliche Wirklichkeit? Es möchte wohl auch heute noch richtig sein, dass die Frage der Sozialpolitik, der Stellung zur Arbeiterschaft, der Sympathien und Antipathien nicht lediglich ein Spezialproblem der Verteilung oder der Produktion ist, sondern das man seine Betrachtung mit den Menschen beginnen muss. Wenn jemals ein Mitgefühl am Platze war, dann ist es heute – Mitgefühl mit den sozialistischen Arbeitern, die in wachsendem Maße inne werden, dass das Ideal ihres Lebens zusammenbricht.

„Machttrunkene Gewerkschaftler“

Andere Leute haben längst gewusst und es oft genug ausgesprochen, dass sich das, was die Sozialdemokraten unter Sozialismus verstehen, nicht verwirklichen lässt, und wenn heute junge Nationalökonomen das als eine neue Entdeckung frisieren, so kann man darüber nur lächeln. Aber die Sozialdemokraten in ihrer Masse haben es nicht gewusst und erfahren es erst jetzt. Kann man sich wundern, dass sie wenigstens etwas von dem, was die jüngste Zeit gebracht hat, festhalten möchten? Die Bedeutung dieser Vermehrung wird damit selbstverständlich nicht bestritten, aber man müsste doch ein bisschen Empfindung dafür beweisen, dass die sozialistischen Arbeiter auch noch etwas anderes im Kopfe haben, und mit etwas mehr psychologischen Takt an diese Dinge herangehen.

Es ist sehr bemerkenswert, dass ein Führer der Industrie, Dr. K. Sorge, das wirklich besser trifft als der Gelehrte. In den letzten Heften des „Arbeitgebers“ erschienen auch von ihm Artikel, über die Erhaltung und den Ausbau der industriellen Produktionsmittel, und er kommt dabei gerade auch auf die Fragen zu sprechen, die Herkner behandelt. Dr. Sorge sagt, Arbeitsbereitschaft sei keine volle Arbeitsleistung, man werde Unterschiede machen können und müssen, aber ganz ruhig fährt er fort: „Früher oder später werden Arbeitgeber und Arbeitnehmer in rein sachlicher Verhandlung eine Anpassung an die tatsächlichen Verhältnisse finden müssen und – nach meiner Überzeugung – finden. … Jedenfalls halte ich den verständigen Ausbau des Achtstundentages unter Vermeidung schematischer Formen für ein Gebot der Notwendigkeit, und wenn hierfür gesundes Verständnis in der Arbeitnehmerschaft Platz greifen sollte, so wäre das ein ungeheurer Ausbau des Produktionsfaktors „Arbeit“ überhaupt, dessen Deutschland bedarf. Es scheint auch, als ob in der letzten Zeit hier die Einsicht zu wachsen beginnt, dass ungeheure Werte zum Nachteil der Arbeitnehmerschaft selbst seit unserem Zusammenbruch verloren gegangen sind. …“

Das ist denn doch etwas anderes als bloßer Vorwurf und kommt dem Standpunkte entgegen, den die Gewerkschaften selber einnehmen, die ja gar nicht ablehnen, Arbeitszeiten auszubauen, und nur über jeden Fall verhandeln wollen. Dr. Sorge erkennt auch an, dass man in der Frage der Akkordarbeit „über den tiefsten Stand hinaus“ sei und die besonnenen Arbeiter ein Einsehen hätten. „Planmäßiges und einheitliches, auf gegenseitiges Vertrauen gegründetes Zusammenwirken ist allein geeignet, eine gewisse Beständigkeit in den Arbeitsprozess zu bringen und letzten Endes die notwendige Steigerung der Produktivität zu erzielen, die für uns zukünftig Lebensbedingung ist.“ So kann man wohl sprechen, und es wird mehr Eindruck machen als eine Art, die in den Ton verfällt, den ein gewisser Teil der Arbeitgeber früher pflegte. Es zeigt sich wieder, dass der Gelehrte, aus dem Streben zur Deutlichkeit und Eindringlichkeit, leicht in gespitzte Formulierungen verfällt, die der Praktiker nicht mehr als richtig empfindet.

Herkner meint sogar dies: „Heute mögen die machttrunkenen Gewerkschaftler noch glauben, Vernunft und Wissenschaft verachten zu dürfen. Sie vergessen, wie sehr es ihrer Bewegung zustatten gekommen ist, dass sie von einer durch die Wissenschaft beeinflussten wohlwollenden öffentlichen Meinung getragen wurde. Gehen die Dinge so weiter wie bisher, so werden sich die Widerstände, die aus der veränderten Stellungnahme der Wissenschaft erwachsen müssen, bald sehr fühlbar machen.“

Auch das könnte sich als ein Irrtum erweisen, die vergangene Periode war so recht die Zeit der Professoren; man schwor nicht höher als auf sie. Das ist heute durchaus nicht mehr so, und es könnte sich aus dem Neumanchestertum schließlich ergeben, dass den größten Schaden davon – die Welt der Wissenschaft hätte.

ArbeitArbeitszeitDeutschlandIndustrielebenPersonenRegierungWirtschaftWissenZug