Die Linke: Letzte Hoffnung Kerstin Kaiser

Kerstin Kaiser ist früh aufgestanden. Um 7:15 Uhr steht die 64-Jährige in Jeans und grauem Pulli vor einem Backsteinbau im brandenburgischen Städtchen Strausberg. Sie verteilt Zettel an Mütter, die hektisch ihre Kinder Richtung Schule ziehen. „Keine Wahlwerbung – das ist eine Information über eine Veranstaltung in der Schule“, sagt sie. Die AfD hat wenige Tage vor der Landtagswahl in Brandenburg die Schulmensa für eine Wahlkampfveranstaltung gemietet. Kaiser empört das zutiefst: „Jahrelang haben wir diskutiert, wie wir den öffentlichen Raum vor Rechtsextremen schützen, und jetzt wird das einfach so durchgewinkt?“

Kaiser, Direktkandidatin für die Partei Die Linke im Wahlkreis Märkisch-Oderland II, will das nicht hinnehmen. Sie und eine Handvoll Mitstreiterinnen fordern die Eltern auf, bei der Bürgermeisterin des Ortes zu protestieren. Auf ihr Parteilogo hat sie in diesem Fall verzichtet, erkannt wird sie hier trotzdem. „Danke, Frau Kaiser“, sagt eine Mutter, während sie den Zettel ungelesen in ihrer Tasche verschwinden lässt.  

In Strausberg und Umgebung ist Kerstin Kaiser eine Institution. Die gebürtige Stralsunderin, die mit 20 Jahren in die SED eingetreten war, wurde in den Nachwendejahren stellvertretende Landes- und Bundesvorsitzende der PDS. 18 Jahre lang war sie Mitglied des Kreistags Märkisch-Oderland. Fast ebenso lange saß sie im brandenburgischen Landtag, drei Jahre davon als Fraktionsvorsitzende.

Die Partei vor dem Absturz retten

2016 hatte Kaiser mit der institutionalisierten Politik eigentlich abgeschlossen. Sie gab ihre Mandate auf, wurde Leiterin des Moskauer Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung. „Das war mein Traumjob“, sagt die studierte Slawistin, die immer mal wieder mit als Sängerin mit einem Programm politischer Lieder auftritt. Hier konnte sie Politik und Kultur verbinden – und das alles auf Russisch.

Wenn sie nun wieder um sieben Uhr morgens in Strausberg auf der Straße steht, hat das mit der Krise ihrer Partei zu tun. Aber auch mit der Krise im Land – vor allem mit dem Aufstieg der AfD, die in Brandenburg dieses Mal stärkste Fraktion werden könnte. „Ich will verhindern, dass der AfD-Kandidat hier einfach durchmarschiert“, sagt sie. Sie will aber auch ihre eigene Partei vor dem totalen Absturz bewahren.

Denn für die Linke sieht es in Brandenburg – wie derzeit überall – schlecht aus. Einst war die Partei hier eine Macht, erzielte bei Landtagswahlen Ergebnisse knapp unter 30 Prozent. Und das, obwohl die SPD, anders als in Thüringen oder Sachsen, in Brandenburg nicht schwächelte. Dieses Jahr allerdings muss die Linke um den Wiedereinzug ins Parlament kämpfen. In den Umfragen ist sie auf drei Prozent gerutscht. Und retten soll die Partei: Kerstin Kaiser. 

Rettungsanker ist dabei die Grundmandatsklausel: Die besagt, dass ein in einem Wahlkreis durch Erststimmen erzieltes Landtagsmandat genügt, dass die Partei entsprechend ihres Zweitstimmen-Ergebnisses in den Landtag einziehen kann. Kaiser ist derzeit die Einzige, der die Linke in Brandenburg zutraut, dieses Wunder zu vollbringen.

Auch Strausberg ist nicht mehr sicher

Noch vor wenigen Jahren galt Strausberg als sichere Bank für die Partei. Schließlich hatte hier einst das Verteidigungsministerium der DDR seinen Sitz. Ein großer Teil der Bürger war bei der Armee beschäftigt. Neben einem See und einer mittlerweile sanierten Altstadt gibt es ausgedehnte Plattenbaugebiete, in denen die Getreuen des einstigen SED-Regimes wohnten. Die wurden später nicht selten zu Wendeverlierern und wählten aus alter Verbundenheit die Linke.

Doch das ist vorbei. Nun kommt es auf die Kandidatin an. Für Kaiser spricht, dass sie ihren Wahlkreis hier bereits viermal direkt gewonnen hat. Das letzte Mal allerdings vor zehn Jahren. Danach ging es abwärts: Bei der Wahl 2019 trat Kaiser nicht mehr an, ihr Nachfolger landete hinter SPD und AfD. Und das war noch vor der Abspaltung des Bündnisses Sahra Wagenknecht. Der neuen Konkurrenz werden in Brandenburg derzeit rund 14 Prozent vorausgesagt, ein Großteil davon – das zeigen die Erfahrungen in anderen Bundesländern – dürften ehemalige Linke-Wählerinnen sein.  

Um das Unwahrscheinliche möglich zu machen, erhält Kaiser derzeit maximale Unterstützung aus der gesamten Partei. Genossinnen und Genossen aus Mecklenburg-Vorpommern und Berlin kommen vorbei, um beim Verteilen von Wahlkampfbroschüren zu helfen oder zerstörte Wahlplakate zu ersetzen. Heidi Reichinnek, die Vorsitzende der Linken im Bundestag, wendet persönlich die Grillwürste an Kaisers Wahlkampfstand. Und selbst in Berlin ist Kaiser jetzt Thema. „In Brandenburg kämpfen wir für den Wiedereinzug ins Parlament und das Direktmandat für Kerstin Kaiser“, sagt die Bundesvorsitzende Janine Wissler bei einer Pressekonferenz.

Politik wie früher

Doch ist das alles mehr als die Autosuggestion einer Partei, die sich im freien Fall befindet? Wahlkreisprognosen sehen in Kaisers Wahlkreis den AfD-Kandidaten vorn, aber davon will sie sich nicht entmutigen lassen. „Ich versuche, die Art Politik, wie wir sie früher gemacht haben, in Erinnerung zu rufen“, sagt sie, während sie in der Strausberger Geschäftsstelle der Linken schnell ihr Frühstück nachholt. Sie hofft, dass allein ihre Person die Leute daran erinnere, dass die Linke hier auch mal bessere Tage hatte, dass man hier einiges erreicht hat. Der Weiterbetrieb der Straßenbahn in der Stadt, der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz auf Landesebene.  

Politik, wie wir sie früher gemacht haben, heißt für Kaiser aber auch: ansprechbar sein, sich kümmern. Wenn sie sonntags um den Strausberger See geht, hat sie immer ihren Notizblock dabei. „Manche Leute kennen auch meine Joggingroute und passen mich da ab“, sagt sie.  

Man muss Kaiser zugutehalten, dass sie sich auch um die kümmert, die sie nicht wählen können. Als sie ihren Infostand an einem sonnigen Septembermittag vor dem Gebäude des Arbeitslosenverbandes aufbaut, trifft sie hauptsächlich auf ukrainische Frauen, die hier auf Beratung und Hilfe hoffen.  Kaiser lässt sich auf ein langes Gespräch ein, macht sich Notizen. Dass sie fließend Russisch spricht, ist hier von Vorteil.

Das junge deutsche Paar daneben lehnt die angebotene Bratwurst ab. Der Mann macht eine wegwerfende Handbewegung in Richtung des roten Sonnenschirms. Von diesen ganzen Regierungsparteien erwarte er nichts mehr, sagt er.

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