Die Linke, BDS und Israel: Was ist hier ins Rutschen gekommen?

Es sind Schlagzeilen, die die Linke wohl eher lieber vermieden hätte: „Partei der Antisemiten und Israelfeinde“ (Cicero), „Der nächste Anti-Israel-Eklat trifft die Linke“ (Tagesspiegel) und „Linksjugend bedroht alle, die Israel NICHT hassen“ (Bild).

Anlass für die Berichterstattung sind vor allem zwei Vorgänge: ein Pro-BDS-Antrag der LAG Palästinasolidarität für den Berliner Landesparteitag der Linken, der am 15. November stattfindet. Und der Bundeskongress der Linke-Jugendorganisation solid, der schon Anfang November stattfand und mit breiter Mehrheit beschloss, dass Israel ein „rassistisches und kolonialistisches Staatsprojekt“ sei.

Die Folge: Die Linkspartei, die eigentlich diese Woche mit der Nominierung der Spitzenkandidatin Elif Eralp ihren Wahlkampf für die Berliner Abgeordnetenhauswahl 2026 einläuten wollte, muss sich gegen den Vorwurf des Antisemitismus verteidigen. Anstatt auf der politischen Enthusiasmus-Welle des Wahlsiegs von Zohran Mamdani in New York ins Rote Rathaus zu segeln, muss sie unter Bild-Zeitungs-Beschuss klären, wer in der Partei wie zum Existenzrecht Israels steht.

Die Linke, im Vergleich zur FDP und den Piraten

Man muss sich eine politische Partei als komplexes System vorstellen: wie eine riesige Maschinerie aus unzähligen Röhren und kommunizierenden Gefäßen, die im besten Fall fortwährend Input von außen aufnehmen, verarbeiten, in ihren Gremien verstoffwechseln, um dann oben ihren daraus destillierten Debattenbeitrag oder Gesetzesvorschlag auszuspucken.

Manche Parteien sind so verknöchert, dass sie den Kontakt zur Gesellschaft verloren haben, und unten nichts Neues mehr reinkommt, sodass sie nur mehr Variationen ihres immer gleichen Programms produzieren und ihren ideologischen Treibstoff recyclen; die FDP in ihrer Spätphase wäre ein Beispiel.

Andere Parteien verschlucken und verheben sich an dem, was die Gesellschaft ihnen mitgibt und schaffen es nicht, das Input politisch zu verarbeiten, sodass auch eine wirkungsvolle politische Programmatik daraus würde; die Piraten-Partei wären ein Beispiel.

Im Fall der Linkspartei ist gerade zu beobachten, wie ein Parteisystem massiv unter Stress gerät, weil es immer schwieriger wird, Input und Output zusammenzubringen.

Was auf Demos in Neukölln Konsens ist – und die Welt da draußen

Das, was auf Demos gegen den Gazakrieg Konsens ist, was unter Studierenden gerade die Gemüter bewegt oder unter palästinensisch-stämmigen oder arabischen Neumitgliedern der Linkspartei in Berlin Neukölln unstrittig sein mag, überfordert eine Partei, deren offizielle Beschlusslage naturgemäß hinter der Aktualität hinterherhinkt. Linke-Vorsitzende müssen sich in einem politischen Diskurs bewegen, der noch mal nach eigenen Regeln funktioniert: Bei Markus Lanz kann Jan van Aken Bild-Schlagzeilen um die Ohren gehauen bekommen, für die es auf dem solid-Kongress möglicherweise Applaus gäbe.

Die Berliner Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Palästinasolidarität ist – um im Bild der Partei als große Dampf- und Destilliermaschine zu bleiben – wie ein Ansaugstutzen, der das politische Sentiment in Sachen Gazakrieg einsammelt und auf einen Nenner zu bringen versucht.

Sie hat die zwei Parteitagsanträge gestellt, von denen hier eingangs die Rede war: Der eine fordert, die Partei solle die BDS-Kampagne entstigmatisieren und es ihren Mitgliedern freistellen, BDS zu unterstützen. Das sorgte für „Der nächste Anti-Israel-Eklat trifft die Berliner Linke“ (Tagesspiegel). Was steckt konkret dahinter?

Im Jahr 2019 hat auch die Linkspartei sich gegen BDS ausgesprochen. Und heute?

Britta Häfemeier, ein Mitglied im Koordinierungskreis der LAG, erklärt den BDS-Antrag so: „Das war für uns der nächste logische Schritt. Klar hat die Partei eine große Gaza-Demo auf die Beine gestellt, aber das reicht einfach nicht, um wirklich politisch Druck auszuüben. Da die Linkspartei sich auf ihrem letzten Parteitag zur Jerusalemer-Erklärung zum Antisemitismus bekannt hat, die BDS als nicht-antisemitisch einstuft, scheint es uns nur folgerichtig, das auch in einem Beschluss zu fordern.“

BDS meint Boycott, Divestment and Sanctions, und ist eine Kampagne, die ursprünglich im Jahr 2005 – vor nunmehr 20 Jahren also – von palästinensischen zivilgesellschaftlichen Organisationen lanciert wurde. Sie will durch den gewaltlosen Boykott von Institutionen und Personen, die Menschenrechtsverletzungen durch den Staat Israel unterstützen, drei Ziele erreichen: ein Ende der Besatzung des Westjordanlands und Gaza, eine volle Gleichstellung von Palästinensern und Israelis vor dem Gesetz und das Rückkehrrecht für palästinensische Vertriebene.

Konkret ruft die Kampagne dann dazu auf, Unternehmen zu boykottieren, die beschuldigt werden, die Besatzung oder israelische Kriegsverbrechen zu unterstützen (aktuell nennt BDS hier HP, Sodastream, AXA oder die Allianz Versicherung), oder fordert den Boykott von Festivals, kulturellen Veranstaltungen und Künstlerinnen und Künstlern, die mit staatlichen israelischen Behörden zusammenarbeiten. In dieser Folge stuft BDS sogar den Oscar-prämierten israelisch-palästinensischen Film „No Other Land“ über die wiederholten Räumungen palästinensischer Dörfer im Westjordanland als boykottwürdig ein.

Die israelische Regierung hat die BDS-Kampagne zur „strategischen Bedrohung“ erklärt; in Deutschland hat der Bundestag im Jahr 2019 eine Resolution beschlossen, die die BDS-Bewegung als antisemitisch einstuft. Damals stimmten Abgeordnete von CDU/CSU, SPD und Grünen dafür, manche Grüne und die Linkspartei enthielten sich oder stimmten dagegen. Die Linkspartei erhielt damals für ihren Gegenantrag „BDS-Bewegung ablehnen – Friedliche Lösung im Nahen Osten befördern“ keine Mehrheit.

Wer ist eigentlich BDS?

Heute sagt Britta Häfemeier: „Die BDS-Bewegung ist die größte gesellschaftliche Kampagne Palästinas, sie wird von vielen progressiven jüdischen, aber auch israelischen Stimmen weltweit unterstützt. Was sie fordert – das Ende der Besatzung, gleiche Rechte und das Recht auf Rückkehr – ist alles im internationalen Recht verankert. Warum sollten wir das als linke Partei nicht unterstützen?“ Häfemeier weist auch darauf hin, dass die LAG nicht Mitglied der BDS-Kampagne werden will, aber es ihren Mitgliedern freigestellt werden soll, BDS zu unterstützen.

Ein israelisch-stämmiger Aktivist, der der Linkspartei nahesteht, aber seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, sagt dazu: „BDS ist eine Taktik, eine Strategie, keine Organisation. Als Taktik ist BDS jedenfalls nicht per se antisemitisch. Allerdings kann jeder und jede behaupten, für BDS zu sprechen, und teilweise finden sich auch politisch wenig hilfreiche Statements, die im Namen von BDS abgegeben werden. Umgekehrt wird eine angebliche BDS-Verbindung oft dafür verwendet, um Menschen politisch zu diskreditieren.“

Was besonders für israelische Staatsbürger – seien es Juden oder Palästinenser – gilt: Wenn sie als BDS-Aktivisten markiert werden, kann es für sie in Israel potenziell gefährlich oder juristisch riskant sein.

Linke und BDS: Verspielt die Partei ihr politisches Kapital?

Ob es taktisch klug war, dass Teile der Linke-Basis das politische Kapital, das die Partei seit der letzten Wahl hat, dafür einzusetzen versucht, BDS zu entstigmatisieren, wenn die Kampagne in Teilen der Öffentlichkeit als toxisch angesehen wird?

Auch unter manchen Linken gilt die BDS-Kampagne als antisemitisch, weil sie Israel zu delegitimieren versuche und sein Existenzrecht als jüdischer Staat leugne. Die Parteivorsitzende Ines Schwerdtner sagte vor kurzem im Interview mit dem Freitag, sie finde es falsch, dass BDS „einen pauschalen akademischen und kulturellen Boykott von Einzelpersonen“ fordere, was am Beispiel des Boykottaufrufs gegen den Dokumentarfilm „No Other Land“ deutlich geworden sei. „Kultur ist für mich eine wichtige Brücke für Frieden und Gespräche, wo es oft keine mehr gibt.“

Der oben genannte israelstämmige Aktivist hingegen sieht die beiden Anträge als Teil einer innerparteilichen Dialektik: „Es braucht Druck von unten, damit die Oberen was machen: Es braucht die radikalere, manchmal nervige Basis, die Druck ausübt, damit die Parteispitze sich bewegt. So funktioniert nun mal Politik.“

Man könnte hinzufügen: Wenn die Basis sich zu weit wegbewegt, zu großen Druck erzeugt, dann gibt es statt dem Umlenken und der Verarbeitung des Inputs Gegendruck. Das erlebt gerade die Parteijugend solid nach ihrem Bundeskongress, der gleich zu einer ganzen Reihe von Bild-Schlagzeilen geführt hat.

Wie steht die Jugendorganisation solid zum Existenzrecht Israels?

Der solid-Kongress hatte unter anderem eine Resolution mit dem Titel „Nie wieder zu einem Völkermord schweigen“ beschlossen, in der es heißt: „Eine selbstkritische Revision unserer bisherigen Position in Bezug auf die israelische Staatspolitik gegenüber dem palästinensischen Volk ist überfällig. … Wir haben versagt, 1. den kolonialen und rassistischen Charakter des israelischen Staatsprojekts, der sich von seinen Anfängen bis heute in der Eroberung neuer Gebiete und in der Vertreibung ihrer Einwohner:innen ausdrückt, anzuerkennen.“

Diese Passage haben einige Leser, darunter offenbar auch die beiden Parteivorsitzenden Jan van Aken und Ines Schwerdtner, aber auch alteingesessene Linke wie Gregor Gysi und Bodo Ramelow so interpretiert (und mit einem Brandbrief beantwortet): In der Partei sei offenbar „etwas ins Rutschen gekommen“, schrieben sie. Die solid-Resolution stehe „außerhalb des Konsenses unserer Partei“, weil sie das Existenzrecht Israels in Frage stelle.

Die Parteiführung bekundete auch ihre Sorge darüber, dass Gegner der Resolution unter Druck gesetzt oder eingeschüchtert worden sein sollen und forderte eine Aufarbeitung der Ereignisse auf dem Kongress.

Sozialismus in Palästina? Das Fehlen von Sachkenntnis

Eine gewisse Ironie in der solid-Resolution wächst jedenfalls daraus, dass sie im Gestus des „Jetzt haben wir endlich begriffen, was in Nahost wirklich Phase ist“ daherkommt, aber dann „die Befreiung Palästinas als Teil einer breiteren demokratischen und sozialistischen Revolution“ als Ziel ausgibt und fordert, „die revolutionären demokratischen und sozialistischen Bewegungen in der Region zu unterstützen“.

Das kann man machen, und gewiss werden sich Einzelne und Vereinzelte finden, auf die diese Beschreibung zutrifft. Aber dass es in Israel/Palästina irgendeine ernst zu nehmende sozialistische Bewegung gebe, oder dass die Befreiung Palästinas von was auch immer auch nur als utopische Hoffnung am Horizont auszumachen sei: Das zeugt dann eher doch nicht von irgendwelcher Sachkenntnis der realen Gegebenheiten vor Ort.

Nichtsdestotrotz ist genau das der Ton, der heute auch unter eben erst politisierten Studierenden zu hören ist. Und die Erschütterung darüber, dass ein Staat, dessen Sicherheit eben erst noch zur deutschen Staatsräson erklärt wurde, zigtausende Menschen umbringen kann, auch die ist an deutschen Unis, auf den Straßen, in den Städten zu spüren.

Die Linkspartei wird sich daran messen lassen müssen, was sie – als diskursive Verarbeitungssystem – politisch daraus macht und wie sie diesen Konflikt gestaltet. Der Druck jedenfalls ist da.

AbgeordneteAkenAktivistenAllianzAntisemitismusBedrohungBehördenBerichterstattungBerlinBildBodoBoykottBrittaBundestagCDUCSUDeutschlandDie LinkeDie WeltDreiEndeErnstFDPFestivalsFilmFreitagFriedenGesellschaftGleichstellungGregorGrüneGysiHörenInesIsraelJanJan vanJudenKongressKriegsverbrechenKulturLanzLinkeMamdaniMANMarkusMessenNahostNeuerNeuköllnOhrenOscarPalästinaParteienPersonenPolitikRamelowRechtRegierungSchwerdtnerSegelnSicherheitSozialismusSPDStraßenStressUnternehmenVeranstaltungenWahlWahlkampfWeilWELTWestjordanlandWillZohran