
Der etablierte Kulturmanager Matthias Lilienthal als Intendant der Berliner Volksbühne ist keine mutige, aber eine fundierte Entscheidung. Auch die Ausnahmekünstlerin Florentina Holzinger bleibt dem Haus erhalten.
Der Neue ist ein alter Bekannter: Matthias Lilienthal, stilecht in Kapuzenpulli und Jeans, muss selbst kurz überlegen, wie viele Jahre seit seinem Abschied von der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz vergangen sind. Die Antwort: fast 27. In dieser Zeit leitete der Dramaturg und Kurator das HAU Hebbel am Ufer und die Münchner Kammerspiele, mal heiß geliebt und mal ebenso leidenschaftlich gehasst. Nun ist die meistdiskutierte Kulturpersonalie der Hauptstadt entschieden: Lilienthal wird ab 2026 die Berliner Volksbühne leiten. Dabei sind mit Florentina Holzinger und Marlene Monteiro Freitas auch zwei Tanz- und Performancestars. Keine mutige, aber eine fundierte Entscheidung.
Bei der gut besuchten Pressekonferenz am Freitagvormittag spricht Berlins Kultursenator Joe Chialo (CDU) von einer „guten Nachricht für alle Theaterfreunde in Deutschland, gar europaweit“. Unter 30 Bewerbungen habe sich Lilienthal durchgesetzt. Ist er nun der Retter eines zerrütteten Hauses? Mit dieser Erwartung startete schon René Pollesch seine Intendanz, doch vor knapp einem Jahr starb der Autor und Regisseur, kurz nach seiner letzten Premiere „ja nichts ist ok“. Seitdem ist das Haus weit entfernt von okay. Nun müssen auch noch zwei Millionen Euro im laufenden Jahr eingespart werden, zwei große Produktionen wurden bereits gestrichen.
Lilienthal ist einer, der in Berlin bereits bewiesen hat, unter schwierigen Bedingungen arbeiten zu können. Nach seiner Zeit als Dramaturg an der Volksbühne übernahm er die Aufgabe, das Hebbel-Theater mit dem Theater am Halleschen Ufer zum HAU Hebbel am Ufer zu fusionieren. Er holt das Label Rimini Protokoll und Milo Rau ans Haus, das er mit spektakulären Inszenierungen wie der 24-Stunden-Performance „Unendlicher Spaß“ nach dem Roman von David Foster Wallace deutschlandweit bekannt machte. Auf der Pressekonferenz bezeichnet Lilienthal das als seine „glücklichste Zeit“ als Theaterleiter.
Passend schnoddrig für Berlin
So erfolgreich war Lilienthal allerdings nicht immer in seiner Karriere. An den Münchner Kammerspielen forcierte er den Umbruch von einem starken Ensemble- und Schauspielertheater zu Projekt- und Performanceplattform, das Publikum flüchtete, in der Presse war von „Jammerspielen“ und „Performeritis“ die Rede, die Kulturpolitik knickte ein. Nach fünf Jahren war Schluss, für Lilienthal war es seine „kämpferischste Zeit“. Wiederholungsgefahr? Kaum. Der Vorteil ist, dass die Volksbühne als experimentelle Bühne bereits etabliert ist, niemand erwartet dort „Klassikerdienst“.
Es sieht zwar nicht so aus, aber Lilienthal ist für die Volksbühne das, was er in München nicht war und auch nicht sein konnte: eine konservative Lösung. Lilienthal, 1959 geboren und in Neukölln aufgewachsen, kennt die Stadt und deren Kunstszene. Sein schnoddriger Stil verfängt im mit modischen Sonderwegen vertrauten Berlin besser als bei der Münchner Schickeria. Und mit seinen inzwischen 65 Jahren bringt er viel Leitungserfahrung und ein großes Netzwerk mit. Das Beratergremium, in dem unter anderem Kay Voges und Milo Rau saßen, traute Lilienthal offensichtlich, weil einstimmig zu, das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz nach Polleschs Tod zu konsolidieren.
Lilienthal hatte auch den Vorteil, dass sein Terminkalender nicht so prall gefüllt sein dürfte wie der eines angesagten Regisseurs, zum Beispiel von Ersan Mondtag. Weil sich eine Interimsintendanz zerschlagen hat – die Kürzungen im Budget haben Vegard Vinge und Ida Müller verschreckt – wurde eine Lösung gesucht, die schon vor dem anvisierten Start 2027 bereitsteht. So ist es nun gekommen: Lilienthal startet offiziell bereits 2026. Bei den Hamburger Lessingtage, die er noch verantwortet, wird er bis dahin aussteigen, vermutlich auch bei dem Festival „Performing Exiles“ an den Berliner Festspielen.
Die Wahl zeigt auch, dass es in Berlin längst nicht mehr die starken Regisseure sind (wie zu Zeiten von Peymann, Ostermeier, Castorf und Petras), die die Theater leiten. Lilienthal wird klar der organisatorische Kopf der Volksbühne sein. An seiner Seiten wird es zusätzlich ein „Artistic Board“ geben, dem Holzinger (die seit Pollesch am Haus arbeitet) und die kapverdische Choreografin Marlene Monteiro Freitas (die dieses Jahr das renommierte Festival d’Avignon eröffnet) angehören werden. Freitas grüßt mit einem generischen englischsprachigen Statement, Holzinger sitzt sehr lässig neben Lilienthal auf der Bühne. Sie sei „urhappy“, dass Lilienthal die „Drecksarbeit“ machen werde.
Wird die Volksbühne zum Tanzhaus?
Das „Artistic Board“ ist einerseits das Signal, dass man eine Ausnahmekünstlerin wie Holzinger unbedingt am Haus halten will. Die hatte sich selbst beworben, allerdings ihre Bewerbung zurückgezogen, weil sie zurzeit lieber an verschiedenen Häusern arbeiten will, anstatt eines zu leiten. Und andererseits ist es das Signal, dass Tanz und Performance das Profil des Hauses auch in Zukunft stark prägen sollen. Wird die Volksbühne zum Tanzhaus? Lilienthal wiegelt ab, er spricht von ungefähr einem Drittel Tanz und zwei Drittel Theater. Wobei das nicht notwendig klassisches Schauspiel meint, auch wenn Holzinger witzelt, sie könne doch auch mal einen Tschechow machen.
Von Lilienthal gibt es ein paar Ausblicke aufs Programm. Es wird ein „internationales Line-up“ geben, als „bewussten Widerstand gegen die Renationalisierung“. In die Stadt soll es auch rausgehen, sogar bis nach Spandau. Als Gegenstück zu den früheren Dostojewski-Abenden von Castorf wird der polnische Regisseur Łukasz Twarkowski sich mit dem Schriftsteller beschäftigen. Und der Schweizer Stefan Kaegi von Rimini Protokoll wird ein ostdeutsches Parlament inszenieren, offenbar als Reminiszenz an die Tage, als groß „OST“ auf dem Dach prangte.
Für Lilienthal ist die Leitung der Volksbühne die Krönung seiner Karriere als Theaterleiter. Sein Vertrag gilt bis 2031, dann wird er über 70 Jahre alt sein. „Ich habe Lust, mich mit einer jungen Generation nochmal neu zu erfinden“, sagt Lilienthal. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Volksbühne an diesem Freitag nicht – wie damals mit Castorf – in die Hände eines aufstrebenden Ausnahmekünstlers gegeben wurde, sondern eines trotz Schlabberlooks etablierten Kulturmanagers. Kein großer Umbruch, aber die Chance, starken Künstlern in einem umsichtig geleiteten Haus eine Bühne zu bieten. Bei Holzinger scheint die Vorfreude jedenfalls groß: „Let’s fuck shit up!“
Source: welt.de