Die iranischen Drohnen tönen unähnlich (wie ein Mofa!)

Lemberg, den 17. Oktober, vormittags

Wir verabreden uns am Rande der Altstadt. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite macht gerade eine moderne, grün-gelbe Straßenbahn eine Schleife. Hinter der Endhaltestelle verkaufen alte Frauen Kräuter und Gemüse. Das Lemberger Unternehmen, das in der fernen Sowjetzeit die besten sowjetischen Fernseher produziert hat – damals eine Defizitware und später ein Ladenhüter im chancenlosen Wettbewerb gegen die westlichen Fabrikate – und nach einer Umstrukturierung auf Herstellung moderner Straßenbahnen umgestiegen, ist zuletzt einige Male von Russland angegriffen worden. Als hätten Putins Generäle auch den ukrainischen Straßenbahnen den Krieg erklärt.

Ich warte ein paar Minuten, bis Karl Schlögel um die Ecke biegt. Er hat sich gerade das ehemalige alte jüdische Viertel angeschaut, ganz genau wie immer, sich jedes Detail einprägend, das dann in einem Kaleidoskop der Geschichten seinen Platz findet. Am nächsten Tag treffen wir uns wieder. Ein ZDF-Team begleitet uns. Es begleitet ihn, Karl Schlögel, den diesjährigen Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels.

Wir gehen langsam zur Straßenbahnhaltestelle. Ich erzähle ein paar Geschichten, eher Nebenstränge – über den Fußball und seine Rolle beim inneren Widerstand gegen das Sowjetregime, über die Umbenennungen Lemberger Straßen, über die Schicksale der Stadtbevölkerung. Karl Schlögel hört aufmerksam zu. Nur selten stellt er eine Zwischenfrage – genau an der Stelle, wo sie hingehört. Es ist eine besondere Art, wie er zuhört – aufmerksam, konzentriert, immer zugänglich für neues Wissen.

So habe ich ihn vor zehn Jahren persönlich kennengelernt, als er dabei war, Lemberg für sich neu zu entdecken, eine Stadt, die er zum ersten Mal vor fast sechzig Jahren als junger Gymnasiast aus Bayern auf der Durchreise nach Moskau besucht und kaum mehr als ein paar geschwärzte Gebäude in der mittelalterlichen Altstadt in Erinnerung behalten hat. Später führte sein Weg immer wieder nach Lemberg, in den 1980er-Jahren auf der Suche nach dem untergegangenen Mitteleuropa, in der unabhängigen Ukraine, nach der Orangenen Revolution 2004, nach dem Euromaidan. Als wir 2015 mit Karl Schlögel durch die Stadt gingen, war die Atmosphäre – mit unzähligen Sommerterrassen und Straßenmusikern – viel lockerer. Der Krieg im Donbas war rund 1000 Kilometer entfernt, und wenn jemand nicht genau hinschaute, konnte man ihn leicht übersehen. Karl Schlögel gehörte nicht zu denjenigen, die so etwas übersehen.

Danach haben wir uns mehrmals und öfter gesehen – in Leipzig (wo zufälliger- und glücklicherweise „Das sowjetische Jahrhundert“ im selben Jahr ausgezeichnet wurde wie Sabine Stöhrs und meine Übersetzung von Serhij Zhadans „Internat“) und in Mariupol, in Berlin und in Frankfurt, in Weimar und immer wieder in Lemberg.

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Im September 2025 ist es ein anderes Gefühl. Karl Schlögel will unbedingt in die Ukraine, seitdem er wieder reist, zumindest nach Lemberg, um zu spüren, wie es dem Angegriffenen geht, wie die Menschen hier ticken. Für ihn ist es undenkbar, über ein Land zu schreiben, ohne es zu besuchen, ohne die russischen Verbrechen mit eigenen Augen zu sehen. Vor zwei Jahren ist er bis nach Charkiw gereist, um durch die angegriffene Stadt, die sich auch heute stolz und tapfer präsentiert, zu laufen und sich das beschädigte Gebäude von Derschprom, ein Denkmal des Konstruktivismus, anzusehen.

Wir steigen in die Straßenbahn ein und fahren zum Marsfeld, dem Soldatenfriedhof. Selbst für mich, der dort immer wieder vorbeikommt, ist er in den letzten Monaten sichtlich gewachsen, auch wenn das Fahnenmeer die Zahl der Gräber größer erscheinen lässt, als sie tatsächlich ist. Ich zähle sie diesmal nicht, inzwischen sind es wohl an die Tausend. Wir gehen langsam die Reihen entlang, bis zu einem Waldstück, kehren zurück, schauen uns die Fotos der Gefallenen an, lesen die Namen. Einige Gräber in der dritten Reihe, die seit dem Frühsommer dazugekommen ist, sind ganz frisch. An dem einen oder anderem Grab bleibt Karl Schlögel länger stehen, als wollte er sich das Bild des jungen Mannes einprägen, sich seine Geschichte vorstellen. Als wir den Friedhof verlassen, fahren einige Busse und Autos in Begleitung einer Polizeieskorte an. Schon wieder eine Beerdigung.

Wir fahren zum halbzerstörten Haus, in dem vor einem Jahr die Familie Basylewytsch, die Mutter, drei Töchter und vier andere Hausbewohner vor einer russischen Rakete umgebracht worden sind. Die obere Etage fehlt, die Fenster in den unteren Stockwerken sind mit Sperrholz vernagelt, ein totes Haus wie ein gestrandeter Wal. Auch dieses russische Verbrechen will Karl Schlögel mit eigenen Augen sehen. Er kann nicht anders. Es sei doch die russische Taktik, dieser Terror gegen die Zivilbevölkerung, sagt er leise. Man kann zwar darin eine fragende Intonation heraushören, es klingt aber gleichzeitig wie eine Feststellung. Ich kann nur nicken. Die erneute Bestätigung kommt nur wenige Tage und Wochen später, als Russland mit massiven Angriffen gegen die ukrainische Energieinfrastruktur und Gasförderung das Land im Winter ohne Strom und Heizung in Dunkel und Kälte zu versetzen versucht.

Manchmal klingt Karl Schlögel in einer E-Mail etwas ratlos und verunsichert, ja fast verzweifelt, sagt, er wisse nicht, was noch getan werden kann. Und findet trotzdem immer die richtige Antwort – in seinen Texten und Auftritten, die eine passionierte Verteidigung der Freiheit sind. Er hat nie aufgehört zu mahnen, dass die Zeit der Entscheidung gekommen sei, dass man alles tun müsse, was für die Verteidigung der Ukraine nötig sei. Er, der immer den Mut und die Klarsicht hatte, das Böse beim Namen zu nennen, der gegen den Putinismus und den Trumpismus kämpft und im Sinne von Julien Benda bisweilen vom „Verrat der Intellektuellen“ spricht, die nicht „zwischen Angreifer und Angegriffenen, zwischen Überfall und Selbstverteidigung, zwischen Unterwerfung und Widerstand“ unterscheiden können, hat die Sache der Freiheit nie verraten. Denn ohne Freiheit kann es keinen Frieden geben, wie der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk formuliert hat. Schon gar nicht einen echten und gerechten.

Lemberg, den 12. Oktober, nachmittags

Unsere Erinnerungen sind ein Fleckenteppich aus Schnappschüssen, die sich mal konsequent und logisch, öfter aber willkürlich und chaotisch aneinanderreihen. Mir geht es ähnlich, und „Eine Brücke aus Papier“ bildet da keine Ausnahme. Vielleicht wird jemand irgendwann eine ausführliche Chronik dieser ukrainisch-deutschen Schriftstellertreffen verfassen, die vom Münchner Verein Kulturallmende und dessen Geschäftsführerin Verena Nolte 2015 ins Leben gerufen wurden – als Antwort auf die Annexion der Krim und den von Russland angezettelten Krieg im Donbas. Ich bleibe lieber bei den Schnappschüssen.

Es war die erste Brücke aus Papier in Lemberg, bei der ich im Laufe meiner Recherchen für einen Vortrag feststellte, wie lange die großen Verlage aus dem deutschsprachigen Raum gebraucht hatten, um erste Übersetzungen ukrainischer Autoren auf den Markt zu bringen, und wie sie in den Folgejahren zögerlich und spärlich mit ein paar Titeln pro Jahr weiter machten. Denn es hatte nach dem Zerfall der Sowjetunion acht Jahre gedauert, bis 1999 das erste Buch von Andrij Kurkow bei Diogenes erschienen war (dabei bin ich mir nicht ganz sicher, ob ihn dieser Schweizer Verlag wirklich als einen ukrainischen Schriftsteller betrachtete, da es eine Übersetzung aus dem Russischen war).

Man musste noch weitere vier Jahre warten, bis Suhrkamp mit Juri Andruchowytsch den ersten Titel eines auf Ukrainisch schreibenden Autor herausbrachte. Weder die Orangene Revolution von 2004 noch der Euromaidan von 2013-14 führten zu einem echten Anstieg des Interesses. Erst der russische Überfall im Februar 2022 sollte dies ändern.

Unvergesslich blieb mir ein Vortrag in Dnipro über die Rockmusik in der Sowjetzeit „Rock and Roll in the Rocket City“ – das damalige Dnipropetrowsk war ein wichtiger Waffenproduzent für die sowjetische Rüstungsindustrie gewesen) und ein Leseabend in Charkiw (wir hatten bei den Lesungen immer heillos überzogen, wogegen das Publikum aber nicht protestierte), als Serhij Zhadans Band „Mannerheim“ zu früh auf die Bühne kam und Juri Andruchowytsch aus seinem „Albert“ („Albert, oder die höchste Form der Hinrichtung“), einer mystisch angehauchten Erzählung, unter psychedelischen Klängen zu lesen anfing und ich mit einer tiefen, geheimnisvollen Stimme versuchte, die deutsche Fassung hinter den Kulissen in die Dolmetschanlage parallel zu rezitieren, was Noemi Schneider in Entzückung versetzte.

Ich erinnere mich, wie ich 2018 in Mariupol nach über zwanzig Jahren den dortigen leicht ätzenden Geruch wieder erkannte, diese unverkennbare Mischung aus Eisenerz und Meeresluft, und wie Hryhorij Sementschuk mit Ulrike Almut Sandig unter blauem Septemberhimmel mit Blick auf das Asowsche Meer ihre musikalisch-poetischen „Landschaften“ präsentierte, die Techno-Klänge und Lyrik zu einer integren Einheit verschmelzen ließen; an die Thomas-Mann-Führung in München und an die szenische Lesung aus dem Theaterstück „Zerstörte Straßen“ der ukrainischen Filmemacherin und Drehbuchautorin Natalia Woroschbyt in Berlin, für die der Krieg im Donbas den Hintergrund lieferte (ein Jahr später wird dessen Verfilmung bei den Internationalen Festspielen von Venedig laufen und dort den Verona Film Club Award einheimsen).

Ich erinnere mich an Iwano-Frankiwsk und die Video-Brücke nach Berlin (im Herbst 2020 konnten die deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer wegen Corona-Pandemie nicht in die Ukraine reisen), bei der die Verzögerung beim Ton und Bild so groß war, dass das Dolmetschen zu einem witzigen Abenteuer wurde, und bei der wir während einer abschließenden Party praktisch von einem Teller aßen; an unseren geplanten Besuch im südukrainischen Mykolajiw, der wegen fehlender Finanzierung nicht stattfand; an das friedliche Weimar mit den wertvollen Altdrucken der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek und die extrem komplizierte Anreise dorthin aus der Ukraine, die neun Monate zuvor von Russland überfallen worden war; an Uschhorod, eine warme, kleine Großstadt im äußersten Südwesten des Landes, wo es keine Ausgangssperre gibt und wo Taxifahrer ihre Fahrgäste zu einer Weinprobe einladen – der Besuch dort war leicht und schwer zugleich, weil Viktoria Amelina in Uschhorod mit uns sein wollte, aber kurz davor von einer russischen Rakete getötet wurde.

Diese Begegnungen – ich wage es zu behaupten – waren eine Bereicherung für uns alle. Zumindest für die meisten von uns. Und wenn ich hier nur ein paar Namen erwähnt habe, heißt es auf gar keinen Fall, dass ich die anderen vergessen habe oder dass sie mir weniger wichtig und beeindruckend erscheinen. Hätte ich aber versucht, alle zu nennen, hätte ich ein unübersichtliches Chaos aus Namen und Bildern produziert. Denn in zehn Jahren hat die Brücke, an der jedes Jahr jeweils sechs Schriftsteller und Schriftstellerinnen aus Deutschland und der Ukraine teilgenommen haben (einige davon mehrmals), dazu noch Künstler, Historiker, Literaturkritiker, Wissenschaftler, Verleger, Übersetzer und Stadtführer, eine Gemeinde produziert, die gar nicht auf die kleine Brücke in Weimar gepasst hätte, auf der die Teilnehmer von 2022 fotografiert wurden. Höchstens auf die lange und breite Brücke über die seichten und breiten Gewässer von Usch im Jahr darauf. Aber da hätte uns alle zusammen niemand fotografieren können. Jedenfalls nicht ohne eine künstliche Erweiterung der Realität.

Lemberg, den 30. September, abends

Manchmal hat der Krieg überraschend positive Auswirkungen. Oder absurde. Nehmen wir zum Beispiel die Wissenschaft. Seit dem russischen Überfall ist die Zahl der Studierenden und Doktoranden – genauso wie die Menge der Buchtitel in ukrainischer Sprache nach dem Verbot der Buchimporte aus Russland – explodiert. Für ukrainische Verleger, die früher gegen billige, oft illegale russische Bücher (ganz zu schweigen von etlichen Propagandaveröffentlichungen) einen ungleichen Kampf geführt hatten, war dies ein richtiger Befreiungsschlag. Sowohl die Auflagen als auch die Anzahl der Titel stiegen rapide an. Und zwar in allen Kategorien – ob bei Belletristik oder Sachbuch, bei ukrainischen Autorinnen und Autoren oder bei Übersetzungen. Auch die Lesegewohnheiten änderten sich allmählich, neue Leserinnen und Leser kamen hinzu.

Vor der Krim-Annexion und dem von Russland 2014 angezettelten Krieg im Donbas lag der Anteil russischsprachiger Bücher laut Schätzungen einiger Verleger bei 90 Prozent. Ein paar Jahre später sank er auf 50 bis 60 Prozent. Seit 2023 werden im ukrainischen Buchhandel keine russischen Bücher mehr verkauft.

Die Ursachen für den schnellen Anstieg der Zahlen von Studenten und Doktoranden, auch wenn dieser ebenfalls eine direkte Folge des russischen Überfalls auf die Ukraine ist, ist anderer Natur. Es geht hier weniger um die Wissenschaft, sondern vielmehr um das männliche Geschlecht. Denn das Studium oder das Basteln an einer Doktorarbeit ist eine legale Möglichkeit, einen Aufschub bei der Mobilisierung zu bekommen. Ganz nebenbei verdienen dabei die Unis, denn Studierende und Doktoranden, die bei den Tests die staatlich finanzierte Quote verfehlt haben, müssen für das Studium bezahlen.

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Ein Extremfall sorgte im vergangenen Jahr für Schlagzeilen. Die Klassische Privatuniversität im ostukrainischen Saporischschja überschritt das vom Bildungsministerium festgesetzte Limit um das 20-fache. Plötzlich gab es dort über 3,400 Doktoranden. Wie viele davon Frauen waren, wurde nicht berichtet. Der Uni wurde die Lizenz entzogen.

Oder nehmen wir ein anderes Beispiel – ein demografisches. Seit vielen Jahren kämpft die Ukraine mit dem Rückgang der Geburtenraten. Nach der Orangen Revolution von 2004 versuchte die Regierung, finanzielle Anreize zu schaffen. Das Kindergeld wurde sprunghaft erhöht. Das führte zunächst tatsächlich zum Anstieg der Geburtenzahlen, was womöglich mehr auf den damaligen grundsätzlichen Optimismus bei jungen Menschen und weniger auf den Geldbonus zurückzuführen war. Immerhin warben in den späten Nullerjahren plötzlich alle Parteien bei jeder Parlamentswahl mit weiteren Erhöhungen des Kindergeldes. Wenige Jahre später, in der düsteren Zeit des immer autoritärer regierenden Möchte-Gern-Diktators Victor Janukowitsch war es mit dem Optimismus endgültig vorbei – Kindergeld hin oder her. Seitdem gehen die Geburtenzahlen wieder nach unten. Die russische Aggression ab 2014 und die Großinvasion ab Februar 2022 hatten eine weitere Verschlechterung der demografischen Lage zur Folge. Bis im vergangenen Jahr die knapp 500.000 Todesfälle die Gesamtzahl der Neugeborenen (rund 177.000) fast um das Dreifache überstiegen.

Eine Bekannte sagte mir neulich, dass ihre Tochter ein drittes Kind erwartet. „Ich weiß nicht, was da los ist“, behauptete sie nicht ohne Stolz. Das Elternpaar ist nicht einmal dreißig. Auch aus anderen Ecken höre ich, dass hier und da in den jungen Familien das dritte Kind schon auf der Welt ist. Oder auf dem Weg. Ich will diesen Menschen auf gar keinen Fall etwas unterstellen. Es ist nur so, dass Väter von drei minderjährigen Kindern nicht in die Armee eingezogen werden. Es werden keine Statistiken darüber geführt, wie viele junge Männer in den letzten paar Jahren dreifache Väter geworden sind. Zumindest werden keine veröffentlicht. Könnte dies zumindest zur Verbesserung der demografischen Situation führen? Wer weiß …

Lemberg, den 7. September, abends

Der alte Mann ging leichten Schrittes voran. Ein kleingewachsener, drahtiger Typ, weit über siebzig, arbeitete sich munter den schmalen Pfad entlang, auf dessen beiden Seiten noch Schneereste lagen. Ich stapfte ihm hinterher. Angekommen am Grab seiner Mutter, wischte Johann mit dem Ärmel seiner dünnen Jacke ein paar Schneeflocken vom Grabstein weg und sagte in einem deutschen Dialekt, den er selbst als „Schwobisch“ bezeichnete: „Ich gehöre hierher. Das ist meine Heimat. Ich will hier sterben“.

Die Geschichte der deutschen Siedler in Transkarpatien beginnt im späten 17. Jahrhundert. Der Zuzug beschleunigte sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit der sogenannten „Schönbornschen Schenkung“, als der Graf von Schönborn vom österreichischen Kaiser die enteigneten Besitzungen des ungarischen Adelsgeschlechts Rákoczi erhielt. In der Gegend um und in Mukatschewo (Munkacz) ließen sich vor allem fränkische Bauern nieder. Im Laufe der späteren Jahrzehnte zogen auch in andere Gebiete Transkarpatiens, darunter in einige abgelegene Bergtäler, Siedler aus Böhmerwald, Salzkammergut und Niederösterreich. Im Jahr 1930 lebten in Transkarpatien, das in der Zwischenkriegszeit zur Tschechoslowakei gehörte, knapp 14.000 Deutsche. Sie alle nannten sich selbst Schwaben und ihre Dialekte Schwobisch/Schwäbisch, egal ob es sich um fränkische oder bairische Mundarten handelte. Der Zweite Weltkrieg und die Eingliederung des Gebiets in die Sowjetunion dezimierten die deutschsprachige Bevölkerung, die in den ersten Nachkriegsjahren Deportationen, Zwangsarbeit und später jahrzehntelange Unterdrückung erfahren musste. Mit der zurückgewonnenen Freiheit nach der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 setzte die große Auswanderungswelle nach Deutschland ein. Zehn Jahre später waren im Raum Mukatschewo nur noch rund 1.500 Deutsche registriert. Eine Mundart gesprochen hatte nicht einmal die Hälfte davon.

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Nach dem Kriegsende wurde Johann – kaum volljährig – in ein Arbeitslager im Osten der damaligen Sowjetukraine geschickt. Im Donbas musste er vier Jahre lang Zwangsarbeit in dortigen Kohlengruben leisten. Erst 1949 kam er frei, blieb noch zwei weitere Jahre im Donbas, bis er wieder nach Mukatschewo zurückkehrte. Er kam nicht allein nach Hause zurück, sondern brachte eine russische Frau mit, die er inzwischen geheiratet hatte. Bald lernte sie die deutsche Mundart, die ihre Schwiegermutter sprach, denn es war außer Ungarisch, was noch viel schwieriger zu beherrschen gewesen wäre, die einzige Sprache, in der eine Kommunikation zwischen den beiden möglich war. Als ich da war, lag Johanns Frau schwer krank im Bett und konnte nicht mehr aufstehen. Er gehe kurz zum Grab seiner Mutter, komme bald wieder zurück, sagte ihr der alte Mann. Er sagte es auf Schwobisch.

Bald nach der Rückkehr kam Johanns Tochter zur Welt. Sie hatte keinen deutschen Namen mehr. Vielleicht war es ein Kompromiss oder ein Zugeständnis an die russische Ehefrau. Walentyna wuchs in der Nachkriegszeit auf, als Deutsch in der Sowjetunion verboten und verpönt war. Wenn man in der Schule dabei erwischt wurde, dass man in der Pause nur einen Halbsatz auf Deutsch sagte, bekam man sofort die Note „ungenügend“. Auch auf der Straße traute man sich nicht, Deutsch zu sprechen, selbst da, wo in den Häusern deutsche Familien wohnten. Nur zu Hause, nicht allzu laut, hinter zugezogenen Gardinen unterhielt man sich nach wie vor auf Schwobisch.

Am Nachmittag saßen wir – der alte Johann, seine Tochter, seine Enkelin und sein Urenkel – in Walentynas Haus irgendwo in Mukatschewo, tranken Tee und plauderten. Walentyna sprach recht gut Deutsch, auch wenn ihr ein starker ukrainischer Akzent anzumerken war. Sie wollte etwas für die deutsche Gemeinde tun, engagierte sich im Kulturverein, kandidierte sogar für den Stadtrat von Mukatschewo. Und wollte nach Deutschland auswandern. Ihr erster Antrag wurde abgewiesen – mit der Begründung, dass ihre Mutter eine Russin sei. Nun war sie dabei, einen zweiten Anlauf zu unternehmen.

Johanns Enkelin – ich kann mich nicht mehr an ihren Namen erinnern – saß mit am Tisch, redete kaum und hatte nur einen Traum: Weg von hier nach Deutschland. Nach den turbulenten 1990er-Jahren, als es nur noch bergab ging, erholte sich das Land nur allmählich, und in der Provinz kam der Aufschwung erst gar nicht wirklich an. So war der Wunsch der jungen Frau vielleicht verständlich, zumal die Auswanderungswelle der Deutschen aus Transkarpatien noch andauerte. Das Problem war nur, dass die Enkelin kaum noch Deutsch sprach, und verstehen konnte sie in der Muttersprache ihres Großvaters auch nicht besonders viel.

Und der Urenkel? Der quirlige Junge sprang herum, lief in den Hof hinaus, spielte mit dem Hund, rannte zurück in die Küche. In der Schule wusste jeder, dass der Zehnjährige deutschstämmig war; er lernte Deutsch als Fremdsprache und war … der schlechteste Schüler im Deutschunterricht.

Danach hatte ich keinen Kontakt mehr zu der Familie, wir haben uns aus den Augen verloren. Ich weiß nicht, ob Walentyna und ihre Tochter ihren Traum verwirklichen und nach Deutschland ausreisen konnten. Ich weiß nicht, ob der Junge, der heute knapp dreißig sein wäre, im Ausland oder an der Front ist. Ich weiß nicht, wie viele Deutsche noch in der Gegend geblieben sind. Das nahe Ende ihrer Siedlungen in dieser Region war aber damals mit bloßem Auge zu erkennen. Die Deutschen und ihre Mundarten haben die Repressalien des kommunistischen Systems überlebt, aber nicht dessen Tod und die nachfolgende Öffnung der Grenzen. Die neue Freiheit hat diese Insel in ihre Fluten mitgerissen und eine dreihundertjährige Tradition wie ein Kartenhaus zum Einsturz gebracht.

Als ich aus Walentynas Haus, wo sich gerade vier Generationen versammelten, auf die Straße trat, musste ich unwillkürlich an die „Buddenbrooks“ denken. Ein Pferdewagen fuhr vorbei. Darauf saß eine alte Frau; sie telefonierte selbstvergessen mit ihrem Handy (die ersten Mobiltelefone hatten inzwischen auch die letzten Ecken der Welt erobert) und beachtete überhaupt nicht das Geschehen auf der Straße. Die Stute zog den Wagen, sie schritt langsam und gleichmäßig, kümmerte sich nicht um die mit Tauwasser gefüllten Löcher im Straßenbelag, der nur noch entfernt an den Asphalt erinnerte. Offenbar kannte sie Weg. Ich dachte mir, sie würde auch den Gang der Geschichte kennen.

Lemberg, den 30. August, abends

Als Russland neulich die nur knapp 40 Kilometer von der ungarischen Grenze entfernte Stadt Mukatschewo angegriffen hat (genau eine Woche vor dem letzten tödlichen Luftangriff auf Kiew, der mindestens 25 Menschenleben gekostet hat), war man wohl selbst in Budapest überrascht. Die Überraschung muss sogar so groß gewesen sein, dass der ungarische Präsident in einem Facebook-Post den Opfern des russischen Angriffs sein tiefes Mitgefühl ausgesprochen hat. Bald ist jedoch das Wort orosz, was auf Ungarisch nichts anderes als russisch bedeutet, aus dem Text verschwunden. Plötzlich war nur noch von einem Raketenangriff die Rede, den irgendeine unbekannte Macht ausführte, vielleicht ja gar Außenirdische.

Dass Mukatschewo, eine Stadt mit knapp über 80.000 Einwohnern in Transkarpatien, im äußersten Südwesten der Ukraine gelegen, plötzlich unter Beschuss stand, war seltsam genug. Denn nach dem russischen Überfall wurde die Region – von einem Angriff auf ein paar Eisenbahntrafos in den ersten Kriegstagen im Norden Transkarpatiens (fast schon an der Grenze zur benachbarten Oblast Lemberg) abgesehen – nie angegriffen. Mit seiner bedeutenden ungarischen Minderheit schien Transkarpatien einen besonderen Schutz Viktor Orbáns vor russischen Angriffen zu genießen, der sich in seinen revisionistischen Träumen von Großungarn gerne als Beschützer der Auslandsungarn aufspielte. Offenbar wurden diese Ansprüche des ungarischen Ministerpräsidenten, der nicht nur immer bemüht war, die EU-Hilfen für die Ukraine und Sanktionen gegenüber Russland zu blockieren, sondern auch ansonsten als Moskaus Verbündeter galt, von der russischen Führung akzeptiert, ja vielmehr willkommen geheißen.

Noch seltsamer war die Tatsache, dass in Mukatschewo durch den russischen Luftangriff ein US-Unternehmen getroffen und schwer beschädigt wurde. Die Fabrik des an der NASDAQ notierten Herstellers ziviler Elektronik Flex Ltd. (mit zwei Hauptquartieren in Austin und Singapur) war eine der größten Investitionen eines privaten US-Unternehmens in der Ukraine. Selbst Donald Trump brachte im Gespräch mit Wladimir Putin seine Unzufriedenheit zum Ausdruck. Allerdings bleibt unklar, worüber er mehr verärgert war – den russischen Angriff auf ein US-Unternehmen oder mit die Tatsache, dass die Ukraine bisher nicht kapituliert hat.

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass mir der Standort von Flex Ltd. in Mukatschewo, wo immerhin bereits seit 2012 produziert wird, nicht bekannt war. Von Mukatschewo, dem Erzrivalen Uschhorods in Transkarpatien, bleiben mir vor allem drei Dinge in Erinnerung.

Das erste ist recht unromantisch – eine kaputte Umgehungsstraße. Auf dem Weg zur beziehungsweise von der ungarischen Grenze war ein Stück Asphalt bereits kurz nach dem Silvesterfest immer mit tiefen Kratern durchsiebt. Vielleicht schon früher oder sogar das ganze Jahr über, das weiß ich nicht, weil der Zufall – besser gesagt, der Skiurlaub – wollte, dass wir immer mitten im Winter über Ungarn nach Österreich gefahren sind. Dieses Teilstück kostete uns viel Zeit, bot aber gleichzeitig einen wunderbaren Blick auf einen Hügel, auf dessen Spitze eine alte Burg stand.

Diese Burg, die mir seit vielen Jahren bekannt ist und die ich wohl schon in der Sowjetzeit zum ersten Mal besucht habe, ist meine zweite Erinnerung an Mukatschewo. Man könnte sie sogar als romantisch einstufen, wenn man denn nicht beachten würde, was mich dort am tiefsten beeindruckt hat: der Abort. Nicht, dass mich die Geschichte dieser bereits im 11. Jahrhundert zum ersten Mal erwähnten und später mehrmals umgebauten und erweiterten Burganlage, die, seit dem späten 17. Jahrhundert im österreichischen Besitz, zunächst als Festung und später als Gefängnis fungierte, in der Sowjetzeit eine Fachschule beherbergte und heutzutage ein Museum ist, kaltgelassen hätte. Aber die Toiletten hatten eine Dimension, die einen zum Fantasieren über das Römische Reich und dessen für die damalige Zeit hohen Hygienestandards oder über das Heilige Römische Reich, dessen Kaiser die Habsburger durchgehend gestellt hatten, verführte.

Meine dritte Erinnerung an Mukatschewo ist ganz anders. Sie hat etwas mit mehreren Generationen einer Familie zu tun, der ich dort vor etwa zwanzig Jahren begegnet bin und über die man – Thomas Mann nachahmend – einen Roman schreiben könnte. Aber das werde ich einmal in einem anderen Tagebucheintrag erzählen.

Lemberg, den 25. August, abends

Ein Jahrestag ist immer ein Anlass für besondere Stimmung. Umso mehr, als es sich um die Unabhängigkeitserklärung handelt, die das ukrainische Parlament, die Werchowna Rada – damals noch von Kommunisten dominiert – am 24. August 1991 verabschiedet hat. Es ist ein Anlass für Nationalflaggen an Häuserfassaden. Für ukrainische Trachten und fürs Flanieren im Stadtzentrum. Für Festreden und Konzerte. Für Glückwünsche aus der zivilisierten Welt. Für Beleuchtung der Parlamente, Regierungsgebäude und markanten öffentlichen Bauwerke in blau-gelb – in Brüssel, Ottawa, Rom, Riga oder sonstwo. Für russische Luftangriffe, die an diesem Tag ebenso wenig ausgeblieben sind wie an allen anderen.

Es ist aber auch eine Gelegenheit für Meinungsumfragen. Im Sommer 2021 führte die Agentur Rating Group zum 30. Jahrestag der Unabhängigkeit – sieben Jahre nach der Annexion der Krim sowie dem von Russland angezettelten und heimlich geführten Krieg im Donbas und kaum sieben Monate vor der russischen Großinvasion – eine große Umfrage durch. Eine besondere Aufmerksamkeit galt der „Generation Unabhängigkeit“ – jenen jungen Menschen, die bereits nach dem Zerfall der Sowjetunion geboren wurden. Diese Zäsur war gewissermaßen symbolisch – auch jemand, der in den letzten Jahren des kommunistischen Imperiums zur Welt kam, wurde nicht mehr im Arbeiter-und-Bauern-Land sozialisiert. Es ging also um jene Generation, die noch zu jung war, um bei der Orangenen Revolution von 2004 aktiv mitzuwirken, aber bereits entscheidend den Euromaidan von 2013/2014 prägte, weil sie spürte, wie das korrupte und autoritäre Janukowytsch-Regime sie der Zukunft beraubte. Nicht einmal zehn Jahre später standen viele dieser jungen Menschen (aber nicht nur sie!) nach dem russischen Überfall Schlange vor Wehrersatzämtern. Nicht wenige sind seitdem im Krieg gefallen. Die ältesten von ihnen wären – oder sind – heute vierunddreißig.

2021 stellte man fest, dass die „Generation Unabhängigkeit“ am tolerantesten war; dass junge Menschen unter dreißig stolz auf die Ukraine waren und sowohl an ihre persönliche Zukunft als auch an die Zukunft ihres Heimatlandes glaubten; sie identifizierten sich selbst zugleich als Ukrainer und Europäer; waren motiviert und zufrieden mit ihrem Leben und sprachen sich mit großer Mehrheit für den Beitritt ihres Landes zur Europäischen Union und Nato aus (im Osten und im Süden war es damals – anders als heutzutage – die einzige Altersgruppe, in der die Nato-Anhänger klar überwogen). Was bei ihnen beinahe komplett fehlte, waren nostalgische Gefühle für die Sowjetunion. Die schwanden aber auch bei anderen Altersgruppen recht schnell – selbst die meisten Über-60-Jährigen verspürten keine Sehnsucht nach dem Kommunismus mehr.

Auch in diesem Jahr wurden Meinungsumfragen durchgeführt. Ein Ergebnis ist dabei wirklich bemerkenswert: Im vierten Jahr nach der russischen Großinvasion glauben 80 Prozent der Befragten an den ukrainischen Sieg. Nicht nur die „Generation Unabhängigkeit“. Durchgängig. Das ist eine gute Antwort auf jemandes Vorstellungen, dass man eine solche Nation in die Knie zwingen kann.

Lemberg, den 17. August, nachmittags

Die meisten Beobachter stufen das Alaska-Rendezvous zwischen Donald Trump und Wladimir Putin nun irgendwo zwischen einer Dreiviertel- und einer Viertelkatastrophe ein. Das sind die Pessimisten. Mit etwas mehr Fantasie könnte man es durchaus als einen Erfolg bewerten. Denn jeder hat dort das bekommen, was er eigentlich wollte – beziehungsweise musste.

Putin bekam einen roten Teppich und eine unbefristete Verlängerung der Lizenz zum Töten; Trump ein halbstündiges Gespräch beim Fox, (das mich in der Untertänigkeit des Korrespondenten an manch ein Interview eines deutschen öffentlich-rechtlichen Senders mit dem russischen Präsidenten aus der nicht allzu fernen Vergangenheit erinnerte), wo er zusammen mit dem Journalisten über seine fantastische Gabe, Kriege zu beenden, sinnieren konnte; Alaska und Anchorage bekamen einen Staatsbesuch, dazu noch eines Kriegsverbrechers, was wohl ein einmaliges Ereignis in der Geschichte des Staates bleiben wird; der russische Außenminister die Gelegenheit, sein schräges Modebewusstsein zu zeigen, als er bei seiner Ankunft in einem hellen Sweatshirt mit einer Aufschrift СССР provozierte, von der unter einer ärmellosen Jacke dezent und symbolisch nur die beiden ersten Buchstaben zu sehen waren; der finnische Präsident womöglich eine Partie Golf und eine neue Chance, seinen amerikanischen Amtskollegen vom unübertrefflichen Putin-Zauber zu befreien; Kanada und Grönland wurde eine vorübergehende Pause in der wilden und nervigen Annexionsrhetorik gegönnt; die Norweger bekamen unverblümte Andeutungen, dass ein großer Friedensstifter am Nobelpreis interessiert sei; der tschechische Außenminister sah sich verpflichtet, in einem Tweet an die düstere Prognose des vormaligen und zukünftigen britischen Außenministers Anthony Eden zu erinnern, der kurz vor dem Münchner Abkommen vom September 1938 (das die Tschechoslowakei dazu zwang, das Sudetenland an Deutschland abzutreten) warnte, dass man durch eine Politik der Nachgiebigkeit gegenüber Gewalt zwar vorübergehend Ruhe schaffen, aber keinen dauerhaften Frieden erreichen könne; der ungarische Premierminister nutzte die Gunst der Stunde, um die Weisheit des US-Präsidenten wieder einmal zu loben; die Regierungschefs im übrigen Europa bekamen das Kopfzerbrechen und die Okkasion, innerlich zu fluchen und äußerlich Ruhe zu bewahren; und die Ukraine – die Aufgabe, den angerichteten Schaden zu reparieren. Ansonsten ging sie leer aus, doch in so einer illustren Gesellschaft muss ja jemand leer ausgehen, besonders wenn der Gastgeber einen Diktator derlei hofieren will.

Grundsätzlich will man jedoch optimistisch bleiben. Denn von allen Definitionen des Unterschieds zwischen einem Pessimisten und einem Optimisten gefällt mir der Witz, den ich vor vielen Jahren vom polnischen Dissidenten, Historiker, Publizisten und späteren zweimaligen Außenminister Władysław Bartoszewski gehört habe, am besten: Ein Pessimist sagt, dass alles ganz schlimm sei. Ein Optimist meint, es hätte noch viel schlimmer kommen können.

Lemberg, den 15. August, vormittags

Dass die Ukrainer nicht gefragt werden, was sie von Putin halten, ist verständlich. Es wäre ja grundsätzlich eine Zeitverschwendung. Man kann sich vorstellen, was da rausgekommen wäre. Es würde reichen, einen Blick auf die jüngste Umfrage der ukrainischen „Rating Group“ zu werfen – 95 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer sind für die Unabhängigkeit ihres Landes. Das ist sogar mehr, als bei der Volksabstimmung von 1991, die den Zerfall der Sowjetunion endgültig besiegelt hat. Aber die unabhängige Ukraine ist mit den grotesken, wahnwitzigen Vorstellungen des Moskauer Diktators über das großrussische Reich, der nicht bloß die Existenz der ukrainischen Nation abstreitet, sondern auch das Recht der Ukrainer darauf, schlicht und einfach inkompatibel.

Kein Wunder, dass Putins „Friedensplan“ nicht anderes als eine Kapitulation der Ukraine vorsieht. Demzufolge soll die Ukraine nicht nur die von Russland besetzten Gebiete, sondern zusätzlich auch die administrativen Regionen (Oblaste) Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson gänzlich abtreten, wovon Kyjiw derzeit größere oder kleiner Teile kontrolliert, und die Russland auch dreieinhalb Jahre nach dem Überfall nicht militärisch erobern konnte; die Ukraine soll sie zudem als russisches Territorium anerkennen, ihre Streitkräfte und Waffensysteme stark reduzieren und auf den Nato-Beitritt für immer verzichten; der Westen soll alle Sanktionen aufheben. Die Ukraine darf sich zwar um den EU-Beitritt bemühen, was Moskau offenbar als Zugeständnis interpretiert und gleichzeitig alles daran setzten wird, dass seine „Freunde“ in der Europäischen Union dies verhindern. Dafür wird Russland aufhören zu schießen. Vielleicht. Für eine gewisse Zeit. Selbst wenn sich Putin mit einem Teil dieser Forderungen durchsetzt, wird dies nichts anderes als eine Belohnung für den Aggressor bedeuten. Und eine Niederlage für die freie Welt.

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Mit einer überwältigenden Mehrheit lehnen die Ukrainer diesen „Friedensplan“ ab. Laut einer Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologe (KIIS) von Ende Juli/Anfang August nannten 76 Prozent der Befragten die russischen Forderungen als völlig inakzeptabel, lediglich fünf Prozent waren bereit, sie problemlos zu akzeptieren. Wenn man die ukrainischen Soldatinnen und Soldaten gefragt hätte, wäre die Ablehnung noch wesentlich höher gewesen. Aber in der Armee werden keine Umfragen gemacht.

Dafür fragt man die Ukrainer, was sie vom US-Präsidenten halten. Und da hat sich ein ziemlich klarer Wandel vollzogen. Nach der Wiederwahl von Donald Trump waren mehr als die Hälfte der Befragten (hier wiederum laut einer Umfrage von KIIS) der Meinung, dass die Wahl für ihr Land gut sei. Was für eine Illusion! (Nicht zuletzt wurde sie durch Enttäuschung über die zögerliche Haltung der Biden-Administration gefördert). Im Juni glaubten das nur noch 16 Prozent. Drei von vier Befragten waren inzwischen überzeugt, dass Donald Trump ein Problem ist.

Eigentlich müsste der US-Präsident aufpassen, dass in den Weiten Alaskas kein politisches Ungeheuer geboren wird. Doch niemand weiß, ob er das tatsächlich will. Wenn nicht, dann wird Alaska nur die Tür zu neuem Horror aufmachen. Oder sogar sperrangelweit aufreißen.

Lemberg, den 29. Juli, abends

Ich muss gestehen, dass ich die Nachricht über das neue Ultimatum des US-Präsidenten an Russland mit einer gewissen Skepsis registriert habe. Ganz zu Unrecht. Denn es ist eigentlich eine durchaus erfreuliche Nachricht – man muss nur zehn Tage warten, bis nichts (oder zumindest nichts Vernünftiges) passiert, und keine fünfzig. Vielleicht ist es der Tatsache geschuldet, dass ich angesichts der Flut von Deadlines und Ultimaten, die verkündet, aufgehoben, verschoben, geändert und wieder zurückmodifiziert wurden, schon längst verwirrt bin. Ansonsten kommt zuletzt in meinen Texten der Name Trump sogar öfter vor als der Name Putin. Deswegen empfehle ich meinen Leserinnen und Lesern diesen Text auf ihrem Telefon nicht zu speichern, wenn sie eine Reise in die USA planen. Andere Texte auch nicht.

Aber vielleicht irre ich mich gewaltig, vielleicht ist es tatsächlich das beste Ultimatum aller Zeiten, zumal es vage Anzeichen dafür gibt, dass sich die Einstellung des US-Präsidenten zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine langsam ändert und die zusätzlichen Patriot-Luftabwehrsysteme schon unterwegs sind. Fast. Ich meine hier wirklich das deutsche „fast“, nicht das englische. Und vielleicht benehme ich mich sowieso falsch mit meinem sarkastischen Gelaber in einer Zeit, wo man mit Schmeicheleien viel mehr erreichen kann, beispielsweise eine Senkung der US-amerikanischen Importzölle? Wo sich beinahe die ganze Welt an einem sozialistischen Schmeichlerwettbewerb beteiligt, als hätte man sich zum Ziel gesetzt, die machiavellische Maxime über den Zweck, der die Mittel heiligt, als Farce zu reinkarnieren.

Aber wenn man sich schon als Enfant terrible aufführt, dann sollte man konsequent sein, zumindest in diesem einen Text. Ich probier’s.

Vor einiger Zeit hat mich die Redaktion gebeten, etwas über die Meinungen der Menschen in der Ukraine zu schreiben. Ich habe mir monatelang überlegt, ob dies kein Eingriff in meine schriftstellerische Freiheit wäre und bin zum Schluss gekommen, dass es nicht der Fall ist. Also werde ich jetzt versuchen, diesem frommen Wunsch nachzukommen. Einsteigen möchte ich jedoch mit einer anderen Geschichte.

In der britischen Sitcom „Mind Your Language“ aus den späten 1970er-Jahren lernt eine Gruppe Ausländer in London in einem Abendkurs Englisch. Der junge Lehrer gibt sich große Mühe, ihre Sprachkenntnisse zu verbessern, hat damit aber nur wenig Erfolg. Die Sitcom ist gespickt mit gängigen Klischees, über die sich die Autoren lustig machen und die sie ständig persiflieren. In einer Episode bringt Giovanni, ein italienischer Schüler, eine Flasche Wein mit in den Unterricht und nimmt hin und wieder einen Schluck. Als der Lehrer den Raum betritt und ihn fragt, was das sei, findet der überraschte Giovanni zunächst keine Antwort. Dann eilt ihm sein griechischer Freund Max zu Hilfe: „It’s water!“ „Water? That’s wine!“, kontert der Lehrer empört, nachdem er am Flaschenhals gerochen hat. „Santa Maria! Another miracle!“, ruft fröhlich Giovanni.

Nun aber zurück zu unserem Vox populi. Bei den Präsidentschaftswahlen von 2019 war Lemberg kein gutes Pflaster für Wolodymyr Selenskyj. Es war die einzige Region des Landes, wo der damalige Amtsinhaber Petro Poroschenko klar gewonnen hat, und zwar mit einem beinahe umgekehrten Ergebnis. Die hartgesottenen Poroschenko-Fans bleiben ihm bis heute treu und für jedes Gegenargument unempfänglich. Wie bei … na ja, Sie wissen schon, wen ich meine.

Kurz nach dem Debakel beim ersten Treffen zwischen Donald Trump und Wolodymyr Selenskyj im Oval Office, verriet eine Bekannte meiner Frau im Schwimmbad: „Ich bin zwar eine treue Poroschenko-Anhängerin, doch nun stehe ich fest hinter meinem Präsidenten“. Auch Donald Trump kann wahrhaftig Wunder vollbringen.

Lemberg, den 13. Juli, nachmittags

Die friedliche Sommerpastorale endet in der Nacht. Nach allen Regeln der Dramaturgie müsste das plötzlich und unerwartet kommen. Es kommt aber anders. Wie könnte es denn plötzlich und unerwartet sein, wenn es sich seit dreieinhalb Jahren wiederholt?

Eine Sirene heult auf. Für Kleinkinder ist es womöglich nur die „Tante Sirene“, die uns alle beschützt. Dann steigen sie, in einer Kita aus dem Nachmittagsschlaf gerissen, ruhig in den Schutzkeller hinab, ohne in Panik zu geraten. Bei den Erwachsenen funktioniert dieses Argument in der Regel weniger gut. Schon gar nicht in der Nacht in einer Stadt im Hinterland, wo die Luftalarme oft, die Angriffe aber rar sind.

In unserer Gegend heulen drei Sirenen zeitversetzt hintereinander auf. Jede in einer anderen Tonlage und in unterschiedlicher Lautstärke. Jede aus der anderen Himmelsrichtung, als wollte jemand einen Dolby-Surround-Klang erzielen – vergeblich. Denn es hört sich eher an, als ob ein nicht besonders begabter Musiker einen Kanon komponiert hätte, aber weder melodisch noch harmonisch überzeugen könnte.

Nach wenigen Minuten herrscht wieder Nachtstille. Ich stelle mir vor, wie John Cage am Klavier sitzt und sein Publikum die gesamte im Dunkel der Nacht versinkende Stadt ist. Doch die Stille dauert länger als 4’33’’, viel länger. Jemand könnte fast glauben, unendlich lange.

Vielleicht ist die Stille doch gar nicht so still, wie man denkt? Es gibt ja immer irgendwelche Geräusche. „The Sounds of Silence“, wie einst Paul Simon und Art Garfunkel sangen. Lauscht man aufmerksam in die Stille hinein, kann man ein gedämpftes Geräusch der Flugzeugmotoren heraushören. Was soll das denn sein? Die iranischen Drohnen klingen anders, viel aggressiver (wie ein Mofa!), bevor sie sich wie ein Sturzbomber aus dem Zweiten Weltkrieg auf ihr Ziel hinabstürzen. Die meisten werden zum Glück schon vorher abgeschossen. Ein Bekannter von mir erzählte einmal, dass er aus dem Fenster seiner Wohnung den Flughafen überblicken kann. Hin und wieder sah er nach dem Luftalarm Flugzeuge starten. Danach hat es eine halbe Stunde später gekracht. Das Muster wiederholte sich.

Auch in der Nacht zum vergangenen Samstag hat es gekracht – zehn oder zwölf Mal. In dem bisher massivsten Angriff auf Lemberg. Zum Glück keine Toten, „nur“ zwölf Verletzte, darunter ein Kind. Drei Personen im Krankenhaus; man weiß nicht, wie schwer ihre Verletzungen sind. Vier Dutzend beschädigter Häuser, zwei davon nicht mehr bewohnbar. Über fünfhundert kaputte Fenster.

Wenige Minuten nach den Einschlägen heulten in der Ferne die Sirenen der Feuerwehr kurz auf. Und der Krankenwagen. Bald danach wurde es wieder still. „And no one dared / Disturb the sound of silence“, tönte es in meinen Ohren, während das Wasser leise in der Badewanne rauschte. Wie in Paul Simons Badezimmer vor zweiundsechzig Jahren.

Lemberg, den 6. Juli, nachmittags

Der Fluss plätschert unsichtbar hinter dem Fenster. Ganz bestimmt bilde ich mir es nur ein. Vielleicht ist es bloß der Verkehrsfluss. Denn der echte Fluss ist nicht nur unsichtbar, sondern auch unhörbar. Seit mehr als 150 Jahren unter die Erde verbannt, fließt er nun, in seinen unterirdischen Verließ eingekerkert, unter der Stadt und sogar unter den beiden zentralen Figuren des ukrainischen und polnischen nationalen Dichterpantheons – Taras Schewtschenko (1814 bis 1861) und Adam Mickiewicz (1798 bis 1855). Ihre Denkmäler trennen keine hundert Meter, sie sind aber in einem Bogen so platziert, dass die beiden Poeten sich nicht einmal sehen können. Sie waren einander auch zu Lebzeiten nie begegnet. Und nie in Lemberg gewesen. Sie suchen sich nicht einmal gegenseitig mit ihren Blicken, sondern schauen gen Westen. Hoffnungsvoll, würde man gerne glauben.

Heutzutage ist Schewtschenko mit einem breiten Platz vor dem Denkmal eher fürs Skateboarden und Liedersingen zuständig, Mickiewitsch dagegen, eingeengt im vorbeifließenden Autoverkehr, für Blumen und Kranzniederlegung. Und beide – für Schnappfotos von Touristen und Stadtbewohnern.

Kaum zwei Kilometer von der Altstadt entfernt verirren sich manchmal die Eichhörnchen in unsere Straße. Der Park liegt um die Ecke, Dächer und Bäume dicht beieinander. Am Spätabend kommt ein Igel aus der Nachbarschaft, trabt unter die parkenden Autos, seine Stacheln produzieren einen eigenartigen, metallenen Klang unter den Karosserien und lassen die Hunde, die gerade von ihren Frauchen und Herrchen ausgeführt werden, aufhorchen. Etwas später in der Nacht kann auch ein Marder an einer Hausmauer vorbeihuschen. Unsere Katze jagt Schmetterlinge und Mücken. Und passt auf Fledermäuse auf. Denn davon gibt es in der Gegend auch zuhauf. Sie wohnen im Park oder in den Dachgeschossen der alten Häuser, in denen kleine Dachfenster längst kaputt sind.

Vor einigen Jahren flog eine Fledermaus in unsere Wohnung herein. Die Fenster waren angelehnt, sie fand nicht mehr den Weg hinaus. Meine Frau verkroch sich unter der Decke, während die Fledermaus munter ihre Runden durch die Wohnung drehte und ziemlich viel Wind aufwirbelte. Ich versuchte, sie mit einem Kescher zu fangen, um sie auf dem Balkon wieder freizusetzen, aber alle meine Mühen waren vergeblich. Die Fledermaus wich mithilfe ihres Ultraschallradars sämtlichen Hindernissen geschickt aus. Ich kapitulierte, machte alle Fenster auf und wartete. Irgendwann flog sie wieder weg. Gut, dass sie nicht auf die Idee kam, ihre gesamte Sippe in unsere Wohnung einzuladen. Doch das alles war bestimmt vor dem Großen Krieg. Und bei einer extremen Hitzewelle.

In diesem Jahr ist die Hitze bislang ausgeblieben. Und wenn sie kommt, dann sind es nur noch ein paar Wochen, bis der Nussbaum im Hinterhof die ersten Nüsse abwirft. Man wird lediglich die Hand ausstrecken müssen, um sie zu pflücken.

Es ist eine Idylle. Mitten in der Stadt, mitten in der Natur. Herrliches Wetter. Üppiges Grün. Überfüllte Sommerterrassen der Cafés. Feines Essen. Ein junger ukrainischer Weißwein. Ein unerbittlich wachsender Soldatenfriedhof.

Lemberg, den 23. Juni, mittags

Wir sitzen im Politikunterricht einer Schulklasse. Die Lehrerin präsentiert den Schülern ein Zitat aus einer Presserklärung und bittet sie, die Aussage einzuordnen. Die Frage: Um welche in diesem Text nicht namentlich erwähnte Länder könnte es sich handeln? Und welches Land oder welche Organisation hat die Erklärung abgegeben? Die entsprechende Passage lautet wie folgt:

„Die verantwortungslose Entscheidung, das Hoheitsgebiet eines souveränen Staates Raketen- und Bombenangriffen auszusetzen, verstößt – ungeachtet der vorgebrachten Argumente – in eklatanter Weise gegen das Völkerrecht, die Charta der Vereinten Nationen und die Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, der solche Aktionen zuvor unmissverständlich als unzulässig bezeichnet hatte. Besonders besorgniserregend ist, dass die Angriffe von einem Land ausgeführt wurden, das ständiges Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen ist“.

Bevor Sie weiterlesen, können Sie den Bildschirm mit einem Blatt Papier abdecken und selbst raten, welche Länder hier gemeint sind und wer diesen Text verfasst haben könnte.

„Es muss sich um den russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 handeln“, sagt eine Schülerin. „Zwar werden hier keine Panzer und Bodentruppen erwähnt, Russland hat aber zweifellos einen souveränen Staat angegriffen“.

„Angenommen, Sie haben recht“, räumt die Lehrerin ein. „Wer könnte dann die Erklärung verfasst haben?“

„Wahrscheinlich einer der westlichen Staaten, vielleicht sogar die Europäische Union“, antwortet das Mädchen etwas verunsichert.

„Leider nicht“, antwortet die Lehrerin. „Hier handelt es sich nicht um die russische Invasion in der Ukraine und es ist kein westlicher Staat, der diese Erklärung verfasst hat. Ein kleiner Tipp – es geht um einen Fall aus unserem Jahrhundert“.

„Ich habe eine Idee“, ruft ein Schüler ungeduldig. „Russland hat ja 2015 Syrien angegriffen. Oder es handelt sich hier um den Angriff Israels auf Iran. Es ist ja von Bomben und Raketen die Rede, das gab es in beiden Fällen“.

„Passen Sie bitte auf“, sagt die Lehrerin. „Russland hat Syrien nicht als einen souveränen Staat angegriffen, sondern auf der Seite des Assad-Regimes die syrischen Rebellen und Zivilisten bombardiert. Und Israel ist kein ständiges UN-Sicherheitsrat-Mitglied“.

„Ja, stimmt“, seufzt der Junge enttäuscht.

„Okay, lass uns überlegen“, sagt ein anderes Mädchen. „Hier ist tatsächlich von einem ständigen Mitglied des UN-Sicherheitsrates die Rede. Es gibt fünf davon – die USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China. Die letzteren drei haben in diesem Jahrhundert niemanden militärisch angegriffen. Russland hat 2008 Georgien sowie 2014 und 2022 die Ukraine überfallen. Die USA griffen 2003 Irak und neulich die Nuklearanlagen im Iran an. Wenn es sich nicht um den russischen Überfall auf die Ukraine handelt und keine Bodentruppen involviert waren, dann kann es nur der jüngste Angriff auf den Iran sein. Und die Erklärung? Keine Ahnung, vielleicht stammt sie von China“.

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„Gut analysiert, bravo“, lobt die Lehrerin. „Ja, es geht tatsächlich um den US-Angriff auf drei iranische Atomanlagen mit bunkerbrechenden Bomben und Marschflugkörpern. Nur die Erklärung, die diesen Angriff verurteilt, stammt nicht von China. Sie stammt von Russland“.

So oder ähnlich könnte eine Diskussion im Schulunterricht verlaufen. Könnte, denn es war ein erfundener, imaginärer Unterricht. Was hier weder erfunden noch imaginär war, ist das obige Zitat aus der Erklärung.

Es ist schwer zu sagen, ob das Außenministerium in Moskau versteht, was man da am vergangenen Wochenende produziert hat. Man hat nämlich das eigene Land mitsamt seinem Präsidenten beschuldigt, gegen das Völkerrecht und die UN-Charta verstoßen zu haben, denn Russland hat „das Hoheitsgebiet eines souveränen Staates“ angegriffen. Nun werden russische Diplomaten in der ganzen Welt keine Verrenkung scheuen, um zu erklären, dass es sich beim russischen Überfall auf die Ukraine um etwas anderes handelt. Es ist ja nicht zum ersten Mal. Spannend ist nur, wie Moskau nun argumentieren wird. Denn es gibt ein kleines Problem: In der Erklärung wird behauptet – es steht dort schwarz auf weiß, – dass es auf jeden Fall ein eklatanter Völkerrechtsbruch ist – „ungeachtet der vorgebrachten Argumente“.

Lemberg, den 10. Juni, abends

Ein Mathematiker ist besorgt über die Sicherheit seiner Flüge. Er ist viel unterwegs, fliegt ständig in der Welt herum und hat Angst, dass jemand eine Bombe an Bord schmuggelt. Zwar ist die Wahrscheinlichkeit für einen solchen Terrorangriff schwindend gering, aber ganz ausgeschlossen ist er nicht, wie wir es aus der tragischen und traurigen Geschichte kennen. Nicht umsonst gibt es ja Selbstmörder und sonstige Terroristen. Wie kann man sich dagegen schützen? Unser Mathematiker findet eine ebenso elegante wie schräge Lösung. Er nimmt immer selbst eine Bombe mit auf die Reise (selbstverständlich hat er nicht vor, sie während des Fluges zu zünden). Denn die Wahrscheinlichkeit, dass sich an Bord einer Maschine gleich ZWEI Bomben befinden (seine eigene und die eines Terroristen) tendiert gegen Null.

Auch wenn in diesem Fall angenommen werden muss, dass das Sicherheitspersonal am Flughafen entweder im Urlaub oder eingeschlafen ist, dient dieses Paradoxon, das unter Mathematikern seit Jahrzehnten als Witz erzählt wird, einer guten – und zugegeben etwas makabren – Illustration für die Variabilität diverser Eventualitäten.

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Das menschliche Hirn kann nicht besonders gut mit Wahrscheinlichkeiten umgehen. Das hat unter anderem evolutionäre Gründe. Jemand, der sich bei einem suspekt bedrohlichen Geräusch in den Büschen lange überlegt hatte, ob dies vielleicht ein Löwe sein könnte, hatte viel weniger Chancen, seine Gene an die Nachkommen zu vererben, als jemand, der gleich weggerannt war. Und eine Mutter, die unscharfe Umrisse in der Ferne sichtete und darüber sinnierte, ob sie einem Leoparden oder einer anderen Raubkatze ähnelten, riskierte damit das Leben ihrer Babys.

Das Unvermögen des Hirns, Wahrscheinlichkeiten richtig einzuschätzen, kann auch in der modernen Welt böse Konsequenzen haben. Ich meine nun wirklich nicht die durchaus öfter vorkommenden Fälle, in denen man auf eine Spam-Mail antwortet, die einen Zwei-Millionen-Euro-Gewinn verspricht. Nein. Aber stellen wir uns nun ein paar Fragen. Wie wahrscheinlich ist es, dass Wladimir Putin tatsächlich an einem gerechten Frieden interessiert ist, darüber wirklich reden will, deswegen seine Handlanger zu Verhandlungen nach Istanbul schickt und nicht nur echte Gespräche fingiert und bloß auf Zeit spielt, während er weiterhin ukrainische Städte bombardiert? Wie wahrscheinlich ist es, dass Russland in den besetzten Gebieten die Menschen nicht brutal misshandelt? Oder: Wie wahrscheinlich ist es, dass Donald Trump eines Tages aufwacht und plötzlich klar sieht, wer diesen Krieg von Zaun gebrochen hat, wer Aggressor und Kriegsverbrecher und wer Opfer ist? Wie wahrscheinlich ist es, dass der amerikanische Präsident die Posse um den faulen Frieden aufgibt, sich auf das internationale Recht besinnt und die Ukraine in ihrem existenziellen Kampf gegen den Angreifer unterstützt?

Die Wahrscheinlichkeit, diese Fragen positiv zu beantworten, ist wohl noch geringer als bei unserem Mathematiker und seinen imaginären zwei Bomben. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen dennoch daran glauben.

Lemberg, den 29. Mai, nachmittags

Ukrainische Wörterbücher hatten es nicht leicht in der Sowjetzeit. Es ging nicht nur darum, dass in den 1930er-Jahren auf dem Höhepunkt von Stalins Terror ein Buchstabe aus dem ukrainischen Alphabet verschwunden war. Verboten als Symbol „des ukrainischen Nationalismus an der Sprachfront“ und als eine „künstliche Barriere zwischen der ukrainischen und russischen Sprache“, wie es in einem Dekret der Bolschewiken hieß. Darüber habe ich schon irgendwann geschrieben. Im Laufe der langen Sowjetherrschaft ist dieses Schicksal nicht nur ein einziges Schriftzeichen ereilt – ganz viele Wörter sind aus dem offiziell gebilligten ukrainischen Wortschatz verbannt worden. Dies geschah nicht über Nacht, sondern in mehreren Etappen. Das Verfahren war recht simpel und wiederholte sich in leichten Variationen immer wieder.

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Zunächst wurde in einem akademischen Universalwörterbuch zu einem nativen ukrainischen Wort eine Entlehnung aus dem Russischen als Synonym hinzugefügt, das aber vorerst an der zweiten Stelle stand. Etwa acht oder zehn Jahre später, in einer Neuauflage des Wörterbuchs, wurde schon das aus dem Russischen stammende Wort als Hauptbegriff geführt, der ukrainische Ausdruck fand man nun an der zweiten Stelle – die beiden haben stillschweigend die Plätze gewechselt. Noch ein paar Jahre später konnte man das native ukrainische Wort zwar noch im Wörterbuch finden, es wurde jedoch bereits als veraltet oder als Dialektismus gekennzeichnet. Man muss nicht lange raten – in der nächsten Ausgabe war es spurlos verschwunden, die Entlehnung aus dem Russischen war die einzige offiziell zugelassene Variante. Auf diese Weise wurden die „Barrieren zwischen der ukrainischen und russischen Sprache“ aus dem Weg geschafft.

Dieser Bedeutungswandel ist schleichend, dafür aber umso tückischer. So etwas passiert auch im Krieg. Eine Zeit lang nach dem russischen Überfall auf die Ukraine haben westliche Politiker (zumindest die mutigeren, und das waren – kaum überraschend – vor allem die Osteuropäer) betont, dass die Ukraine den Krieg gewinnen soll. Die weniger Entschlossenen und sonstige Angsthasen sprachen darüber, dass Russland nicht gewinnen darf. Irgendwann schlich sich ein neuer Begriff in den Sprachgebrauch ein – „verlieren“. Immerhin war die Rede davon, dass die Ukraine nicht verlieren darf. Heute redet niemand mehr über „gewinnen“ oder „verlieren“ – nur noch über den Frieden. Die meisten zwar über einen „gerechten, dauerhaften Frieden“. Aber nicht alle. Man fragt sich nur, ob irgendwann auch das Wort „gerecht“ aus dem Lexikon der Politiker verschwindet. Wäre ja nicht zum ersten Mal. Eine Erklärung dafür würden sie schon finden.

Lemberg, den 8. Mai, nachmittags

Es war ein uraltes Radio. Ein Kasten mit abgerundeten Ecken, groß, schwer, klobig, unpraktisch. Genau so würde man sich ein Möbelstück im Haushalt zweier alter Frauen – die eine seit Jahrzehnten verwitwet, die andere nie verheiratet – in einer osteuropäischen Provinzstadt in den 1970er-Jahren vorstellen. Das Gerät stand auf einem noch älteren, zusammengeklappten Kartentisch mit kurvigen, geschnitzten Beinen, an dem schon lange niemand mehr Karten gespielt hatte. Hätte man das Tischchen aufgeklappt, kämen die Reste eines verschlissenen, von Motten ausgefressenen grünen Tuch zum Vorschein. Doch aufgeklappt hatte es niemand.

Wenn man einen großen, runden Knopf drehte, konnte man diverse Stationen ansteuern – Prag, Warschau, Budapest oder Sofia, die Städtenamen waren auf dem Glas der Skala eingraviert. Man hätte sich die Städte sogar vorstellen können, wie sie sich Georgi Gospodinov als Kind in seinem Roman „Zeitzuflucht“ vorstellte. Nur hören konnte man nichts mehr – das Radio gab im besten Fall nur ein dumpfes Rauschen von sich, egal, wie lange man an dem Regler drehte. Vielleicht war drinnen eine Röhre kaputt. Vielleicht hat es sich aber nur geweigert, die kommunistische Propaganda des Ostblocks zu verbreiten. Eine Röhre kann man ersetzen. Aber wie kann man die Müdigkeit von all der Propaganda reparieren? So blieb das alte Radio, ein „Baltika“, gebaut in Riga, stumm und war nunmehr nur ein Möbelstück.

Doch der Empfänger hat auch bessere Zeiten erlebt. Noch vor zehn oder fünfzehn Jahren, in einer anderen Wohnung, die sich neun Personen aus drei Generationen und ein großer Schäferhund teilten, lauschte mein Urgroßvater den Sendungen von Radio Liberty. Das Signal wurde gestört, die Sowjetbürger sollten doch keine „feindlichen“ Stimmen empfangen, so saß der Urgroßvater in seiner schwarzen Kleidung gebückt am Gerät, ein Ohr dicht am Lautsprecher, schwerhörig wie er war. So wird die Geschichte in der Familie erzählt.

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In den 1970er-Jahren kamen die neuen Transistorradios auf den Markt. Sie waren viel kleiner und handlicher, man konnte sie problemlos mitnehmen. Und das war ein wichtiger Punkt – denn auf dem Land wurde das Signal nicht gestört. Die Sowjetmacht kümmerte sich vorrangig um die Großstädte, für alles andere gab es kein Geld. Und noch etwas war wichtig – das Radio musste über entsprechende Frequenzen im Kurzwellenbereich verfügen. Die meisten Kofferradios aus der sowjetischen Produktion hatten sie nicht. Mit Absicht: Es war immerhin wesentlich billiger, westliche „Stimmen“ mit solchen Tricks zu verbannen, als Störmasten zu bauen. Nur hat es nicht wirklich funktioniert – wie die meisten Dinge in der Sowjetunion.

Schon wieder waren es lettische Fabrikate, die über die „richtigen“ Frequenzen verfügten – ein VEF Spidola, ein VEF-202 oder ein anderes VEF-Modell, als hätte sich Riga heimlich zum Ziel gesetzt, die Lügen der sowjetischen Propaganda zu entlarven. Wieso die kommunistische Führung der Valsts elektrotehniskā fabrika, einem bereits 1919 gegründeten Unternehmen, erlaubte, Kofferradios mit diesem Frequenzbereich zu produzieren, bleibt ein Geheimnis.

Wer viel Glück hatte, konnte sogar in einem Gebrauchtwarenladen ein echtes westliches Fabrikat ergattern, ein Sharp, ein Sony oder ein Grundig. Doch das war später, in den 1980er-Jahren.

Damals ragten schon längst drei hohe Störmasten am Hügel neben dem Sankt-Georg über der Lemberger Innenstadt in den Himmel. Die Techniker schalteten zu Beginn der „feindlichen“ Sendung die Störanlage an (manchmal war es ein sowjetisches Radioprogramm auf derselben Frequenz), und schon kam ein Salat aus dem Lautsprecher. Man drehte das kleine Radio hin und her, das Signal auf der Kurzwelle war eh schwach, hin und wieder gelang es, ein paar Fetzen aus dem Klangwirrwarr herauszuhören.

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Was haben wir damals denn gehört? Ich kann mich heute nur an einige Themen erinnern, da vermischt sich alles im Kopf zu einem kaum zu entwirrenden Durcheinander – über den Holodomor, die von der kommunistischen Führung herbeigeführte große Hungersnot von 1932 bis 1933, über die Verfolgungen von Dissidenten (von der einen oder anderen politischen Schrift oder einem literarischen Werk, die erfolgreich ins Ausland geschmuggelt worden waren, hatte man von Radio Liberty erfahren, bevor man einiges später im Samisdat las), über die senilen KP-Sekretäre … und Musik. Was war da? Ukrainische Weihnachtslieder, Jazz und Rock. Willis Conover und Sewa Nowgorodzew … Pardon, Willis war doch bei Voice of Amerika und Sewa bei BBC. Ein Salat im Kopf, sag’ ich doch.

Es klingt irgendwie verrückt, aber es war eine Sendung über … die iranische Revolution von 1979 und die Absetzung des Schahs, die mir bis heute fest in Erinnerung bleibt. Es war 1991, in den Tagen des Augustputsches in Moskau, als man westliche Sender längst frei empfangen konnte, da lauschten wir, meine Frau und ich, jeder Nachricht über die Lage, die ganze Nacht hindurch. Doch in der Nacht passierte nicht wirklich etwas, so füllte Radio Liberty das Programm mit diversen Geschichten. Warum erinnere ich mich noch heute ausgerechnet an diese? Womöglich wegen der Anspannung und Nervosität, die wir alle damals verspürten, in der zermürbenden Ungewissheit über das weitere Schicksal und der lähmenden Ohnmacht, die Ereignisse zu beeinflussen. Das hielt einen wach, schärfte die Sinne, es bedeutete viel mehr, als das Sehnen nach der Wahrheit in einer Zeit, als der Kommunismus doch ewig zu herrschen schien. Es ging schlicht und einfach darum, ob wir in die kommunistische Starre zurückkehren oder nicht. Wenn es keine Neuigkeiten gab, dann prägte sich das Gehirn als Ersatz eben die Geschichte über den Ajatollah Khomeini ein.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion war Radio Liberty, dessen Hauptredaktion von München nach Prag umgezogen war, nur noch einer der vielen Sender, aber einer – genauso wie BBC oder Deutsche Welle – mit ganz hohen journalistischen Standards. Einmal noch, kurz vor der Orangen Revolution 2004, machte sich die Regierung die Mühe, das Signal zu stören – für den damaligen ukrainischen Ministerpräsidenten und designierten Präsidentschaftskandidaten Viktor Janukowitsch waren die westlichen Stimmen ein Dorn im Auge. Er scheiterte bei seinem Versuch, die Wahlen zu manipulieren, und unterlag schließlich Victor Juschtschenko, wurde 2010 bei einer freien Wahl doch zum Präsidenten gewählt und scheiterte vier Jahre später erneut kläglich, als er den Euromaidan mit brutaler Gewalt auseinandertreiben wollte und sich vor Blutvergießen nicht scheute.

Die ukrainische Redaktion von Radio Liberty überlebte den Aufstieg und den Sturz des korrupten Möchtegern-Diktators, berichtete nunmehr über die Lage in den von Russland besetzten Gebieten, von der Krim und vom Donbas, deckte Korruptionsfälle auf. In Russland dagegen wurde der Sender im Februar 2024 zu einer „unerwünschten Organisation“ erklärt. Gut ein Jahr später kam mit der Ankündigung der neuen US-Regierung, die Finanzierung zu streichen, ein neuer, „globaler“ Schlag hinzu. Diesmal aus dem „Land der Freiheit“. Die Autokraten und Diktatoren dieser Welt haben viel gemeinsam. Der Hass gegen freie Medien gehört dazu. Ob Störmasten oder Finanzierungsentzug – die Methoden können unterschiedlich sein, das Ziel bleibt dasselbe: Sie sollen nicht stören.

Das alte „Baltika“ ist irgendwann vom Kartentisch verschwunden. Der Tisch selbst ist nach dem Tod meiner Oma im Familienbesitz geblieben. Nun steht eine Nähmaschine drauf. Mit dem „Baltika“ hat sie eins gemeinsam – auch sie kann keine Sendungen von Radio Liberty empfangen. Es wäre wichtig, dass die Radios es weiterhin können.

Lemberg, den 15. April, abends

In den ersten Kriegswochen 2022, als Evakuierungszüge aus verschiedenen Regionen des Landes fast im Stundentakt in Lemberg ankamen, begegnete ich einer Ärztin aus Sumy. Sie stand im Korridor eines Kinderkrankenhauses, sichtlich aufgewühlt, gerade hatte sie ein paar Minuten Zeit. Draußen war es kalt, nass und dunkel an diesem frühen Märzabend. Drinnen war es warm und hell, wenn man denn bei einem Luftalarm nicht in den feuchten, kalten Keller hinunterlaufen musste. Und das musste man mehrmals am Tag.

Die Ärztin begleitete krebskranke Kinder. Im Zimmer, aus dem sie gerade in den Korridor hinausgeschlüpft war, saß auf dem Bett ein Junge, geschwächt nach Chemotherapie. Er trug einen Mundschutz, schwarz, wie einst seine Haare waren und wie sie ihm irgendwann nachwachsen werden.

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Die Ärztin, erschöpft nach den Strapazen einer unendlichen Evakuierungsreise, war großgewachsen, vollschlank, wohl um die sechzig, ihre müden Augen strahlten Energie aus. Ihre Patienten hatten Glück, genauso wie einige andere Kinder aus Tschernihiw, Charkiw oder Kiew. Die kleinen Lemberger Patienten, die gerade noch vor paar Tagen auf der Station gelegen hatten, wurden inzwischen nach Polen evakuiert. Denn eine vernünftige Therapie war unter den Kriegsbedingungen nicht einmal in Lemberg, im Westen des Landes, möglich.

Wie kann man bei einem Luftalarm, wenn gerade eine Chemo-Spritze bekommt, in den Schutzkeller hinunterlaufen? Und wie reagiert das arg strapazierte Immunsystem der Kinder auf die stickige, feuchte Luft in einem ungeheizten Keller? Also war dieses Krankenhaus auch für die Neuankömmlinge nur eine Zwischenstation. In den nächsten Tagen sollten sie ihre Behandlung im Ausland fortsetzen – in Polen, Deutschland oder sonst wo.

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Allmählich kamen wir ins Gespräch. Die Ärztin sagte, sie sei ethnische Russin, in Sibirien geboren und aufgewachsen, aber habe ihr ganzes berufliches Leben in der Ukraine verbracht, in Sumy, nur wenige Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Die Zeit war zu knapp, um die Frau auszufragen, wie sie es überhaupt nach Sumy verschlagen hatte.

Vielleicht hatte sie schon dort Medizin studiert, vielleicht waren ihre Eltern umgezogen, oder sie hatte dort eine Stelle als junge Ärztin in der Sowjetzeit, wohl Ende der 1970er oder Anfang der 1980er Jahre, bekommen. Auf jeden Fall wurde Sumy zu ihrer Wahlheimat. Sie fühlte sich wohl und heimisch in der Stadt, sprach im Alltag russisch, ihre Muttersprache. Es störte niemanden. Außer einen Mann im Kreml.

Dann kam der Überfall. Panik der ersten Stunden, Evakuierung. Als mir die Ärztin all das erzählt, stehen ihr Tränen in den Augen. Mit zitternder Stimme sagt sie schließlich: „Wir werden die Russen hassen, wie unsere Großeltern die Deutschen gehasst haben.“

Sie fuhr am nächsten Tag mit den Kindern weiter ins Ausland, wir sahen uns nicht mehr. Nach dem russischen Angriff auf Sumy am Palmsonntag, bei dem 35 Menschen getötet und über 100 verletzt worden sind, erinnerte ich mich wieder an unser Gespräch. Wo mag sie jetzt sein? Wo hat sie über diesen verbrecherischen, tödlichen Angriff erfahren? War sie noch immer zusammen mit ihren krebskranken Kinderpatienten irgendwo in einem europäischen Land, wo keine russischen Raketen einschlugen? Oder war sie vielleicht schon wieder zu Hause, in Sumy? Und was muss ihr durch den Kopf gegangen sein, als sie die schrecklichen Bilder sah?

Diese Bilder machen einen sprachlos. Die reglosen, toten Körper, Blut, Trümmer. Eine Apokalypse in einer friedlichen Stadt. Es ist das pure Entsetzen für jeden, der die Bilder gesehen hat. Man ist überwältigt vom Mitgefühl für die Opfer und ihre Familien. Und man spürt nichts als Wut und Abscheu für den Aggressor. Alle Politiker und Regierungschefs aus der ganzen zivilisierten Welt haben den Verbrecher beim Namen genannt. Nur für den Mann in Washington war es kein Verbrechen. Sondern ein „Fehler“.

Manchmal hat man den Eindruck, dass man in einer absurden, surrealen Welt lebt. In einem bösen Traum, wo eine zweiköpfige Hydra namens Trumputin ihr Unwesen treibt. Oder ein zweiköpfiger Drache. Kurzum, ein Monster, ein Ungeheuer, das in einem düsteren Märchenwald lebt und alle terrorisiert. Vielleicht sollte man tatsächlich ein Märchen darüber schreiben.

Lemberg, den 3. März, morgens

Es war ein Verrat, Mr. President. Noch schlimmer als dies – es war ein schlecht inszenierter Verrat vor laufenden Kameras. Sie glauben vielleicht, Sie hätten den ukrainischen Präsidenten erniedrigt und eingeschüchtert. Tatsächlich haben Sie Amerika erniedrigt. Und alles verraten, wofür Amerika bisher gestanden hat. Nämlich für Freiheit, Demokratie und Menschenwürde. Über viele Jahrzehnte waren die Vereinigten Staaten für die Europäer, vor allem für uns hinter dem Eisernen Vorhang, das Land der Freiheit, das gegen das kommunistische Unrecht kämpfte – wohlgemerkt nicht immer mit letzter Konsequenz und blütenreiner Weste. Die sowjetische Propaganda hat die USA immer in den dunkelsten Farben gemalt und uns somit in unserem Glauben an das Gegenteil nur bestärkt. Dass das Regime gegen Ende immer mehr Hollywood-Filme zeigte, McDonalds mitsamt Coca Cola erlaubte, änderte nichts mehr daran.

Amerika war aber auch das Land der großen Literatur – das Land von T.S. Elliot, William Faulkner, Ernest Hemingway, John Steinbeck, Saul Bellow, Jack Kerouac, Allen Ginsberg und vielen, vielen anderen. Und der großen Musik – von Leonard Bernstein und George Gershwin, von Blues und Jazz, von Duke Ellington und Louis Armstrong, von Rock ‘n’ Roll und Elvis, von Bob Dylan, von Woodstock und Jimi Hendrix, von Janis Joplin und Jim Morrison, von Frank Zappa und Bruce Springsteen. Man kann sie hier gar nicht alle aufzählen. Wir waren fasziniert von ihrem musikalischen Witz und verbalen Spott, uns begeisterte ihr Protest gegen das Spießertum, den Vietnam-Krieg und allerlei Missstände im eigenen Land. Sie waren für uns die Inkarnation des freiheitlichen Geistes schlechthin. Auch diese Tradition und diesen Geist haben Sie verraten, Mr. President. Und alle Europäer, ganz unabhängig davon, ob wir unsere Jugend hinter oder vor dem Eisernen Vorhang verbracht haben.

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Sie haben dem ukrainischen Präsidenten Undankbarkeit vorgeworfen. Ganz zu Unrecht. Wir Ukrainer – und in unserem Namen auch unser Präsident – haben uns immer wieder beim amerikanischen Volk und dessen höchsten Repräsentanten bedankt. Die US-amerikanische Hilfe, auch wenn wir oft der Meinung waren, dass sie nur zu zögerlich kam, gab uns die Möglichkeit, unser Land gegen den brutalen russischen Angriff zu verteidigen. Doch man könnte auch mehr Respekt haben vor einer Nation, die überfallen wurde und für ihre eigene, genau wie für die Freiheit aller anderen kämpft, und deren Söhne und Töchter täglich sterben. Wann haben Sie sich zuletzt bei den Ukrainern bedankt, Mr. President?

Wissen Sie, warum die ukrainische Diaspora in den USA, vor allem die ältere Generation, seit vielen Jahren ihre Stimmen mehrheitlich den Republikanern gibt? Weil sie sich an die Zeiten von Ronald Reagan erinnert – für sie gilt er als derjenige starke Mann, der maßgeblich zum Fall des Eisernen Vorhangs beigetragen hat. Inzwischen hat die Republikanische Partei gar nichts mehr mit der Grand Old Party von früher gemeinsam. Wissen Sie, woran die Republikaner von heute erinnern? An die Kommunistische Partei der Sowjetunion aus der späten Breschnew-Ära mit ihrem lächerlich-grotesken Personenkult. Die alten Republikaner – und überhaupt alle Mitglieder Ihrer Partei – haben inzwischen Angst, ihre Meinung frei zu äußern. Und der Rest übt sich in maß- und geschmacklosen Schmeicheleien. Ihr Geburtstag als Nationalfeiertag? Ihr Bild auf einer 250-Dollar-Note? Ihr Gesicht in Stein gemeißelt am Mount Rushmore? Ihre Nominierung für den Friedensnobelpreis? Was kommt da noch? Ach ja, das Gerede über die mögliche dritte Amtszeit.

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Sie meinen, Putin sei nicht das größte Problem für die USA. Da haben Sie recht, Mr. President. Das größte Problem für Amerika – und für die freie Welt – sind Sie. Sie scheuen nicht davor zurück, in der amerikanischen Bevölkerung Ängste zu schüren und Hass gegen Migranten zu verbreiten, die sie schlechthin als Vergewaltiger darstellen. Aber wissen Sie, dass die Stigmatisierung von ganzen Gruppen zu den Grundmustern einer faschistischen Politik gehört?

Es ist nicht verwunderlich, dass Sie bereit sind, sich mit Diktatoren zu verbrüdern. Ihre Vorstellungen über die Politik und die Weltordnung sind den Ansichten von Tyrannen und Autokraten nicht ganz unähnlich. Das hat man selbst in Moskau mit Genugtuung registriert.

Immer wieder hört man von Ihnen und Ihrem Team, welche Zugeständnisse die Ukraine für den Frieden machen muss. Von ihrem russischen Amtskollegen fordern Sie inzwischen so gut wie gar keine. Sie wollen keinen gerechten Frieden. Sagen Sie es klar und ohne Umschweife. Denn das, was Sie fordern, ist eine Kapitulation der Ukraine. Dann hoffen Sie auf einen größeren Deal mit Putin, bei dem Sie sich die Welt aufteilen. Oder zumindest die Einflussbereiche abstecken. So etwas gab es schon mal in der nicht allzu weit entfernten Geschichte.

Die Gründerväter der Vereinigten Staaten haben in der Unabhängigkeitserklärung geschrieben, dass „alle Menschen … mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind“; dass dazu „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören.“ Mit seinem Angriffskrieg streitet Russland den Ukrainern das Recht auf Leben und Freiheit ab. Wenn Sie Russland in die Hände spielen, was Sie im Moment ganz offensichtlich tun, leugnen Sie dieses Recht ebenfalls und verraten somit die amerikanischen Gründerväter.

Sie haben selbstverständlich die Macht, die US-Militärhilfen für die Ukraine zu stoppen. Tun Sie das nicht. Sie wissen ganz genau, welche Folgen diese Entscheidung haben wird – die russische Armee wird noch mehr ukrainische Soldaten und Zivilisten töten. So werden Sie zum Mittäter. Und Sie wissen ja: Mittäter bekommen keine Friedensnobelpreise.

Lemberg, den 24. Februar, morgens

Als mich mein Sohn am 24. Februar 2022 in den frühen Morgenstunden aus dem unruhigen Schlaf riss, konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich drei Jahre später einen Text über den immer noch andauernden russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine schreiben würde – den Regeln des Katastrophenjournalismus und der Zahlenmagie der Jahrestage folgend. Einen Krieg eines barbarischen Regimes, den die zivilisierte Welt weder verhindern noch stoppen konnte. Einen Krieg, in dem der Westen sowohl bei der militärischen Unterstützung der Ukraine als auch bei Sanktionen gegenüber Russland sträflich zögerlich handelte, stets zu spät reagiert und somit immer neue russische Kriegsverbrechen begünstigt hat.

Was hat uns das dritte Kriegsjahr außer neuen Opfern und fortwährender russischer Aggression gebracht? Vor allem zahlreiche Prognosen und Erwartungen, von denen sich die schlimmsten bewahrheitet haben und die besten übertroffen worden sind. Wie erwartet haben die Ost- und Nordeuropäer gemahnt und gefordert, der Ukraine viel stärker und schneller militärisch unter die Arme zu greifen. Wie erwartet hat der kollektive Westen nur langsam darauf reagiert. „Too little, too late“, sagt die Mutter zweier ungleicher Brüder in der US-amerikanischen Sitcom „Two and a Half Men“. Sie ist aber eine ziemliche Nervensäge. So müssen die Ukrainer manch einem selbstverliebten westlichen Politiker vorkommen.

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Wie erwartet hat Russland immer wieder ukrainische Kraftwerke, Umspannwerke und Stromnetze angegriffen. Als Ukrainerinnen und Ukrainer im Sommer teilweise bis zu vierzehn Stunden am Tag ohne Strom auskommen mussten und Supermärkte die dadurch verdorbenen Lebensmittel tonnenweise wegwarfen, prognostizierten die Experten, dass im Winter massive Stromsperren unvermeidlich sein werden. Doch wieder einmal ist es dem Aggressor nicht gelungen, die ukrainischen Haushalte in Dunkel und Kälte verharren zu lassen. In wenigen Tagen geht auch dieser Winter zu Ende, und die Stromversorgung ist auch an den kältesten Tagen stabil geblieben.

Wenn es nicht mit Strom funktioniert, dann versucht es Moskau mit Gas und greift die Förderanlagen im Osten des Landes an. Ein weiteres Kriegsverbrechen, und auch hier wird Moskau scheitern.

Doch Strom und Gas sind nur ein Teil der Geschichte. Hätte vielleicht jemand in seinen wildesten Träumen erwartet, dass die Ukrainer auf russisches Gebiet vordringen werden? Die Experten können über die erreichten oder verfehlten Ziele, über strategische Vor- oder Nachteile der ukrainischen Kursk-Offensive noch lange diskutieren, aber heute, mehr als sechs Monate nach dem Angriff, hält die ukrainische Armee immer noch rund ein Drittel der ursprünglich besetzten russischen Gebiete unter Kontrolle. Trotz massiver russischer Anstürme unter Beteiligung von nordkoreanischen Soldaten als Kanonenfutter.

Doch das wichtigste Ereignis während des russischen Angriffskriegs in seinem dritten Jahr war die Wiederwahl von Donald Trump zum US-Präsidenten. „Die Amerikaner haben für eine populistische Psychopathie der Zukunft gestimmt, jene verrückte Zukunft, die nun alle Erdbewohner zu erwarten scheint“, schreibt der ukrainische Schriftsteller und Literaturkritiker Oleksandr Bojtschenko. Das hat er allerdings kurz nach der US-Wahl von 2016 geschrieben. Und wer würde heute sagen, seitdem sei die Welt nicht noch verrückter geworden?

Seit seinem Amtsantritt haben Donald Trump und sein Team so viele Zugeständnisse an Russland gemacht wie es sich noch vor einigen Monaten niemand vorstellen konnte. Es ist nicht verwunderlich, dass ihm die Ukraine ziemlich egal ist – und auch, dass er sie für sein überdimensioniertes Ego ohne jegliches Zögern opfern wird. Nicht nur, dass er und die neue US-Administration zwischen Aggressor und Opfer keinen Unterschied mehr machen; der skrupellose und zynische Geschäftsmann scheut sich nicht davor, die Ukraine brutal zu erpressen und Zugriff auf ukrainische Bodenschätze zu verlangen, ohne dafür irgendwelche Sicherheitsgarantien zu bieten. Dabei jongliert er mit Fantasiezahlen jenseits jeglicher Realität und schiebt der Ukraine – ganz im Sinne von Putin – die Schuld am Krieg in die Schuhe.

Aber auch das ist kein Wunder. Denn Trump und Putin haben viel mehr gemeinsam, als Größenwahn, imperiale Ambitionen und den Wunsch, die Welt (oder zumindest einen großen Teil davon) zu regieren. Beide verachten das Völkerrecht, halten nichts von Menschenwürde und hassen freie, unabhängige Medien. Beide sind rachsüchtig, von der „glorreichen“ Vergangenheit besessen. Ihr Element ist eine Mischung aus glatten Lügen, dreister Propaganda und wilden Verschwörungstheorien. Es ist nicht einmal klar, wer von beiden mehr lügt. Beide hassen Kritik; der einzige Unterschied ist, dass ein Kritiker für seine Kritik in den USA ‘nur’ mit schlimmsten Beschimpfungen von Trump (oder Elon Musk) rechnen muss, in Russland dagegen mit einer Gefängnisstrafe oder gar mit seinem Leben bezahlen kann.

Ich weiß nicht, woran mich das alles mehr erinnert – an 1938, als der Westen die Tschechoslowakei in München verraten und sie zum Abtreten des Sudetenlandes an Hitler-Deutschland gezwungen hat, wonach ein halbes Jahr später die Wehrmacht die restlichen Gebiete der Republik besetzt hat, oder an 1939, als Hitler und Stalin in ihrem Pakt Europa unter sich aufgeteilt und wenige Tage später zunächst die Deutschen und bald danach auch die Sowjets Polen überfallen haben. Oder doch an „1984“ und die darin von George Orwell geschilderte dystopische Welt, in der Lüge Wahrheit ist und Krieg – Frieden. Diese Welt scheint nun viel näher zu sein als je zuvor.

Doch wenn man nach dem dritten Kriegsjahr bilanziert, muss man doch feststellen, dass das gesamte Kriegsabenteuer für Russland zu einem ziemlichen Desaster geworden ist. Und zwar unabhängig von seinem Ausgang. Die ganze Welt hat gesehen, wie schwach die „unbesiegbare“ russische Armee ist, die den viel kleineren und schwächeren Gegner in drei Tagen niederringen wollte und nach drei Jahren immer noch – hohe Verluste hinnehmend – zu zermürben versucht. Wie das Moskauer Regime, für das ein paar dazu gewonnene Quadratkilometer viel wichtiger sind als hunderte von Menschenleben seiner Soldaten, auf Hilfe von anderen Diktaturen wie Iran oder Nordkorea angewiesen ist. Wie krank und hasserfüllt die tief von Propaganda infizierte russische Gesellschaft ist.

Doch auch für Europa kann es in einem Desaster enden. Denn das Versagen im Umgang mit Diktatoren und Autokraten ist nichts Neues für europäische Politiker. Heute wird mehr denn je ein ganz schnelles und resolutes Handeln und eine besonders tatkräftige Unterstützung der Ukraine erforderlich. Und das ist nicht zu erwarten, wenn Europa, und vor allem die großen Länder, nicht mit einer Stimme spricht. In Europa – anders als in den MAGA-republikanischen USA – glaubt man immer noch an Werte, das Problem ist nur, dass das nicht reicht. Man muss diese Werte auch verteidigen können, ja für sie kämpfen. Derzeit tun das die Ukrainer. Und die europäischen Regierungen müssen endlich aufwachen. Nur bin ich mir nicht sicher, ob die Wecker in vielen Ländern inzwischen nicht kaputt sind. Ob sie noch die richtige – und vor allem die gleiche – Zeit anzeigen. Denn es ist nicht mehr fünf Minuten vor zwölf. Es sind nur noch wenige Sekunden.

Lemberg, den 14. Februar, abends

Irgendwann in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre, noch bevor Tetris zunächst die damals noch seltenen Moskauer und anschließend alle sowjetischen Computer eroberte, um sich später in Osteuropa und in der ganzen Welt im rasanten Tempo zu verbreiten, kam in der Sowjetunion ein anderes Spiel auf den Markt. Wenn denn das Wort „Markt“ hier ein passender Ausdruck ist. Es war ein für damalige Verhältnisse relativ kleines Gerät, etwa doppelt so groß wie ein Smartphone, mit einem hässlich grünen Bildschirm – damals waren ja alle Screens hässlich grün, aber man ahnte noch nicht, dass sie irgendwann andere Farben haben würden, – und einer recht primitiven Grafik.

Es ging um die Eier. Irgendwo oben am Bildschirm saß eine Henne, die von Zeit zu Zeit ein Ei legte, das sofort herunterfiel. Am unteren Rand des Bildschirms lief ein Wolf hin und her, eine Figur aus einem beliebten Zeichentrickfilm (in dem gab es allerdings keine Eier), eigentlich eine total negative, böse, aber ziemlich unbeholfene Kreatur, die immer gegen den guten, vorbildlichen Hasen, einen echten Einsertypen, den Kürzeren ziehen musste.

Anders als im Zeichentrick hatte der Wolf in unserem Spiel einen Korb und musste das herunterfallende Ei damit auffangen. Sonst zerschellte das Ei am Boden, und nach einigen kaputten Eiern war das Spiel vorbei. Man bewegte den Wolf mit den Fingern, indem man die Knöpfe neben dem Bildschirm drückte. Eine Geste, die ziemlich an das Tippen auf modernen Smartphones erinnert. Im Laufe des Spiels rollten die Eier immer schneller, sodass die Finger einem irgendwann wehtaten. Die Konsole gab immer wieder diverse piepsende Töne von sich – entweder als Lob für ein gefangenes Ei oder als Enttäuschung für den omelettefertigen Brei am Boden. Man konnte dieses Wunder der damaligen Computertechnik sogar stummschalten, was den Spaß zwar verringerte (Neurologen würden sofort erklären, warum die fröhlichen Klänge bei einem Gewinn oder einer erfolgreichen Aktion den Dopaminspiegel bei den Spielern erhöhten), aber diskretes Spielen – etwa in einer Vorlesung – ermöglichte.

Also füllten sich Unis, Schulen und Büros mit heiterem oder enttäuschtem Piepsen. Es spielte buchstäblich jedes Kind und jeder Studierende, in den Pausen war es der beliebteste Zeitvertreib, es sei denn, man musste sich auf eine Prüfung vorbereiten. Nicht jeder besaß so eine Konsole, aber dann lieh man sich halt eine für die Pause. Ich spielte wie alle anderen, also wie verrückt. Bis zu jenem Tag, an dem ich fast unter die Räder eines Autos geriet. Nein, ich hielt keine Spielkonsole in der Hand beim Überqueren der Straße. In diesem Moment spielte ich gar nicht. Ich tat etwas anderes – ich kalkulierte, ob mich das Auto (der Wolf) – erwischen würde oder ob ich (das Ei) schneller wäre. Anders als der Wolf bremste der Typ am Steuer und fluchte. Ich hüpfte weiter munter auf dem Gehsteig. Der Wolf fing das Ei nicht.

Nach diesem Vorfall spielte ich nie mehr. Nur einmal, Anfang der 1990er-Jahre, wollten wir zusammen mit einem österreichischen Freund in Baden bei Wien ins Casino, aus purem Interesse sozusagen, aber wir fielen am Einlass wegen falscher Kleidung durch. Ich weiß es nicht mehr, vielleicht musste man dort eine Fliege tragen. Auf keinen Fall aber Jeans.

Damals, als wir die ersten Computerspiele spielten, wussten wir nicht viel von einer Spielsucht. Von anderen Süchten übrigens auch nicht. Man könnte sagen, wir waren naiv wie der sowjetische Staat, der bei seinen Bürgern nur eine Sucht kannte – nämlich den Alkoholismus, den er vergeblich zu bekämpfen versuchte.

Wahrscheinlich entwickeln Diktatoren und sonstige Soziopathen dieser Welt ebenfalls eine Art Sucht. Sie sind machtsüchtig, aber ihre Sucht geht weit über die eigentliche Machtsucht hinaus. Es ist die Sucht, jemanden überfallen zu müssen. Zunächst überfallen sie das eigene Volk. Dann, wenn sich das eigene Volk nicht mehr wehrt, überfallen sie die Nachbarn. Bis sie jemand stoppt. Sonst hören sie nie auf.

Es ist nicht einfach, eine Spiel- oder Drogensucht zu behandeln. Das tut man meist in einem Krankenhaus. Auch die Sucht der Diktatoren sollte man in einem Krankenhaus bekämpfen. Oder, besser noch, in einem Gefängnis.

Lemberg, den 31. Januar, abends

Vor vielen Jahren – es muss wohl um die Jahrtausendwende gewesen sein – hat sich das Hörvermögen meiner Mutter so stark verschlechtert, dass sie sich ein Hörgerät beschaffen musste. Die Auswahl war damals noch nicht so groß wie heutzutage und die Preise nicht so hoch, aber es gab schon passable Geräte westlicher Hersteller auf dem Markt. Eine Krankenversicherung gab es dagegen nicht, daran hat sich bis heute nichts geändert. Also musste meine Mutter für ihre Hörhilfe recht tief in die Tasche greifen.

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Wie dem auch sei, leistet dieses Gerät, auch wenn mit heillos veralteter Technik ausgestattet, bis heute zuverlässig seinen Dienst. Allerdings nur dann, wenn die Mutter nicht vergisst, die Batterien auszuwechseln. Oder wenn sie weiß, wo sie die neuen Batterien, die ich nachkaufe, versteckt hat. So läuft sie manchmal mit einem Hörgerät im Ohr herum und beschwert sich, dass sie nichts hört. Dass jemand für sie die Batterien auswechselt, lässt sie einfach nicht zu.

Einmal, wohl bald nach dem Kauf, musste das Gerät repariert werden. Für die paar Tage (oder waren es vielleicht doch ein paar Wochen?) hatte die Mutter einen Ersatz bekommen. Umsonst. Dieses Wunder der Technik fanden wir neulich tief in einer Schublade vergraben, als wir beide lange und vergeblich nach einer neuen Packung frischer Batterien suchten. Das Gerät war klobig, aus dickem Plastik zusammengebastelt, mindestens doppelt so groß wie das westliche Fabrikat. Kurzum: ein typisch sowjetisches Design. Über die Klangqualität lässt sich heute nichts mehr sagen. Mir fiel nur die Adresse des Herstellers auf der Verpackung auf: Krim, Jewpatorija. Natürlich nicht Kezlev, das wäre der krimtatarische Name gewesen. Alles sowieso nur auf Russisch. Auch die Bedienungsanleitung.

Seitdem hat die technische Entwicklung unglaubliche Fortschritte gemacht. Inzwischen gibt es Geräte, die tief im Gehörgang sitzen und fast unsichtbar sind. Sie haben selbstverständlich ihren Preis, aber so kann man jeden Wunsch des Kunden erfüllen.

Seit dem russischen Überfall haben die HNO-Ärzte viel zu tun, und es sind immer mehr Soldaten, die ihre Hilfe brauchen. Nach einem Knalltrauma, aber nicht nur. Eine Ärztin erzählte mir neulich eine Geschichte über einen Soldaten, der einen Arm, ein Bein und ein Auge verloren hatte. Er sagte ihr, er könne nicht mehr gut hören und bräuchte ein Hörgerät. Es müsse aber unbedingt winzig klein und unsichtbar sein. Gut, dass sie ihm so etwas anbieten konnte.

Lemberg, den 20. Januar, abends

Wir haben uns in Sarmatien kennengelernt, einem mythischen und mystischen Stück Land östlich der Weichsel, das nicht einmal das Rechtschreibprogramm meines Rechners kennt. Genauer gesagt irgendwo in den sarmatischen Landschaften, vor etwa zwanzig Jahren. In jenem imaginären oder realen Teil der Welt, für den sich Martin Pollack sein ganzes literarisches, journalistisches und übersetzerisches Leben lang innig begeistert hatte und den er dem österreichischen – und dem deutschsprachigen – Leser leidenschaftlich näherbringen wollte. Er hat mich damals gebeten, zwei Texte ukrainischer Autoren für einen von ihm herausgegebenen Band zu übersetzen, der Essays von zwei Dutzend Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland enthielt und – trotz seines Titels „Sarmatische Landschaften“ – nicht wirklich von der Legende Sarmatien handelte.

Zwanzig Jahre vor unserer ersten Begegnung hatten wir junge Germanistikstudenten weder von Martin Pollack noch von seinem ersten Buch „Nach Galizien“ etwas gehört. „Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Welt, die in diesem Buch dargestellt werden soll, erst durch ihre Zerstörung ins Blickfeld der Menschen im Westen rückte“, schrieb Martin Pollack im Vorwort dazu. In der Sowjetunion, die sich Ostgalizien nach dem Hitler-Stalin-Pakt und endgültig nach dem Zweiten Weltkrieg einverleibt hatte, rückte sie nicht ins Blickfeld der Menschen. Für den kommunistischen Staat, der 1984 immer tiefer in seiner Demenz versank, existierten Martin Pollack und sein Buch einfach nicht (das kommunistische Polen hat ihn in den 1980er-Jahren sogar zur Persona non grata erklärt). Im sowjetischen Geschichtsbild gab es nur Autoren und Menschen, die zu den ideologischen Klischees der Sowjets passten.

Als sich Anfang der 1990er-Jahren die Welt für uns geöffnet hatte, wenn sie auch ihre Augen für uns kaum aufmachte, war „Nach Galizien“ bereits eine antiquarische Rarität. Mein Freund Jurko Prochasko, der damals noch kein Psychoanalytiker, sondern „nur“ Essayist und Übersetzer war, erinnert sich, wie ihm seine österreichischen Bekannten das Buch auf DIN-A4-Blättern kopiert haben.

Nach den „Sarmatischen Landschaften“ kreuzten sich unsere Wege immer wieder – in Frankfurt und in Leipzig, in Berlin und in Wien. Auch wenn Martin Pollack sich auch anderen Themen widmete, vor allem auch seiner Familiengeschichte („Der Tote im Bunker“, eine Recherche über seinen Vater, den SS-Sturmbannführer Gerhard Bast, war bereits 2004, also noch vor „Sarmatischen Landschaften“, erschienen), kehrte er immer wieder zu seiner alten Liebe zurück. Für sein „Kaiser von Amerika“ über die Flucht aus Galizien wurde er 2011 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet und kuratierte danach drei Jahre lang im Rahmen der Leipziger Buchmesse das tranzyt-Programm für Literatur aus Polen, der Ukraine und Belarus. Es gibt nur wenige Menschen, die so viel wie Martin Pollack für ukrainische Autoren und ukrainische Literatur getan haben.

Nicht selten neigen Menschen in Sarmatien dazu, eher das Absurde und Lustige in Erinnerung zu behalten, und nicht das Ernsthafte und Gehobene. Mir geht es übrigens nicht anders. Womöglich hat dies etwas mit der Geschichte zu tun. „Für die Aufklärung“, zitiert Martin Pollack im Vorwort zu „Sarmatischen Landschaften“ aus einem Essay des ukrainischen Historikers Jaroslaw Hrytsak, „war Sarmatien überall dort, wo Intrigen, Anarchie und Absurdität herrschten“.

Auf jeden Fall steht mir heute nicht eine Diskussion bei einer öffentlichen Veranstaltung in Berlin vor Augen, sondern das, was danach passiert war. Wir saßen in einer Kneipe in Prenzlauer Berg irgendwo in der Nähe der Kulturbrauerei in geselliger Runde – die Veranstalter, die Referenten, ein paar Teilnehmer. Mit voranschreitender Zeit blickte Martin immer unruhiger auf die Uhr, weil er am frühen Morgen irgendwohin fliegen musste. Unser Problem war, dass wir beide ziemlich am anderen Ende der Welt untergebracht waren – im Gästehaus des LCB am Wannsee. Die anderen mussten diese Weltreise nicht antreten. Alle beruhigten Martin – es sei alles in Ordnung, keine Panik, der öffentliche Verkehr in Berlin funktioniere gut, die S-Bahnen fahren bis ein Uhr nachts. Schließlich brachen wir auf, und als wir endlich auf die vorletzte U-Bahn warteten, bemerkte ich, dass ich meinen Rucksack mitsamt Brieftasche und Reisepass in der Kneipe vergessen hatte.

Ich schlug vor, dass Martin in die Bahn einsteige, und ich irgendwie nachkomme. Er lehnte kategorisch ab. Wie konnte er nur einen wilden Sarmaten, der nicht einmal imstande war, auf seine Sachen aufzupassen, in der Berliner Nachtwelt der Neonlichter und sonstiger Versuchungen alleine lassen? Wir liefen zusammen zurück. Die U-Bahn fuhr nicht mehr. Wir schnappten uns irgendwie ein Taxi zum Alex – und stellten fest, dass die letzten S-Bahnen nicht mehr bis Wannsee, sondern nur bis Grunewald fuhren. Martin wurde nun wirklich nervös. Die Aussicht, im Grunewald festzustecken, behagte ihm nicht. Ich meinte, an der S-Bahnstation werden Taxis auf uns warten. Er bezweifelte dies. Es standen tatsächlich welche da. Und wir waren nicht die einzigen, die die letzte S-Bahn verpasst haben. Martins Solidarität hat mich damals tief berührt.

Ein letztes Mal haben wir uns zwischen Österreich und Deutschland umarmt – in Südbayern. Martin war schon von seiner schweren Krankheit gezeichnet, sein Blick war aber agiler denn je. Bald brach die Corona-Pandemie aus, wir hatten uns etwas aus den Augen verloren. Und dann kam der russische Überfall. Danach haben wir uns nur noch paar Mal am Computerbildschirm gesehen. Martin wurde bei der Ukraine-Veranstaltung am Bebelplatz Anfang März 2022 zugeschaltet. Wir wechselten anschließend ein paar E-Mails. Er schrieb mir, dass er gerade mit einer neuen Chemotherapie beginnen musste, beklagte sich aber nicht darüber, sondern über Wohlstand und Ruhe im Westen, die nach dem russischen Überfall geradezu pervers seien, und schickte mir das Programm einer Solidaritätsveranstaltung im Volkstheater Wien, die er angestoßen hatte.

„Die Aufgabe eines Intellektuellen, wo auch immer er lebt, ist es, aufzupassen, dass die Demokratie nicht verschwindet“, hat Martin Pollack in einem Interview gesagt. Er hat diese Aufgabe nie verraten.

Lemberg, den 16. Januar, nachmittags

„Wie ist die Sicherheitslage in Lemberg?“, fragen mich hin und wieder ausländische Journalisten oder sonstige Bekannte – vor allem, wenn sie eine Reise ins Kriegsgebiet planen. Pardon, in ein Land im Krieg. Das ist eine durchaus berechtigte und logische Frage, die einer logischen Antwort bedarf. Und diese lautet: Wenn keine russischen Raketen oder iranischen Drohnen in der Gegend herumfliegen, dann ist die Sicherheitslage gut.

In der Nacht zum vergangenen Mittwoch war die Sicherheitslage allerdings nicht besonders gut. Auch am frühen Morgen nicht. Diesmal griff Russland in zwei Wellen an. Meistens fliegen die Marschflugkörper und Drohnen vom Südosten in die Stadt hinein, zumindest wenn sie vom Asowschen oder Kaspischen Meer starten und keinen Kurzbesuch im polnischen Luftraum einlegen, um die Stadt vom Westen anzugreifen. Und sie fliegen über ein dicht besiedeltes, in der späten Sowjetzeit entstandenes Wohnviertel – ein typisches Beispiel für die sowjetische Plattenbaumegalomanie. Womöglich mit Absicht, damit beim Abschuss die Trümmerteile so viel Schaden wie möglich anrichten.

So muss unsere Obsthändlerin Switlana, die dort wohnt, bei jedem Angriff sehr unangenehme Minuten – oder gar Stunden – erleben. Wenn sie im Korridor ihrer Wohnung sitzt, an eine dicke Wand angelehnt, hört sie das leise Rattern der Maschinengewehre hinter dem Fenster, das laute Brummen der Drohnenmotoren im Himmel, den überwältigenden, aufsaugenden Lärm eines Marschflugkörpers. Ihr Sohn war am frühen Morgen auf dem Weg zur Arbeit, stand gerade zusammen mit anderen Menschen an einer Bushaltestelle, als sie von einem tieffliegenden Ding überrascht wurden. Man konnte sich nur ducken. Das Ding flog weiter.

Diesmal gab es zum Glück keine Toten und Verletzten, nur ein kleines Einfamilienhaus am Stadtrand wurde durch herunterfallende Trümmerteile einer abgeschossenen Drohne oder Rakete zerstört.

Allmählich kehrte die Stadt wieder zum normalen Leben zurück. Die Autofahrer telefonierten wild am Steuer, die Fußgänger, vertieft in ihre Smartphones, liefen über die Zebrastreifen, die E-Scooter rasten über die Gehsteige. In anderen ukrainischen Städten sah es nicht viel anders aus. Auch dort gilt: Wenn keine russischen Raketen oder iranischen Drohnen in der Gegend herumfliegen, dann ist die Sicherheitslage gut. Nur dass sie in Kyjiw, Charkiw oder Odessa viel öfter herumfliegen. So einfach ist es im Krieg, verdammt.

Juri Durkot wurde für seine Übersetzungen der Werke von Serhij Zhadan – gemeinsam mit Sabine Stöhr – mit dem Brücke Berlin-Preis und dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.

Source: welt.de

LembergPutinRussland-Ukraine-Krieg (24.2.2022)SelenskyjTagebücherWladimirWolodymyr