Vor drei Jahrzehnten wurden die USA relativ unerwartet in eine heftige Diskussion über Diskriminierung im Justizwesen und Gewalt gegen Frauen gestürzt. Ein Schwarzer Mann sollte seine weiße Ex-Ehefrau und deren weißen Bekannten erstochen haben. Ein brutales Verbrechen. Überall Blut am Ort der Tat.
Die Opfer sind Nicole Brown Simpson (35) und Ronald Goldman (25). Der Beschuldigte heißt O. J. Simpson, es handelte sich um einen sagenhaft gut aussehenden und überaus charmanten Football- und Fernseh-Megastar. Amerika hatte ihn viele Jahre lang bejubelt und verehrt. Auf sein Konto ging eine Ausnahmekarriere im College- und Profi-Football zwischen 1967 und 1979, mit Rekorden und Ehrungen. Anfang der 1980er Jahre war Simpson ein beliebter TV-Sportmoderator, dazu Werbe-Ikone für den Autovermieter Hertz, und spielte ein paar Rollen in B-Filmen wie Die Herzensbrecher von der letzten Bank (1987) und Die nackte Kanone (1988).
Am 17. Juni 1994 verfolgt der Hubschrauber eines Fernsehsenders den weißen Ford Bronco 45 Minuten lang. Es ist später Nachmittag im kalifornischen Los Angeles. Auf dem Rücksitz sitzt der 46-jährige Simpson, am Steuer sein Freund Al Cowlings. Reporter beobachten das Geschehen, sie berichten, Simpson wolle sich anscheinend der Festnahme entziehen. Angeblich hat er zuvor der Polizei noch versprochen, er werde sich stellen. Dem Bronco folgen in beträchtlichem Abstand etwa ein Dutzend Streifenwagen. 90 Millionen Menschen schauen an den Bildschirmen zu bei dieser eigenartigen „Verfolgungsjagd“. Es entfaltet sich ein großes Medienereignis mit viel Nervenkitzel. Der Kanal CNN überträgt Cowlings Anruf bei der Polizei live. Diese solle zurückbleiben, warnt Cowlings, Simpson halte sich eine Schusswaffe an den Kopf. Er wolle nur zu seiner Mutter fahren.
Ein TV-Psychologe analysiert die Suizidgefahr. Auf Autobahnüberführungen ermutigen Schaulustige Simpson mit dem Ruf: „Go O. J.!“ Ein Rundfunkreporter fordert den Flüchtigen auf, „ein Mann zu sein“ und anzuhalten. Schließlich verlässt der Bronco die Autobahn und fährt zu Simpsons Villa. Dort wird er festgenommen, es gibt keinen Widerstand.
Die Saga sollte die USA in den Bann ziehen wie kaum ein anderer Kriminalfall. Der Prozess dauerte acht Monate. Er wurde vollständig im Fernsehen übertragen. Die Anklage präsentierte ein Puzzle von Indizien, die Simpson schwer belasteten. Dann der Schock: Freispruch. Die mehrheitlich Schwarzen Geschworenen verkündeten das Urteil am 3. Oktober 1995 nach nur drei Stunden Bedenkzeit. Simpson reagierte eher stoisch und atmete durch. Verteidiger Johnnie Cochran legte die Hand auf Simpsons Schulter. Staatsanwältin Marcia Clark, ihr Kollege Christopher Darden und Goldmans Familienangehörige verharrten in Schockstarre, eine Frau weinte. Richter Lance Ito bat um Ruhe im Saal.
Wegen der beim Prozess vorgelegten Beweise habe er sich nicht zu einem „schuldig“ durchringen können, erläuterte ein Geschworener Jahre später in einem Interview. Der Prozess habe „begründete Zweifel“ geweckt. Die Verteidigung rekrutierte eine Riege von Spitzenanwälten, darunter zwei Stars: Barry Scheck, der später mit dem „Innocence Project“ die Revision zahlreicher Urteile gegen unschuldig Verurteilte erwirkte, und Alan Dershowitz, der Jeffrey Epstein und Harvey Weinstein sowie Donald Trump bei seinem ersten Amtsenthebungsverfahren verteidigte. Dieses „Dream-Team“ streute Zweifel an der DNA-Probe und ging möglichen Motiven nach für die Aussagen von Detektiv Mark Fuhrman, der den blutigen Handschuh des Täters auf Simpsons Anwesen fand.
Die Verteidigung spielte Tonbandaufnahmen vor, auf denen Fuhrman mit rassistischen Sprüchen zu hören war. Im kollektiven Gedächtnis blieb, wie Simpson vor den Augen der Geschworenen den schwarzen Handschuh anprobierte, den der Mörder laut Staatsanwaltschaft getragen hatte. Er war zu klein für Simpsons große Hände. Die öffentliche Reaktion auf das Urteil war gespalten. Schwarze US-Amerikaner vertraten mehrheitlich die Auffassung, Simpson sei unschuldig. 69 Prozent der Weißen meinten bei einer Umfrage des Senders ABC, Simpson sei ein Mörder. Sie vertrauten Polizei und Staatsanwaltschaft mehr als Simpsons Mutmaßungen über Rassismus. Präsident Bill Clinton, der ein paar Monate vor dem Mord mit Simpson Golf gespielt hatte und in seiner Karriere stets hin- und hergerissen war zwischen Bürgerrechten und harten Strafen, ergriff das Wort: Jeder Bürger in den USA sei auf die „einfache Wahrheit gestoßen“, dass Weiße und Schwarze ein- und dieselbe Welt drastisch unterschiedlich bewerten.
Die Realität war, dass viele Schwarze in Los Angeles ziemlich schlechte Erfahrungen hatten mit der Polizei. Drei Jahre vor dem „Prozess des Jahrhunderts“ sah man im Fernsehen die mit verdeckter Kamera dokumentierte Brutalität von vier Polizisten, die einen wehrlosen jungen Schwarzen namens Rodney King erbarmungslos zusammenknüppelten. Es kam zum Aufstand mit entsprechenden Polizeireaktionen, bei denen mehr als 50 Menschen ums Leben kamen.
Es sei Simpsons „große Leistung“ gewesen, angeklagt zu sein und dann „so behandelt zu werden, wie es typischerweise nur auf wohlhabende weiße Typen zutrifft“, kommentierte der Autor Ta-Nehisi Coates Jahre später im Magazin The Atlantic. Der 1947 geborene Orenthal James Simpson war eine Ausnahmegestalt im gesellschaftlichen Gefüge der USA. Als der Republikaner Ronald Reagan Anfang der 1980er Jahre die Präsidentschaft übernahm, war er weit entfernt von Donald Trumps „Make America Great Again“, aber er weckte eine Nostalgie nach guten alten Zeiten mit „geordneter“ Machtverteilung.
Simpson war ein Schwarzer Mann, der Gast sein durfte in der Welt der reichen Weißen. Ein großartiger Athlet, der sich politisch nicht einmischte und viel Geld mit Werbespots verdiente. Im Wochenmagazin Newsweek hieß es, „sein leutseliger, rassenneutraler Stil“ käme gut an „bei einem weißen Publikum“. Auch war O. J. im Unterschied zu vielen anderen Schwarzen Sportlern weit weg von der Bürgerrechtsbewegung der 1960er und 1970er Jahre. Charles Ogletree, der 2023 verstorbene Direktor des „Instituts für Rasse und Gerechtigkeit“ der Harvard-Universität, hat die Komplexität des Umgangs mit dem Schwarzen Prominenten im Fernsehsender PBS so zusammengefasst: „O. J. Simpson war ohne Rasse … Er hat sich mehr als Amerikaner dargestellt denn als Afroamerikaner.“ Dennoch hätten sich Schwarze beim Prozess auf seine Seite geschlagen; er galt vielen als jemand, der durch das Justizsystem „vorschnell verurteilt werden könnte wie sie selber auch“, hieß es in einem Kommentar des Magazins Black Agenda Report, das anmerkte, Simpsons Freispruch sei ein Fortschritt allein für O. J. Simpson gewesen.
Ein gewisser Charlie
Dessen Karriere hatte es vor dem Mord anscheinend nicht geschadet, dass Medienberichten zufolge Nicole Brown Simpson mehrmals die Polizei um Hilfe gebeten hatte, wegen häuslicher Gewalt. „Er wird mich noch umbringen“, habe sie gesagt, berichtete die Los Angeles Times. Der Autovermieter Hertz hielt an O. J. fest. Nach Ansicht des Unternehmens sei das Ganze „Privatsache“, so ein Sprecher der Firma laut Washington Post.
Ein paarmal kokettierte Simpson nach dem Freispruch mit der Frage, wer denn nun der Doppelmörder sei, unter anderem stellte er eine Belohnung für Hinweise auf den oder die Täter in Aussicht. In dem Buch If I Did It (Wenn ich es getan hätte) entwarf er im Konjunktiv ein Mordszenario, bei dem er und ein gewisser Charlie mit einem Messer am Tatort gewesen seien. Bei einem Zivilprozess 1997 wurde Simpson zur Zahlung von 33,5 Millionen Dollar Schadensersatz an die Hinterbliebenen von Goldman und Brown verurteilt. Er soll nur einen kleinen Teil der Summe bezahlt haben.
Im Gefängnis landete Simpson 2008 wegen eines Raubüberfalls mit Geiselnahme. Laut Urteil hatte er bei einer bizarren Aktion in einem Hotel in Las Vegas versucht, bestimmte Football-Erinnerungsstücke gewaltsam an sich zu nehmen. 2017 wurde Simpson aus der Haft entlassen. Er starb am 10. April 2024 im Alter von 76 Jahren.