Mega-Streams, aber Mini-Substanz: Deutschrap inszeniert sich wie eine Puppenkiste auf Autotune. Doch in Wahrheit ist das Genre zur generischen Leierkastenmusik der Gen Z verkommen.
Deutschrap rasiert. Zumindest den nackten Zahlen nach. Gleich sieben Rapper haben es in diesem Jahr in Spotifys Top-10-Jahresranking der meistgestreamten Künstler Deutschlands geschafft. So belegt gleich hinter Taylor Swift der Kreuzberger Rapper Pashanim den zweiten Platz, gefolgt von Jazeek, Bonez MC, Luciano, Aymen, RAF Camora und Reezy. Sie gehören also zu den erfolgreichsten Musikern Deutschlands. Doch akustisch betrachtet handelt es sich bei den Chartstürmern um einen weitestgehend gleich klingenden Mischmasch aus Trap-Beats, Autotune-Hooks und dahingenuschelten Texten. Deutschrap ist zur generischen Leierkastenmusik der Gen Z verkommen.
Vom Kreativitätsschub, der das Genre in den gut zehn Jahren von etwa 2005 bis 2015 durchfuhr, keine Spur mehr. Rapper wie Bushido oder Fler rappten damals als Erste über das Leben im sozialen Brennpunkt, ein Kollegah sorgte mit seinen sagenhaften Reimketten für Furore, und Künstler wie Casper, Prinz Pi oder Cro rissen die Grenzen zum Singer-Songwriter-Pop nieder. Deutschrap damals war wie ein Pausenhof, auf dem vornehmlich junge Männer herumtobten, sich ausprobierten und gelegentlich auch mal fetzten. Dagegen wirkt die Szene heute wie ein stickiger Klassenraum, in dem ein paar Kids apathisch auf ihren Geräten herumwischen.
Gründe dafür gibt es reichlich, zuallererst die Logik der Streaming-Dienste selbst, die mit ihren günstigen Abo-Modellen die Art des Musikkonsums verändert haben. Verschwunden ist die Aura, die Tonträger einst hatten. Musik ist heute eine spottbillige Massenware, die meist leise aus Handys und kleinen JBL-Boxen vor sich hin dudelt. Künstler verdienen am Streaming-Modell kaum noch, zugleich bröckelt der Markt für Live-Auftritte. Was bleibt, sind exorbitante Abrufzahlen auf Spotify und Co., die aber wenig über die Relevanz des Künstlers und die Qualität seiner Musik aussagen.
Die Szene ist boulevardisiert
Die einstigen Aushängeschilder der Szene haben längst darauf reagiert und das Weite gesucht. Cro lebt mittlerweile weitestgehend zurückgezogen auf seinem Luxus-Anwesen auf Bali, Fler hält sich mit trashigen Casino-Streams auf Zypern über Wasser. Dort soll sich nach Zwischenstationen in den Rapper-Gartenkolonien Kleinmachnow und Dubai mittlerweile auch Capital Bra niedergelassen haben.
Damit einher geht die zunehmende Boulevardisierung der Szene. Voyeuristische Ereignisse wie der von Netflix dokumentierte Verelendungsporno über den Absturz von Haftbefehl und dessen Nasenscheidewand sind relevanter als die Musik selbst. Neulich erst bekam Bushido für seinen anlässlich der Trennung von Ehefrau Anna-Maria veröffentlichten Song „Du liebst mich nicht“ jede Menge Häme im Netz ab, wobei sein musikalischer Output schon seit Längerem an Heino oder Peter Maffay erinnert. Nach einem durchlaufenen Zeugenschutzprogramm und jahrelangem Polizeischutz verzog der selbst ernannte „Staatsfeind Nr. 1“ von einst nach Dubai, um sich dort mit Gattin und Großfamilie als deutsche Version der „Kardashians“ zu inszenieren.
Die „Ferchichis“, das ist vor allem die Vermarktung der eigenen Privat- und Intimsphäre. Und so erinnern sowohl der einstige Rap-Superstar als auch die neue Deutschrapszene mit ihren imposanten Streamingzahlen und der verlorenen Strahlkraft irgendwie an den Scheinriesen „Tur Tur“ aus Michael Endes „Jim Knopf“. Aus der Ferne wirkt dieser groß und mächtig, doch je näher man dem Wesen kommt, desto mehr schrumpft es zusammen zu einem friedlichen, mit sich selbst ringenden älteren Herrn mit langem Bart und Zipfelmütze, der zurückgezogen in der Wüste lebt.
Source: welt.de