Statt einer Schatztruhe gibt es in dieser Geschichte einen Kühlschrank. Er steht in der Ecke eines Labors in Teltow, am Rand von Berlin. Darin lagern, säuberlich beschriftet, Dutzende von Schraubverschlussbehältern, die mal mehr, mal weniger gefüllt sind mit einer dunklen, körnigen, zähflüssigen, leicht nach Karamell duftenden Masse.
Schwarzes Gold? Für Erdöl mit all seinen Begleiterscheinungen ist das eine beschönigende Bezeichnung; hier dürfte sie besser passen. Der Kühlschrank enthält im Großen und Ganzen, was das Start-up Humify seit seiner Gründung vor knapp drei Jahren hergestellt hat. In mühevoller Feinarbeit, von Nackenschlägen begleitet, aber auch mit Durchblicken gesegnet. Die F.A.S. hat das Gründungsteam dabei begleitet: einen brillanten Professor, einen gewieften Manager, eine tüchtige Wissenschaftlerin. Jetzt ist es Zeit für eine Bilanz. Denn bald entscheidet sich, was der Schatz im Kühlschrank wirklich wert ist; ob Humify groß rauskommt oder eine kleine Nummer bleibt.
Eine kühne Idee aus Deutschland? Bitte sehr
Aus Deutschland kommen keine kühnen Ideen mehr, heißt es oft. Dem Land fehle es am Mut für Erfindungen, die die Welt verändern können. Hier ist der Gegenbeweis. Und zugleich ein Lehrstück darüber, wie schwierig es ist, aus dem hellen Gründungsfunken ein Geschäftsmodell zu machen, das den Gesetzen genügt und im Wettbewerb besteht.
Die Masse in den gekühlten Schraubdeckelbehältern, die aussieht wie Kaffeesatz, ist künstlich hergestellter Humus. Gärtner wissen: Das ist der Stoff, der den Boden fruchtbar macht. Wenn Markus Antonietti recht behält, kann er außerdem die Welt vor dem Klimakollaps retten. Antonietti ist einer der renommiertesten deutschen Chemiker. Kein anderer wird in seinem Fach so oft zitiert wie er. Schon seit einiger Zeit gilt er als heißer Kandidat für einen Nobelpreis. Mit anderen Worten: Was er sagt, darf man getrost ernst nehmen, auch wenn es erst einmal phantastisch klingt.
Wir treffen ihn in seinem Büro im Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung. Antonietti weiß den komplizierten Namen zu erklären. Kolloide sind winzige Teilchen, die beispielsweise in einem nanometerdünnen Film ein Sandkorn umschließen. Was dort geschieht, wo verschiedene Moleküle aneinandergrenzen, wird in Antoniettis Institut erforscht. Schon mit 33 Jahren wurde er dessen Leiter, so jung wie nie jemand zuvor. Jetzt steht er kurz vor seiner Pensionierung. Punk-Musik ist sein Hobby. Aber er hat noch etwas Größeres vor. Er wolle die Welt wieder in Ordnung bringen, sagt er geradeheraus, um kokett hinzuzufügen: Mit weniger dürfe sich ein Max-Planck-Direktor schließlich nicht begnügen.
Dann legt er los. Eine Kompaktvorlesung über Huminstoffe, jene Makromoleküle, die im Untergrund wirken: Sie lassen Pflanzen wachsen, sie halten Regenwasser länger verfügbar – und sie vervielfachen die Kohlendioxid-Speicherfähigkeit. Dass im Boden, je nach seiner Beschaffenheit, mehr oder weniger Treibhausgase stecken, hat sich herumgesprochen. Mit seiner Methode, rechnet Antonietti vor, könnten die Äcker, Weiden und Wälder der Erde in den kommenden Jahrzehnten so viel Treibhausgas zusätzlich aufnehmen, wie die Industrie insgesamt global ausstößt.
Es geht um Mega- und Gigatonnen, um mächtige mikrobiologische Hebel, in Gang gesetzt von der zähflüssigen dunklen Substanz aus dem Kühlschrank. Antonietti sagt: „Damit gewinnen wir Zeit, um unsere Energieversorgung auf erneuerbare Quellen umzustellen.“
So klang der Enthusiasmus, mit dem Humify an den Start ging. Den Crashkurs für die F.A.S. gab der Ausnahmeforscher vor etwas mehr als einem Jahr. Harald Pinger ließ sich schon früher anstecken. Er lernte den Chemieprofessor 2022 in einer illustren Abendgesellschaft kennen, es ging um den Austausch von Wissenschaft und Wirtschaft. Pinger stammt aus dem Rheinland, Typ lebensfroher Katholik. Er hat ein Berufsleben als Manager hinter sich, Unilever, Fresenius, Karstadt, schließlich Finanzchef des Gabelstaplerherstellers Kion. Jetzt will er Geld und Können für etwas einsetzen, das einem höheren Zweck dient.
Was Antonietti berichtete, riss Pinger mit: die Aussicht, das Klima schützen und gleichzeitig die Ernten verbessern zu können, etwas gegen den Hunger auf der Welt zu tun. Dazu die Einsicht, dass dies nur mit industriellen Tugenden gelingen wird, unter kluger Ausnutzung von Größenvorteilen und Effizienzgewinnen.
Pinger und Antonietti holten einen weiteren Mitstreiter an Bord, der in der Berliner Start-up-Szene gut vernetzt ist, und gründeten ihre Firma. Da waren sie beide schon über 60, fast doppelt so alt wie Gründer in Deutschland üblicherweise. Auch mit ihrem Thema lagen sie abseits vom Mainstream. Die meisten Neugründungen haben mit Software und Künstlicher Intelligenz zu tun. Um Chemie und Biologie, die Grundlagen des Lebens, geht es dem jüngsten Start-up-Monitor zufolge nur in fünf Prozent der deutschen Neugründungen.
Der Klimaschutzgedanke immerhin war in den Anfangstagen von Humify noch mehrheitsfähig. Donald Trump war noch nicht wieder amerikanischer Präsident geworden, die Abscheidung und Speicherung von Treibhausgasen schien vielen Unternehmen lukrativ. Zig Millionen wurden ausgegeben für Verfahren, die nach der Überzeugung der Humify-Gründer nie so wirksam sein würden wie ihre unscheinbaren Huminstoffe.
Denn Antonietti hatte ein Rezept ausgeklügelt, das im Prinzip mit fast jedem organischen Abfall funktioniert. Die Natur braucht für den Vorgang Jahrtausende, im Labor sind es Stunden. Und während auf dem Kompost viele Wirkstoffe verloren gehen, perfektioniert Antoniettis Ansatz den Kreislaufgedanken. Rapsstroh, Holzspäne, Gärreste aus der Biogasanlage, alles soll sich gekonnt zerkleinern und dann unter Zugabe von Druck und Wärme in wertvollen Humus wandeln lassen. Sogar Klärschlamm.
Wofür die Natur Jahrtausende braucht, macht die Maschine in Stunden
Bessere Ernten, die bares Geld wert sind für die Landwirte. Massenhafte CO2-Speicherung, die mit Zertifikaten vergütet wird. Dazu ein super Angebot für Kläranlagenbetreiber, die ihren Schlamm sonst teuer entsorgen müssen. Win, win, win. Ein Geschäftsmodell wie gemalt.
Und leider zu schön, um wahr zu werden, erst recht auf die Schnelle. Zwar kam sogar Olaf Scholz, damals noch Bundeskanzler, ins Humify-Labor und versprach seine Unterstützung. Aber nach ein paar Runden Behörden-Pingpong war klar: In der EU lässt sich aus Klärschlamm kein Düngemittel machen, jedenfalls nicht auf legalem Weg. Da hilft weder Kanzlersegen noch Professorenklugheit. Auch die Sache mit den CO2-Zertifikaten erwies sich als verzwickt. Nicht nur weil schwierig nachzuweisen ist, wie viel Treibhausgas in einem Hektar Boden gespeichert ist. Die Landwirtschaft ist bisher auch vom Emissionshandel ausgenommen. Es gibt hier schlicht keinen Markt für Zertifikate. Und wie zurzeit über den Klimaschutz geredet wird, bleibt es so noch eine Weile.
Alles Dinge, die Berufsbedenkenträger im Nachhinein immer schon vorher gewusst haben wollen. Harald Pinger indes verneint die Frage, ob nicht viele Mühen vergebens waren. Sie hätten die Zeit gut genutzt, um ein schlagkräftiges Team zu formen, entgegnet er. Und auf dem gewundenen Weg zur Kommerzialisierung viel über ihr schwarzes Gold gelernt, was sich im Studierzimmer und unter Idealbedingungen nicht hätte herausfinden lassen. Längst hat ihn zudem der Ehrgeiz gepackt, die Sache gegen alle Widerstände in Deutschland und nicht irgendwo anders ans Ziel zu bringen; endlich einmal aus der Spitzenforschung hierzulande ein Geschäft zu machen und nicht wie so oft Amerikaner oder Chinesen die Früchte pflücken zu lassen. Dazu formuliert er eine Managerweisheit, die er jungen Gründern voraushaben dürfte: „Wer Erfolg haben will, braucht Stressresistenz und Frustrationstoleranz.“
Von den Tücken der Technik war bisher noch nicht die Rede. Svitlana Filonenko weiß davon zu berichten. Die Humify-Forschungsleiterin, lange vor dem russischen Angriff aus der Ukraine nach Deutschland gekommen, tüftelt an der Apparatur, die eines Tages die von Antonietti ersonnene „hydrothermale Humifizierung“ im großen Stil möglich machen soll. Wie genau muss das Metallgewinde beschaffen sein, mit dem das Material zermahlen wird? Welche Spaltmaße sind erforderlich, welche Geometrie führt zum besten Ergebnis? Und wie unterscheiden sich, je nach Ausgangsstoff und Prozessführung, die Produkte in ihrer Wirkung? Experiment folgt auf Experiment. Als Filonenko sich zuletzt von der F.A.S. über die Schulter blicken ließ, vor gut zwei Monaten, war ein aus Oliventrester gewonnener Humus dran. Die Wasserhaltefähigkeit ließ nichts zu wünschen übrig. Welche Dosis für den Einsatz in der Landwirtschaft ideal ist, muss sich noch zeigen. An Zuckerrüben und Tomaten wird es gerade getestet.
200 Euro Gewinn je Hektar, Klimaschutz inklusive
So hat sich Schicht um Schicht herausgeschält, womit Humify in ein paar Jahren tatsächlich Geld verdienen könnte. Es ist das Versprechen, den Ertrag im Obst- und Pflanzenbau steigern und den Einsatz von anderen Düngemitteln verringern zu können. Harald Pinger, der Industriemanager, hat die Zahlen in seiner großen Excel-Tabelle aktualisiert. Für Winterweizen nimmt er ein Plus von zehn Prozent beim Ertrag und ein Minus von 20 Prozent beim Düngemitteleinsatz an. Je Hektar hätte der Landwirt dann gut 200 Euro mehr in der Kasse. Weil der Humify-Humus dafür nur alle drei Jahre ausgebracht werden müsste, wäre der Gewinn sogar dreimal so hoch.
Das dürfte die nötige Zahlungsbereitschaft in der Zielgruppe freisetzen, kalkuliert Pinger. Klimaschutz und Weltrettung kämen bis auf Weiteres gratis dazu, Monetarisierung aufgeschoben.
Nur lässt sich ein Weizenfeld nicht mit den Pröbchen aus dem Laborkühlschrank düngen. Nicht mal belastbare Versuchsreihen mit wechselnden Pflanzen und Wetterverhältnissen lassen sich mit ein paar Gramm bestreiten. Da ist das echte Leben unnachgiebig. Anders als bei schicken KI-Modellen genügen Simulationen nicht. Mit der ursprünglichen Methode, die im Max-Planck-Institut so elegant wirkte, lässt sich die nötige Menge noch nicht erreichen.
Also haben Svitlana Filonenko und ihre Kollegen vor Kurzem ihre Sachen gepackt und leihweise eine Anlage in Bayern genutzt, auf der sonst in einem verwandten, lang erprobten Verfahren Biokohle aus Pflanzenresten hergestellt wird. Für Humify ein Umweg, der sich als Abkürzung erweisen soll. Denn gerade jetzt kann es nicht schaden, der großtechnischen Machbarkeit einen ordentlichen Schritt näher zu kommen. Die Bundesagentur für Sprunginnovationen (Sprind) prüft, ob sie Humify künftig kräftig fördern will. Außerdem ist ein Förderantrag beim „European Innovation Council“ gestellt. Nicht mehr lang, bis beide Entscheidungen fallen.
250 Kilo künstlicher Humus sind in einer Woche auf der Maschine in Bayern herausgekommen, berichtet Harald Pinger, hergestellt aus Apfelresten. Das ist mehr von dem schwarzen Gold, als in den Jahren davor in Teltow zusammenkam und nun im Laborkühlschrank ruht. Jetzt läuft ein zweiter Durchgang auf der Leihmaschine. Nächstes Jahr schafft das Start-up sich vielleicht eine eigene Anlage dieser Kategorie an. Das wäre eine Investition wie noch nie. Die Humify-Gründer halten ihre Methode zwar grundsätzlich weiterhin für überlegen, weil sie mit geringerem Aufwand eine größere Wirkung verspricht. Aber wenn es die Verhältnisse erfordern, muss man sich eben auch mal auf einen Kompromiss einlassen. Noch eine Lehre aus diesen deutschen Gründerjahren.