Spätestens seit der Fußball-EM und den Schauergeschichten vieler Fans ist es auch international ein Thema: Die Deutsche Bahn ist in der Dauerkrise. Inzwischen werden fast monatlich neue Verspätungsrekorde vermeldet, der Instandhaltungsstau im Schienennetz wird auf 92,2 Milliarden Euro geschätzt, und nun kommt auch noch eine desolate Halbjahresbilanz hinzu: Der DB-Konzern hat im ersten Halbjahr 2024 ein Defizit von 677 Millionen Euro eingefahren und hat weiter eine bedenkliche Schuldenentwicklung. Neu ist dabei, dass nicht nur der schon seit vielen Jahren kriselnde Güterverkehr Verluste macht, sondern auch der Personenfernverkehr, der gegenüber dem Vorjahr sechs Prozent Fahrgäste verloren hat, anstatt weiter neue zu gewinnen. Sicher haben Streiks und Unwetter ihren Teil dazu beigetragen, inzwischen scheint aber auch die mangelnde Zuverlässigkeit zunehmend Fahrgäste abzuschrecken.
Bahnreform 1994: Auf Profit getrimmt
Kritikerinnen und Kritiker weisen schon seit vielen Jahren darauf hin, dass die DB in einer strukturellen Krise steckt – auch als die Bilanzen nach außen hin noch gut aussahen. Mit der Bahnreform von 1994 wurden alle Teile der Deutschen Bahn zunehmend auf kurzfristigen Profit statt auf langfristige Entwicklung getrimmt. Als der Konzern unter dem damaligen Bahnchef Hartmut Mehdorn Anfang der 2000er Jahre dann auch noch an die Börse gehen sollte, nahm der Druck, gut aussehende Bilanzen zu präsentieren, endgültig überhand. Der faktische Zusammenbruch der Berliner S-Bahn in den Jahren 2009/10 war eine Folge des aus dem Ruder gelaufenen Sparkurses, aber auch die Schrumpfung des Schienennetzes oder der Verkauf Tausender Bahnhofsgebäude. Der Abbau vieler Überhol- und Ausweichgleise ist ein wichtiger Grund dafür, dass sich kleine Störungen heute oft auf viele Züge auswirken, und die generelle Unterfinanzierung und Überalterung tut ein Übriges. Gleichzeitig wurde der DB-Konzern mit dem Aufkauf vieler internationaler Unternehmen zu einem immer größeren und schwerer steuerbaren Koloss, für den Schienenverkehr in Deutschland zeitweise fast ein Nebengeschäft zu werden schien.
Zwar ist der Börsengang seit der Finanzkrise und dem Abtritt Mehdorns vom Tisch, aber der DB-Konzern wirkt seitdem orientierungslos. Dass die Fokussierung allein auf Bilanzgewinne ein Irrweg war und konsequent zu Ende gedacht nur eine kleine Bahn mit wenigen lukrativen Verbindungen zwischen den großen Metropolen übrig geblieben wäre, ist im politischen Berlin inzwischen weitgehend akzeptiert. Stattdessen soll die Bahn nun vor allem möglichst alle Menschen im Land klimafreundlich und bequem mobil machen – auch darüber herrscht Einigkeit. Völlig offen ist aber, wie eine Bahn beschaffen sein müsste, die genau dies erfüllt und dabei gleichzeitig effizient arbeitet.
30.000 Bahn-Jobs fallen weg
Das Konzept des DB-Managements selbst lautet neuerdings: Stellenabbau. 30.000 Arbeitsplätze in der Verwaltung sollen in den nächsten Jahren im Rahmen von Verrentungen eingespart werden. Wenn es damit gleichzeitig gelänge, Abläufe schlanker und schneller zu machen, wäre das ein Schritt voran – aber noch nicht der Ausweg aus der strukturellen Krise.
Aus der oppositionellen CDU kommt neuerdings die Forderung, Bahnchef Richard Lutz zu entlassen. Ein naheliegender Reflex, bei dem aber fraglich ist, was damit tatsächlich gewonnen wäre. Eine neue Person an der Spitze des Konzerns, die sich erst einmal in die Abläufe einfinden muss, ändert nichts an der mangelnden Orientierung; die eigentlichen Probleme bleiben.
CDU-Chef Friedrich Merz präsentierte außerdem die Idee, Bahnverbindungen zu streichen, um den Verkehr zu stabilisieren. Sicherlich würde es den Betrieb vereinfachen, wenn weniger Züge im Schienennetz unterwegs wären, aber im Sinne der Verkehrswende sollen ja eigentlich im Gegenteil immer mehr Menschen und Güter auf die Schiene gelockt werden, weg vom Flugzeug und von der Straße.
Es wäre eine Kapitulation, den schlechten Zustand des Schienennetzes zu akzeptieren und den Bahnverkehr zu schrumpfen, statt weiter intensiv daran zu arbeiten, die eigentliche Ursache zu beheben. Die bittere Ironie daran ist, dass die letzten drei Verkehrsminister von der Union (wenn auch der CSU) kamen und durch ihre Schwerpunktsetzung zugunsten der Straße den heutigen desolaten Zustand des Schienennetzes mit verursacht haben. Bei Problemen mit der Bahn haben sie jedoch immer nur mit dem Finger auf die DB-Chefs gezeigt, statt ihre politische Verantwortung zu erfüllen.
Nicht totzukriegen ist der Klassiker der angeblichen Lösungen für alle Bahn-Probleme: Die Zerschlagung des DB-Konzerns, wie sie traditionell die CDU/CSU, die FDP und die Monopolkommission fordern, neuerdings aber auch Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke). Dies würde aber nicht nur aufwendige und lähmende Umstrukturierungen bedeuten, sondern die Probleme sogar noch verschärfen. Zu den schon existierenden Schwierigkeiten kämen noch viele neue Schnittstellenprobleme hinzu. Das Modell eines solchen zersplitterten Systems mit einem staatlichen Schienennetz und zahlreichen privatwirtschaftlichen Betreibern ist in Großbritannien seit vielen Jahren Realität – und hat die dortige Bahn zu einer der schlechtesten und zugleich teuersten Europas gemacht. Die neue Labour-Regierung ist nicht zuletzt mit dem Versprechen gewählt worden, die Bahn endlich wieder zusammenzuführen und zu einem funktionierenden Ganzen zu machen.
Österreich und die Schweiz: So geht Eisenbahn
Um wirklich aus der Krise zu kommen, braucht es für die Bahn keine Schrumpfkur und keine Zerschlagung, sondern politisch vorgegebene Ziele und dazu eine ausreichende und verlässliche Finanzierung. Die Bundesregierung muss endlich klarmachen, was sie von der Bahn will, und diese dafür auch entsprechend ausstatten.
Ein Blick in zwei Nachbarländer zeigt konkret, wie dies erfolgreich funktionieren kann: In Österreich investiert der Staat nicht nur fast dreimal mehr Geld (336 statt 115 Euro) pro Einwohnerin und Einwohner in die Bahn, sondern die dortige ÖBB hat auch von der Regierung vorgegebene Entwicklungsziele, die in einem Rahmenplan festgelegt und jeweils für sechs Jahre im Voraus solide finanziert sind. Ähnlich macht es die Schweiz, wo das „Strategische Entwicklungsprogramm Bahninfrastruktur“ das am dichtesten und dennoch in beeindruckend hoher Qualität befahrene Netz weiter verbessern soll. Langfristig finanziert wird dies durch einen Fonds namens „FABI“, durch den sogar viermal mehr (477 Euro pro Kopf) als hierzulande in das Schienennetz fließt. In beiden Nachbarländern ist die Bahn beliebt, wächst auf hohem Niveau, und es werden auch solche Bahnverbindungen finanziert, die sich nicht allein wirtschaftlich tragen. In Deutschland gilt dies im Fernverkehr bislang als undenkbar, weshalb nun insbesondere Städte in Ostdeutschland den Verlust ihrer Anbindung fürchten.
Ohne Geld kein Deutschlandtakt
Die Deutsche Bahn muss hingegen Jahr für Jahr um ihre Finanzierung bangen und kann aus diesem Grund weder große Instandhaltungs- noch dringend notwendige Neu- und Ausbauprojekte verlässlich planen. Zukünftig soll ein „Infraplan“ Orientierung für die Instandhaltung und den Ausbau bringen – bislang leider nur eine Ankündigung.
Für den Verkehr wäre der Deutschlandtakt das sinnvolle Ziel – aber auch hier fehlt es an einem Umsetzungskonzept. Immerhin steht ab dem nächsten Jahr auch hierzulande mehr Geld für das Schienennetz zur Verfügung– aber in Anbetracht des gigantischen Instandhaltungsstaus immer noch zu wenig. Vor allem fehlt weiter die langfristige Planbarkeit, um dann tatsächlich die notwendigen Kapazitäten für Planung und Bau aufbauen zu können – am besten durch mehrjährige Fonds wie in der Schweiz.
Ohne mehr Geld hat die Bahn keine Chance – aber dies wären überfällige Investitionen in die Zukunft. Mit einer Schwerpunktsetzung auf die Schiene sowie einem Ende des Neubaus von Bundesstraßen und Autobahnen wäre das selbst im Rahmen des jetzigen Bundeshaushalts finanzierbar. Es fehlt nur am politischen Willen, die Weichen in Anbetracht der Klimakrise endlich konsequent richtig zu stellen.