„Der Sternsee“ von Will Gmehling: Ein Wunder aus Eis

„Der Sternsee“ von Will Gmehling: Ein Wunder aus Eis

Eine Hochhaussiedlung, vier Kinder und ein seltsamer kleiner See: Dieses Setting hat sich Will Gmehling für seine Novelle Der Sternsee ausgesucht. Es ist eine Geschichte vom Leben am Stadtrand, von Familien, die wenig Geld haben, und von vier Freunden, denen das, was viele Tristesse nennen würden, nichts anhaben kann. Sie suchen die Wege nach Geld ab und gehen Döner essen, wenn sie welches finden. Sie spielen Fußball auf der Wiese, neben den Bier trinkenden und rauchenden Männern. Sie basteln sich Pfeil und Bogen und beobachten Liebespaare beim Knutschen. Oft sitzen sie auch einfach nur auf einer Bank und reden. „Wenn wir zusammen waren, ging es uns besser als allein.“

Ihre Gegend macht nicht viel her, das wissen die Kinder. Sie träumen davon, mal nach Indien zu reisen oder auch nach Bottrop. Und doch sind sie stolz auf ihr Zuhause, weil inmitten der gelb-grün-gestreiften Hochhäuser ein See liegt. Nicht groß, nicht rund, sondern mit kurzen und langen Zacken. Sie nennen ihn den Sternsee. Jeden Tag kommen sie daran vorbei, meist beachten sie ihn kaum. Doch abends vorm Schlafen schauen sie aus ihren Fenstern hinunter: „Die Lichter der Siedlung spiegelten sich auf dem Wasser, manchmal auch der Mond.“

Der Kontrast zwischen Beton und Natur verleiht der Geschichte von Anfang an einen poetischen Ton. Ein Satz wie „Der Himmel war wie Metall, blaugrau, mit einer kalten Sonne“ beschreibt die Grundstimmung der Erzählung und liefert zugleich das Farbspektrum, in dem sich Jens Rassmus mit seinen teils seitenfüllenden Illustrationen bewegt. Metallisch blaugrau und kalt wie Eis, das sind zudem die passenden Farben für das Wunder, das sich am Sternsee ereignen wird.

Denn das kleine Gewässer friert zu. Die Erwachsenen erzählen, das habe es früher im Winter oft gegeben. Nun erleben die Kinder es selbst, schlittern auf dem Eis herum und können den Weg zur Schule abkürzen, indem sie mitten über den Sternsee stapfen. „Wir fühlten uns gut, so gut! Das kam von dem Metallhimmel, der Sonne und dem glitzernden Eis.“

Und es kommt noch besser. Die Tage werden wärmer und wärmer, der Frühling hält Einzug, dann der Sommer, das Eis auf dem Sternsee aber bleibt, 27 Zentimeter dick, eine Sensation!

Fernsehteams rücken an und berichten, Forscherteams aus aller Welt versuchen das Phänomen zu erklären, für die vielen Touristen werden auf dem Eis Verkaufsbuden mit Pommes, Pizza und Glühwein errichtet. Die Kinder sollen in Mikros sprechen und vom Leben an diesem besonderen Ort erzählen. „Unsere Gegend wurde weltberühmt.“

Von der Attraktion und all der Aufregung berichtet Gmehling in der denkbar schlichtesten Sprache: „Ich hab keine Angst vor Kalt.“ Sein Ich-Erzähler ist ein schlechter Schüler, einer, der Förderkurse besuchen muss und trotzdem nie richtig durchblickt in Mathe und Deutsch. Er selbst räumt das ganz nüchtern ein: „Ich gab mein Bestes, mehr war nicht drin.“ Und mit derselben Nüchternheit lässt Gmehling ihn von dem Eiswunder erzählen, in kurzen, einfachen Sätzen, manche nur ein Wort lang, rhythmisch, direkt und spannungsreich.

Mancher Leser wird das schmale Büchlein in einem Rutsch verschlingen, Kinder, die sich mit dem Lesen schwertun, können Pausen machen und sich beim Betrachten der vielen großflächigen Illustrationen ausruhen. Sie können sich mit dem Ich-Erzähler identifizieren und am Ende stolz sein, einen ganzen Roman gelesen zu haben.

Alle Leserinnen und Leser aber werden aus der Lektüre gehen und selbst grübeln müssen: Was ist das Geheimnis des zugefrorenen Sees? Gmehling lässt die Leute in der Geschichte spekulieren – eine neue Eiszeit, ein Eismonster, ein Zeichen von Gott? Eine Erklärung aber bleibt er schuldig. Und genauso wenig löst er auf, warum das Eis eines Tages plötzlich wieder verschwindet. „Und dann geschah es, mitten in der Nacht, wenn sie am tiefsten ist.“ Erst ein lautes unheimliches Kratzen, dann bricht das Eis, schiebt sich übereinander, meterhoch türmt es sich auf. Es bleibt offen, ob es eine Anspielung auf den Klimawandel ist, eine Anomalie, ein Wunder oder einfach das fantastische Element einer märchenhaften Geschichte. „Niemand hat je verstanden, was hier geschah, auch später nicht.“

Vielleicht ist das gut so, weil man mindestens zwei Dinge daraus lernen kann: Der Alltag geht in der Regel weiter, egal was passiert, selbst wenn sich die äußeren Bedingungen radikal wandeln. Und auch wenn der Mensch so vieles erklären kann, muss er aushalten, dass manches in der Welt ein Geheimnis bleibt. Diese Geschichte zeigt aufs Beste, dass man mit dem Rätselhaften und Unaufgelösten leben kann, zumindest wenn man andere Dinge hat, die einem Halt geben. Anastasia, die nie redet, erzählt ihren Freunden, dass sie einen Onkel hat, der in Russland im Gefängnis sitzt. Der Ich-Erzähler und Sissi fahren mit dem Bus in die Stadt und staunen über schicke Cafés und Kinder in Lastenrädern. Und als es ihnen langweilig wird, fahren sie zurück „dahin, wo wir im Moment hingehören“. Am Ende sitzen die vier Kinder zusammen auf einer Bank: „Wir aßen Äpfel und redeten darüber, was wir alles machen würden, im Herbst und danach. Miteinander.“

Will Gmehling/Jens Rassmus: Der Sternsee. Peter Hammer 2025; 56 S., 14,– €; ab 9 Jahren

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