1990 – Ernstfall Einheit
Der Freitag startet am 9. November 1990 als Ost-West-Wochenzeitung – entstanden aus dem Sonntag (Ost) und der Volkszeitung (West) – mit einer Auflage von 60.000 Exemplaren, Domizil ist in Berlin-Kreuzberg eine Dachetage in der Oranienstraße 25. Den ersten Leitartikel schreibt der Theologe Wolfgang Ullmann – zur ersten inneren Zerreißprobe wird die „Operation Wüstensturm“ Anfang 1991, als die USA zusammen mit europäischen Alliierten den Irak angreifen, der Kuwait seit August 1990 besetzt hält. Die Meinungen schwanken zwischen dem Bekenntnis zu globaler Ordnungspolitik und einem pazifistisch gefärbten Plädoyer für eine politische Lösung.
1991 – Hommage an Zonen-Gabi
Die Redaktion wendet sich mit der Debattenreihe „Krach der Deutschen“ dem kriselnden Ost-West-Verhältnis zu. Die Zeit des Begrüßungsgeldes, der ersten Banane für Zonen-Gabi und schulterklopfenden Umarmungen ist vorbei. Es kracht zusammen, was offenkundig doch nicht zusammengehört. Auf den runden folgt der reine Tisch, dem die Autoren dieser Serie einiges abgewinnen können. Den einen geht der ewig lamentierende Osttyp schwer auf die Nerven, den anderen der alles besser wissende Dampfplauderer West. Ressentiments gründen auf Fremd- und münden in Feindbilder. Sogar Fernsehsender berichten über den „Krach der Deutschen“ im Freitag.
1992 – Ost-West-Schirm
Geistige Führung ist gefragt. Der erste Herausgeberkreis übernimmt 1992 eine Art Schirmherrschaft für das Blatt und hält sich an den Ost-West-Proporz. Für den Ostpart stehen der Schriftsteller Christoph Hein und der Theologe, Bürgerrechtler sowie Europapolitiker Wolfgang Ullmann. Kompensiert wird das durch die Soziologin Gerburg Treusch-Dieter sowie den Publizisten und Diplomaten Günter Gaus, der dem Freitag bald mit seinen Leitartikeln Geltung verschafft. Dem Eindruck, er sei mit seinen Auffassungen zusehends nach links gerückt, widerspricht Gaus: „Ich bin einfach stehengeblieben, als sich die ganze Gesellschaft nach rechts bewegte.“
1995 – Gnadenfrist für ein Jahr
Das Kulturressort erhält den Alfred-Kerr-Preis „für eine herausragende literaturkritische Arbeit“, die besonders dem Kollegen Jörg Magenau zu verdanken ist. Anfang des Jahres steht der Freitag kurz vor der Schließung, weil nicht „kostendeckend“ produziert werden kann. Die Redaktion ruft zu Spenden auf, was bei derart vielen Leserinnen und Lesern Gehör findet, dass innerhalb von wenigen Tagen 300.000 DM gesammelt werden. Die Eigentümer Schmidt & Partner (MSP) geben daraufhin eine Bestandsgarantie für ein Jahr, und Layouter Jürgen Holtfreter entwirft die Grafik vom Freitag lesenden Spatzen, der auf einem mehrfach bandagierten Ast sitzt und nicht abstürzt.
1996 – Crossover in Berlin
Im Frühjahr übernehmen wie erhofft neue Eigentümer das Blatt. Es handelt sich um den Berliner Arzt Wilhelm Brüggen, die Journalisten Wolfgang Storz wie Holger Schmale, jahrelang Chefkorrespondent der Berliner Zeitung, die Publizistin Ursel Sieber und andere. Man will linksgrün, aber nicht zu abgehoben sein, auf dass sich SPD, PDS und die Grünen zumindest in Berlin annähern und koalitionsfähig werden. Viel Zuspruch erhält der Freitag 1999 für seinen anti-interventionistischen Kurs während der NATO-Luftangriffe auf Serbien und Montenegro (Kosovo-Krieg). Egon Bahr wird als gelegentlicher Autor gewonnen.
1999 – Geruch des Gemetzels
Der Freitag wechselt seinen Standort. Die Redaktion zieht von Ost nach West, vom Treptower Park in den zweiten Hinterhof der Potsdamer Straße 89. Am 11. September 2001 kommt es hier zu einer langen Nacht, als durch zwei von Islamisten entführte Flugzeuge das New Yorker World Trade Center zerstört wird. Die Schlussredaktion ist bereits unterbrochen, als gegen 18 Uhr deutscher Zeit erst der Südturm, 30 Minuten später der Nordturm in sich zusammenstürzen. Eine neue Titelseite ist unerlässlich. Es klopft nicht, es trommelt gegen die Wände der eigenen, mutmaßlich geschützten Welt. Gegen 23 Uhr schließlich geht die Ausgabe in die Druckerei.
2004 – Auf hoher See
„Er war ein verlässlicher Freund“, schreibt Christa Wolf im Freitag-Nachruf für Günter Gaus, der am 14. Mai 2004 gestorben ist. Er hatte die Redaktion oft besucht, sie beraten und mit einem kleinen Boot auf hoher See verglichen. Wenn er kam, pflegte er zu warnen, „Sie wissen, dass mein täglicher Vorrat an Ernsthaftigkeit spätestens gegen zehn Uhr vormittags erschöpft ist. Und jetzt ist es schon nach elf.“ Als im Sommer 2004 auch Wolfgang Ullmann stirbt, werden neue Herausgeber gesucht. Egon Bahr bietet sich an, wird aber von den Verlegern nicht gewollt. Zwei Jahre zuvor ist der Freitag mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet worden.
2005 – Der Beaujolais Nouveau ist da
Da sich auch der Schriftsteller Christoph Hein von der Herausgeberschaft zurückzieht, wird ein vollkommen neuer Kreis gewonnen, Verantwortung zu übernehmen. Es handelt sich um die Schriftstellerin Daniela Dahn, den ungarischen Autor György Dalos, den Theologen Friedrich Schorlemmer und den grünen Europaparlamentarier Frithjof Schmidt, komplettiert durch Gerburg Treusch-Dieter. Das Blatt hat sich bei einer verkauften Auflage von ca. 13.000 Exemplaren stabilisiert. Um begrenzten Ressourcen Rechnung zu tragen, wird eine Kernredaktion gebildet mit nur noch je drei Kolleginnen bzw. Kollegen in den Ressorts Politik und Kultur.
2008 – Adieu, Potsdamer Straße
Jakob Augstein übernimmt als Verleger die Zeitung und spendiert ihr einen Artikel im Namen. Sie heißt jetzt der Freitag und wechselt im Untertitel von „Die Ost-West-Wochenzeitung“ zu „Das Meinungsmedium“. Er wolle kein Mainstream-Blatt, so Augstein in einem Interview. „Mainstream wäre für uns tödlich. Das ganze Projekt lebt davon, dass wir uns gegen diese Tendenz zur Mitte wenden, die es in der Gesellschaft gibt.“ Es wird eine digitale Präsenz aufgebaut, die Wert auf den regen Dialog mit einer Community legt, Journalismus soll mit Social Networking verbunden werden. Es folgt der nächste Umzug, die Redaktion arbeitet nun am Hegelplatz in Berlin-Mitte.
2011 – Abschied mit Ansage
Die Instanz der Herausgeber wird abgeschafft. Die Begründung lautet, der Freitag sei kein Projekt mehr, sondern „eine normale Zeitung“ (Augstein). Daniela Dahn und Friedrich Schorlemmer bedauern das, man habe sich damit eines „kritischen Korrektivs entledigt“. Allerdings sei die Entscheidung konsequent und trage einer zuletzt erkennbaren Entfremdung Rechnung. Es gibt in diesem Jahr des „Arabischen Frühlings“ monothematische Ausgaben, die größtenteils von Autorinnen wie Autoren aus der Region bestritten werden, wobei sich auch die seit 2008 bestehende Partnerschaft mit dem britischen Guardian auszahlt.
2018 – Unverwechselbares Design
Der Freitag wird beim 20. European Newspaper Award als „European Newspaper of the Year“ in der Kategorie Wochenzeitung ausgezeichnet. Noch einmal mit dem gleichen Titel 2023, als sich 136 Zeitungen aus 22 Ländern darum bewerben. Die Jury schreibt zur Preisvergabe, die Inhalte des Freitag seien „nicht gedacht als Junkfood für den schnellen Verzehr“. Es handle sich um „eine leserfreundliche Zeitung mit unverwechselbaren Inhalten und unverwechselbarem Design“. Tatsächlich spiegelt die Machart des Blattes gestalterischen Mut wie das Bedürfnis, den sich wandelnden Rezeptionsweisen von Print- und Online-Content gerecht zu werden.
2020 – Homeoffice und Zoom-Meeting
Die Corona-Pandemie zwingt Redaktion und Verlag für mehr als ein Jahr zu Homeoffice und Zoom-Meetings. Im März 2020 gelingt ein fast störungsfreier Übergang, sodass die Zeitung weiter produziert werden kann und die Abonnenten erreicht. Es ergeben sich neue Arbeitsabläufe, die bis heute fortwirken. Da in Berlin die Quote von vollständig gegen Corona geimpften Personen Ende Juli 2021 erst bei 49,6 Prozent der Bevölkerung liegt, gibt es im Freitag zunächst auf Anraten des Betriebsrates keine vollständige Rückkehr zur Präsenzpflicht. In den Redaktionsräumen gelten das Abstands- und Maskengebot.
2022 – Erwachen am Morgen danach
Das „freie Netz“ als wohlfeile Textdeponie hat ausgesorgt. Da die Erlöse der Zeitungsverlage fast überall in einen Sinkflug übergehen, wird eine Digitalstrategie gebraucht, die Online-Journalismus Priorität einräumt. Damit ist keine ferne Zukunft, sondern Gegenwart gemeint. Nach zeitaufwendigem Vorspiel wird die Paywall des Freitag am 7. Juni 2022 freigeschaltet und korrespondiert mit einem Relaunch der Website. Jahre zuvor bereits schrieb Jakob Augstein im Freitag: „Wenn Journalismus eine Zukunft haben soll, muss der Leser zahlen, auch im Netz.“ Heute erfreut sich freitag.de einer wachsenden Abonnentenzahl im Internet.
2025 – Die „DDR auf Rädern“
Neben den Fokus-Themen soziale Gerechtigkeit und Neue Linke schenkt der Freitag Ostdeutschland viel Aufmerksamkeit. Er könnte sich getrost wieder Ost-West-Zeitung nennen. Neu beginnen, meinte Bertolt Brecht, kannst du mit dem letzten Atemzug. So gerät in der Ausgabe zu 35 Jahren Einheit die „Rennpappe“ oder „DDR auf Rädern“ in den Blick – zäh, robust, wendig, aber nicht windig, weder glamourös noch elegant, aber verlässlich. Erinnert wird an den letzten Trabant, der am 30. April 1991 in Zwickau mit der Seriennummer 3.096.099 vom Band rollt. Seine Erbauer hängen ein Plakat über die Taktstraße: „Ich liebte Euch doch alle! Tschüss, Euer Trabi!“