In den Stadien wird wieder protestiert. Gegen die Politik und die Verbände. Aber eigentlich kämpfen die Fans um etwas viel Größeres. Ein weiter Einwurf eines verzweifelten Fußballnarren.
Ich weiß, ich habe Glück. Wo mein Verein spielt, wohne ich. Zum Stadion nehme ich die Straßenbahn oder das Fahrrad. Auswärtsspiele sehe ich, wenn in der Familie nichts dagegen spricht, oder wenn DFB und DFL die umständlichste Reise nicht perfiderweise für den Freitag- oder Sonntagabend ansetzen, vor Ort im Gästeblock. Bisher ging ich, wenn ich nicht fahren konnte, in die Fußballkneipe nebenan. Jetzt ist sie zu. Der Wirt möchte sich die steigenden Gastro-Abo-Preise für Sky, DAZN und wer weiß, wofür noch alles, nicht mehr bezahlen. Aber mir reicht es auch so mit dem Fußball im Fernsehen.
Im Stadion, in allen deutschen Stadien wird wieder protestiert mit zwölf Minuten Stille, bevor der Gesang anhebt. Der zwölfte Mann, der Fan, erinnert daran, dass er auch noch da ist. Er zeigt, wer er ist. Das Fernsehen sieht ihn anders. Sobald ein Bengalo brennt oder ein Rauchtopf schwelt, werden die Fans vom stimmungsvollen Schwenkfutter der Kameras zu „sogenannten Fans“ und zu „Chaoten, die dem Fußball schaden“. Wenn sie protestieren, wenn sie Tennisbälle gegen Investoren auf das Spielfeld werfen, um vor einem zahlungskräftigen, gesittet auf den Plätzen sitzenden Tennispublikum zu warnen, machen sie, wie es im Fernsehen heißt, „den Sport kaputt“.
In diesen Wochen richtet sich der Stimmungsboykott gegen die Pläne der Innenministerkonferenz, die Stadien sicherer zu machen. Es soll eine Kommission für Stadionverbote geben, Überwachung mit KI-Gesichtserkennung, personalisierte Eintrittskarten. Um Fans aus dem Stadion zu verbannen, soll bereits eine „begründete Besorgnis“ ausreichen. Natürlich geht es auch um die Gefahren der Pyrotechnik, die man aus dem Fernsehen kennt, wo sie heraufbeschworen und die Urheber verurteilt werden. In der Vorsaison gab es Verletzte: 95 insgesamt in allen Stadien bei allen Spielen. Allein in Berlin kamen 363 Menschen während der Silvesternacht zu Schaden.
Ich habe mich in den Stadien nie sicherer gefühlt als heute. In den Kurven stehen Kinder und Familien. So sieht es selbst Bernd Neuendorf als Präsident des DFB: Es seien „sichere Orte“. Aber ein „enormer Druck“, die Freiheiten und Rechte der Fans einzuschränken, wirke aus der Politik auf die Verbände. Es gebe eine „klare Erwartungshaltung“. Woher kommen solche populistischen Motive? Aus den Stadien sicher nicht.
Auch wenn ich auf den Stehplätzen sozialisiert wurde und nicht am Fernseher auf dem Sofa, gab es für mich unvergessene Spiele, die ich nicht im Stadion sehen konnte. Welt- und Europameisterschaften, Landesmeister- und UEFA-Pokale, spektakuläre Spiele von Vereinen, die mich eigentlich nicht interessierten. Auch von meinem eigenen Verein auf Reisen, wenn ich einmal keine Lust hatte auf ein nach einer Bank oder einer Versicherung benanntes Stadion mit Gewinnspielen zur Halbzeitpause und beworbenen Eckbällen. Oder wenn ich verhindert war. Manchmal saß ich auch einfach vor der Glotze und sah irgendwelchen Weltstars irgendwo bei irgendeinem Spiel zu.
In den Siebzigern und Achtzigern des 20. Jahrhunderts bildete das Fernsehen noch weitgehend den Fußball ab, wie er im Stadion gespielt wurde. Wer auf dem Sofa saß, wurde dafür mit Wiederholungen und Zeitlupen belohnt, mit knappen Interviews und kurzen Analysen. Ein zurückhaltender Kommentator, sagte, wer am Ball war, wer ein Tor geschossen hatte oder warum ein Tor nicht zählte. In den Neunzigern begann ich, mich vom Fernsehfußball zu entfremden. Der Fußball wurde vom Fernsehen übernommen. Das Medium setzte die Regeln und machte das Stadion zur Kulisse.
Silvio Berlusconi stand als Medienmogul hinter der Einführung der Champions League mit Gruppenspielen für mehr Sendezeiten. Um den Fußball für den Fernsehkonsumenten spannender zu machen, untersagten die Verbände Rückpässe zum Torhüter, einigten sich auf die Drei-Punkte-Regel, um Amerika, wo sie im Sport kein Unentschieden mögen, vom Fußball zu überzeugen, und brachten das Golden Goal ins Spiel. Seit die Verbände und Vereine sich den Fernsehsendern unterwerfen, geht es darum, immer mehr zu produzieren und die Ware immer attraktiver und alternativloser wirken zu lassen. Allerdings auch immer alberner. Die Schiedsrichter wurden mit Freistoß-Spraydosen am Gürtel und mit Ohrstöpseln wie Telefonmakler aufs Feld geschickt.
Und ihr macht unsern Sport kaputt!
2017 kam der Videobeweis. Niemand sollte im Fernsehen eine Fehlentscheidung sehen müssen. Dafür wurden Fernseher in einem Keller installiert. Dort sind der Videoassistent und seine Assistenten mit dem Schiedsrichter im Stadion verbunden, wiederum mit einem Fernseher am Spielfeldrand, um Urteile zu fällen, die auch vor dem Fernsehzuschauer bestehen können und gerecht sein sollen. Nach acht Jahren VAR und dem Versprechen, alles kann nur besser werden, muss man sagen: Es wird immer schlimmer. Auch am Fernseher. Im Stadion wird der Videobeweis zum schlechten Witz, über den längst niemand mehr lachen will. Da wird die Kurve wütend und singt: „Ihr macht unsern Sport kaputt!“
Der Fußball wäre nicht als populärster Sport der Welt das wichtigste Kulturgut, wenn er nicht so einfach wäre. Ein emotionales Spiel von taktischer Trivialität. Im Stadion führt jedes Tor zu epischen Gefühlsausbrüchen. Menschen fallen sich in Trauben in die Arme und duschen mit Bier. Der VAR dämpft auch den Freudentaumel, er bedroht die kollektive DNA des Fußballs. Jedes Tor ist vorläufig, bis es bestätigt wird oder auch aberkannt. Während sich die Entscheidungsfindung hinzieht, herrscht eine gereizte Stille, der Protestgesang gegen den ärgerlichsten Murks, den der Fußball dem Fernsehen zu verdanken hat, setzt ein. Bevor der Schiedsrichter zum Anstoß bittet oder nicht, steht er neuerdings wie ein Schuljunge im Stadion, um dem Anwesenden zu erklären, was er sich dabei gedacht hat. Nicht nur er, der Fußball verliert seine Würde.
Kalibrierte Linien im Fernsehen, um die Millimeter nachzumessen, mit denen ein Stürmer mit der Schuhspitze im Abseits steht, schaffen den Fußball ab, der von seinen menschlichen Elementen lebt. Von Fehlern und von Heldentaten, von Tragödien und Triumphen. Auch das Stadion selbst ist nicht mehr sicher vor dem Fernsehen, und dem, was es dem Fußball aufzwingt. An den Dächern hängen Flachbildschirme. Vor und nach dem Spiel und mittendrin, wenn es pausiert und stillsteht, wird das Publikum bespaßt. Auf den Tribünen wird alles mit Smartphones abgefilmt und in Content verwandelt. Streamingdienste bieten die akustische Option der „Stadionatmo“ an. Die Abbilder und Originaltöne des Fußballs werden zum geschlossenen System.
Sky und DAZN, Amazon, Netflix und Paramount, Sat.1 und RTL und dann noch ARD und ZDF, es ist nicht nur eine Frage des Geldes, alles sehen und hören zu können. Man muss es auch wollen. Von den eintreffenden Mannschaftsbussen und den Bildern aus dem Spielertunnel über Taktikfüchse auf Kommentatorenplätzen und Experten, die sich manchmal sogar noch bemühen, das Spiel wieder zu vereinfachen, bis zu den aufgeregten Spielfeldinterviews danach, in denen alle Fragen danach, woran dies und das gelegen hat, verhandelt werden.
Für das Fernsehen vermehren sich die Wettbewerbe, werden immer unsinniger und an immer fußballferneren Orten ausgetragen. Der Fußball verliert mit seiner Würde auch seine Geheimnisse. Wenn Lippenleser die Gespräche auf dem Platz analysieren. Wenn die Kameras bald auch in die Kabinen dürfen und nicht nur gebügelte Trikots filmen, sondern Spieler, die sich auf ihre Spiele vorbereiten. Wer je selbst Fußball gespielt hat, weiß wie heilig und hermetisch der Ort einmal war. Darin zu filmen, ist Pornografie.
Ich bin schon als Fußballromantiker beschimpft worden, weil ich 50+1, die Regel für deutsche Vereine, um sich gegen Investoren zu behaupten, für ein wesentliches Stück deutscher Kultur halte. Auch die Initiative „Pro 15:30“ erscheint mir vernünftig als bekennender Fußballromantiker und Stadiongänger. Dass sich Bundesliga-Spieltage vom Freitagabend über das gesamte Wochenende ziehen, sorgt nicht nur dafür, dass Sky- und DAZN-Abonnenten drei Tage lang Fußballspiele sehen können. Die Terminwillkür führt auch dazu, dass Stadionbesuche und vor allem Auswärtsfahrten keine alltäglichen Ausflüge mehr sind, sondern gewagte Abenteuer. Fänden alle Spiele samstags um halb vier statt, könnten auch meine Familie und meine Freunde mit mir zuverlässig planen. Mein Leben besteht nicht nur aus Fußball.
Weltfremd bin ich nicht. Ich weiß, woher das Geld im Wesentlichen stammt, von dem sich mein Verein ernährt, mein Stadion betreibt und die Spieler mehr als sehr gut bezahlt. Das Fernsehen hat die Vereine und Verbände in seiner Gewalt. Es wäre kindisch, es zu boykottieren. Ich kann es nur nicht mehr sehen, weil ich es persönlich nehme. Wenn die Kameras die Kurven zeigen und Kommentatoren von Chaoten reden, fühle ich mich mitgemeint. Ich möchte weder hinter die Kulissen noch in die Kabinen schauen müssen. Aber was kann ich für meinen Fußball, der ein anderer geworden ist, weil er nicht anders kann, schon tun?
Der Autor geht seit 50 Jahren, seit er zehn ist, regelmäßig in sein Heimatstadion.
Source: welt.de