Der „Fall Rammstein“: „Das ist kein Männerproblem, sondern ein Machtproblem“

Reihe null, „Row Zero“, das steht für die Reihe direkt vor der Bühne bei Rammstein-Konzerten. Dorthin wurden junge Frauen eingeladen, um sie vor und nach den Konzerten für Aftershowpartys mit der Band zu rekrutieren. Ihre Erfahrungen damit bei einem Konzert in Vilnius postete Shelby Lynn im Mai 2023 bei X – und trat eine Welle los: Frauen meldeten sich mit weiteren Vorwürfen.

Daniel Drepper und Lena Kampf haben mit Kolleg*innen von NDR und Süddeutscher Zeitung erstmals über dieses Castingsystem für Rammstein-Sänger Till Lindemann berichtet. Für ihr Buch Row Zero: Gewalt und Machtmissbrauch in der Musikindustrie (Eichborn 2024, 272 S., 22 €) haben sie mit mehr als 200 Menschen gesprochen.

der Freitag: Frau Kampf, Herr Drepper, wann genau dachten Sie im letzten Jahr: Okay, unsere Recherchen müssen ein Buch werden?

Daniel Drepper: Nach unseren Veröffentlichungen zu Rammstein vergangenes Jahr meldeten sich viele Menschen bei uns. Menschen, die über die Situation als Frauen in der Industrie, über ihre Erlebnisse und über die Strukturen, die das ermöglichten, sprechen wollten. Quasi über das, was hinter der Bühne passiert. Wir wurden oft gefragt, ob Rammstein ein Einzelfall ist, und haben damals dazu wenig gefunden. Es dauerte deshalb nur wenige Wochen, bis uns klar war, dass wir diese Fragen ausführlich recherchieren wollen.

Ist die Musikbranche besonders anfällig für diese Art von Missbrauch von Macht bis hin zu sexualisierter Gewalt?

Lena Kampf: Dieser gesellschaftliche Missstand zeigt sich zwar überall, in der Musikbranche gibt es aber zusätzlich spezielle Bedingungen: Der Exzess wird nirgendwo so zelebriert wie in der Musikindustrie. In keiner anderen Branche werden Stars so sehr verehrt, gepaart mit der Erwartung, dass diese Stars Grenzen verletzen dürfen oder sogar sollen. Dazu verschärft die Machtfülle der einzelnen Künstlerinnen und Künstler die Abhängigkeiten. Alle hängen von dieser einen Person oder dem einen Act ab, so entstehen sehr große Machtgefälle.

Um zu verstehen, was diesen Exzess-Gedanken und den Mythos von „Sex, Drugs and Rock’n’Roll“ prägte, haben Sie auch mit bekannten Groupies aus den 60er und 70er Jahren gesprochen.

Kampf: Mit dem Rückblick zeigen wir, dass die unterschiedlichen Lebensbilanzen dieser Frauen nebeneinander stehen können: Manche sehen das bis heute positiv und als Selbstermächtigung. Einige hingegen sagen, sie seien damals minderjährig gewesen und Opfer von sexualisierter Gewalt. Die Groupie-Kultur konnte sich damals nur im historischen Zusammenhang mit der sexuellen Revolution entwickeln, was gleichzeitig eine Befreiung für diese Frauen bedeutete. Trotzdem blieb ein patriarchaler Gestus, der nie weggegangen ist. Frauen haben in der Branche, vor allem als Künstlerinnen, sehr viel mehr um Anerkennung und Sichtbarkeit kämpfen müssen.

Drepper: Es sind gerade junge Frauen, die heute in dieser Industrie arbeiten, die immer noch gegen diese Traditionen und den patriarchalen Blick in der Branche ankämpfen. Von den Sechzigerjahren bis heute gibt es das extreme Gefälle zwischen den Geschlechtern: die cis-heteronormativen Männer, die weiterhin die Grenzüberschreitungen ihrer Künstler zelebrieren und so auch ihre Machtposition festigen.

Gab oder gibt es solche Vorwürfe auch gegen Künstlerinnen?

Kampf: Durchaus. Ich bin der Überzeugung, dass das kein „Männerproblem“, sondern ein Machtproblem ist. Die Machtfülle von Künstlerinnen und Künstlern ist so immens und die Abhängigkeiten sind so groß, dass es fast zur Ausnutzung einlädt, wenn sich der Künstler oder die Künstlerin nicht bewusst wird über diese Machtgefälle und die damit einhergehende Verantwortung. Es wundert mich nicht, dass es diese Vorwürfe auch gegen Künstlerinnen gibt.

Manche Ihrer Gesprächspartner*innen haben ihre Geschichten jahrelang mit sich herumgetragen. Warum können diese Menschen erst jetzt erzählen, was ihnen passierte?

Drepper: Dass sich nun Räume öffnen, die das Sprechen über diese Art von Erfahrungen möglich machen, ist eine neue Entwicklung. Nach den Veröffentlichungen zu Rammstein haben uns Menschen erzählt, dass sie sich im Rückblick fragen, warum sie nicht eher etwas gesagt haben. Diese Aussagen kamen auch von Männern, die im Zweifel sehr viel weniger selbst betroffen und in höheren Positionen waren. Und die heute sagen: Ich und wir und andere hätten vielleicht früher etwas sagen müssen, haben es aber nicht getan.

Warum hat der Musikjournalismus bisher so wenig auf die Vorwürfe in der Branche reagiert?

Drepper: Es gibt den Fall R. Kelly, den wir bewusst in das Buch mit aufgenommen haben. Jim DeRogatis, ein US-Kollege, hat fast zwei Jahrzehnte lang dazu recherchiert. So etwas wäre in Deutschland kaum möglich gewesen, weil es hier häufig zu wenig Ressourcen für Recherchen gibt und die Tradition der Investigation im deutschen Journalismus weniger stark ausgeprägt ist. Gerade für viele Kolleg*innen, die tagesaktuell über Musik berichten und dort seit Jahren mit der Branche verwoben sind, sind solche Recherchen schwierig.

Kann es denn einen offenen Diskussionsraum über die Grenzüberschreitungen jenseits juristischer Auseinandersetzungen und Social-Media-Pranger geben?

Kampf: Die Diskussion wird sehr schnell, sehr heftig geführt. Social Media hat seine Grenzen, weil daraus keine Debatte, sondern oft nur polarisiertes Anschreien entsteht. Das ist für niemanden produktiv: weder für diejenigen, denen etwas vorgeworfen wird, noch für diejenigen, die von solchen Übergriffen mutmaßlich betroffen sind. Wir wollen mit dem Buch auch zur Differenzierung der Debatte beitragen.

Sie haben mit über 200 Menschen gesprochen für Ihr Buch, auch mit vielen Betroffenen. Wie haben Sie die Aussagen verifiziert?

Drepper: Bei Vorwürfen, die gegen eine konkrete Person gehen, wie bei der Auftaktberichterstattung zu Rammstein, geht es darum, diese Vorwürfe und Erfahrungsberichte zu verifizieren oder zu falsifizieren. Hier ziehen wir an jedem verfügbaren Faden: Konzerttickets, Kalendereinträge, Fotos, weitere Zeug*innen, alte Whatsapp-Screenshots oder E-Mails. Auch um zu prüfen, inwiefern das Ganze konsistent ist. Für uns ist es hilfreich, wenn Personen bereit sind, eine eidesstattliche Versicherung abzugeben, das erhöht die Glaubwürdigkeit und hilft auch in presserechtlichen Verfahren.

Und dann wird die Gegenseite damit konfrontiert?

Drepper: Ja, die Gelegenheit zur Stellungnahme wird immer allen Beschuldigten gegeben. Für unser Buch haben wir zudem auch viel zu den Strukturen in der Industrie recherchiert, das geht über konkrete Beschuldigungen einzelner Menschen hinaus. Dafür haben wir mit einer Vielzahl von Menschen gesprochen und dadurch wiederkehrende Muster gefunden. Durch die Vielzahl von Erfahrungsberichten werden diese Schilderungen sehr plausibel.

Haben Sie denn die Befürchtung, dass Ihre Recherchen für das Buch noch juristische Nachspiele haben könnten?

Kampf: Bisher haben wir nichts erhalten. Aber wir sind darauf vorbereitet.

Wie erklären Sie sich, dass nach Ihren Veröffentlichungen zum Fall Rammstein eine „Jetzt erst recht“-Mentalität einsetzte und die Konzerte ausverkauft waren?

Drepper: Es gibt eine Historie an Stars, denen Vorwürfe gemacht wurden und die danach erfolgreicher geworden sind, als sie es vorher schon waren. Nicht nur im Rock, auch im Pop oder Rap. Im Fall Rammstein haben wir aber noch eine andere Entwicklung beobachtet: Unsere Recherchen sind extrem politisiert worden. Es gab einen Kampf um Deutungshoheit, eine Art Kulturkampf, den wir so nicht erwartet hatten. Denn unser Vorgehen bei der Recherche und der Veröffentlichung war bei Rammstein nicht anders als bei unseren anderen Recherchen.

Daniel Drepper (geb. 1986) ist Investigativjournalist und arbeitet vor allem zu den Themenfeldern Arbeitsausbeutung, Machtmissbrauch und Umweltverbrechen. Seit November 2023 ist er der Leiter des Rechercheverbunds NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung

Lena Kampf (geb. 1984) ist seit Dezember 2022 Stellvertretende Ressortleiterin im Ressort Investigative Recherche der SZ . 2019 erhielt sie für ihre Reportage über die #Metoo-Bewegung im Europaparlament den Deutsch-Französischen Journalistenpreis

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