Herr Tordoir, Sie sprechen von einem zweiten China-Schock, der die deutsche Wirtschaft bedroht. Das Land hat schon viele Industrien verloren und sich doch immer angepasst. Warum ist es diesmal anders?
Es gibt drei Hauptgründe. Erstens sind die Unterschiede in den Branchen sehr wichtig. Der erste China-Schock in den Nullerjahren bestand aus Textilien, Unterhaltungselektronik und anderen günstigen Massenwaren. Das traf Europa viel weniger, auch wenn Frankreich und Großbritannien Arbeitsplätze in diesen Industrien verloren haben. Das industrielle Herz Europas in den Niederlanden und Deutschland war aber weniger betroffen, weil die Industrie hier höherwertige Produkte herstellt. Der zweite China-Schock ist jetzt aber in genau den Branchen, in denen vor allem Deutschland gut ist: Autos, Maschinen und Chemie. Chinas Autoexporte haben sich seit 2020 versechsfacht, und der Boom hält an.
Was sind die anderen Gründe?
Der zweite ist das Ausmaß des Schocks. Im Vergleich zur globalen Wirtschaft sind Chinas Handelsüberschüsse viel größer: Der zweite China-Schock ist etwa doppelt so groß wie der erste. China versucht, das zu verschleiern, indem das Land die Handelsbilanz manipuliert. Der Internationale Währungsfonds sollte einschreiten, macht es aber bis jetzt nicht. Weil Europa im Handel mit China offener ist als die USA, treffen uns die Folgen viel stärker. Der dritte Grund ist, dass der Industriesektor für die EU noch viel wichtiger ist als für die USA. Das verarbeitende Gewerbe macht 19 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts aus, in der EU insgesamt rund 15 Prozent, in den USA waren es vor dem ersten China-Schock im Jahr 2000 nur 13 oder 14 Prozent.
Die hohen Exporte kommen zustande, weil der chinesische Staat sie subventioniert. Sollten wir uns nicht freuen über das Geschenk des chinesischen Steuerzahlers?
Das ist die gängige Lehre, die ist aber zu kurz gedacht. Kurzfristig mögen die günstigen chinesischen Produkte, wie etwa E-Autos, gut sein für Konsumenten und die grüne Transformation. Aber die längerfristigen Kosten überwiegen diese Vorteile. Der China-Schock zerstört Europas Kernindustrie. Das hat nicht nur mit Kostenvorteilen des Standorts China zu tun. Wegen Chinas Subventionen für die Industrie und der schwachen Binnennachfrage entstehen Überkapazitäten, die nur durch Exporte ausgeglichen werden können.
Was sind die Folgen für Europa?
Unsere Produktivität wird leiden, weil die Industrie, die abwandert, produktiver ist als der Dienstleistungssektor. Das ist für Europa schädlich, umso mehr, weil wir anders als die USA und China einen relativ kleinen Tech-Sektor haben, der noch produktiver ist als die Industrie. Und für die Innovation wäre es auch nicht gut: Märkte, die zu viel Wettbewerb haben, sind weniger innovativ, weil die Firmen zu wenig Geld verdienen, um in Forschung zu investieren. Das führt dazu, dass innovative Unternehmen nicht wachsen können. Im ersten China-Schock sanken Amerikas Patentanmeldungen in den betroffenen Branchen deutlich, die subventionierten Importe aus China waren für zwei Fünftel dieses Rückgangs verantwortlich. Ein ähnliches Schicksal wäre besonders für Europas grüne Industrie verheerend.
Wir hatten ähnliche Warnungen immer wieder. Erst kamen die Japaner auf den Automarkt, dann die Koreaner. Beide Male hat Deutschlands Autoindustrie nicht nur überlebt, sondern wurde sogar stärker. Warum sollte es diesmal anders sein?
Weil es wichtige Unterschiede gibt. Der zweite China-Schock ist im Ausmaß viel größer und entfaltet sich viel schneller. Deutschland hat nicht genug Zeit, um sich anzupassen. Und anders als China heute reagierte Japan in den achtziger Jahren auf westliche Bedenken, es gab Exportquoten und die Währung wurde aufgewertet.
Sollte die EU also schlicht die Mauern hochziehen?
Nein, Joe Bidens Ansatz finde ich nicht ausgewogen genug. Er riegelt Amerika zu stark ab. Die einheimischen Unternehmen brauchen den Wettbewerb, sonst sind sie nicht mehr innovativ. Das Risiko ist, dass sich Unternehmen wie GM zurücklehnen und weiter ihre spritschluckenden Pick-up-Trucks bauen. Es sollte eher darum gehen, gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen und zugleich offen für chinesische Technologie zu bleiben. Die EU macht das bisher besser als die USA. Brüssel versucht, die Antwort nach den Regeln der Welthandelsorganisation zu gestalten. Die Amerikaner scheren sich darum nicht.
Reicht das denn?
Bisher nicht. Es gibt viel Lärm, aber bisher wiegeln chinesische Regierungsvertreter ab, weil sie glauben, dass die Europäer in diesem Fall als Schoßhündchen der USA agieren. Die EU muss konfrontativer werden, vor allem in Branchen, in denen wir viele Arbeitsplätze und einen starken Exportmarktanteil haben, wie zum Beispiel bei Elektrofahrzeugen und Windturbinen. In anderen Bereichen ergibt das weniger Sinn. Beispielsweise sind wir nicht besonders konkurrenzfähig darin, Solarpaneele zu bauen. Da sollten wir das günstigere chinesische Angebot annehmen.
Welche Maßnahmen wünschen Sie sich konkret?
Ich bin kein Verfechter von Zöllen. Sie sind aggressiv und können zu kontraproduktiven Gegenmaßnahmen führen. Aber Brüssel hat eine begrenzte Zahl an politischen Instrumenten, und Zölle sind da noch das beste Mittel. Ich mag aber auch den französischen Ansatz, Kaufanreize für Elektroautos zu setzen. Während die USA und China nur Zuschüsse zahlen, wenn die Autos im eigenen Land hergestellt wurden, knüpft Frankreich die Zahlungen an Klimavorgaben. Das ist klug, weil es lokale Produktion schützt und für außereuropäische Länder sehr schwierig ist, diese Klimavorgaben zu erfüllen. Außerdem glaube ich, dass Europa höhere Schulden machen muss, auch wenn das in Deutschland sehr kontrovers ist.
Wir sollen wegen Chinas Industriepolitik die Schuldenbremse aufgeben?
Ja. Es geht darum, eine globale Balance von Angebot und Nachfrage aufrecht zu erhalten. Wenn China zu viel produziert und zu wenig kauft, muss das jemand auffangen. Langfristig kann man zwar Ausgaben priorisieren, aber kurzfristig ist nur eine höhere Verschuldung wirksam, um unsere Nachfrage zu steigern. Das ist schwer verdaulich, aber unvermeidlich.
Deutschland soll wirklich wegen Chinas Überproduktion das Grundgesetz ändern und mehr Schulden machen?
Handels- und Industriepolitik reichen leider nicht aus, um eine Deindustrialisierung zu vermeiden. Selbst wenn Europa seine Handelspolitik verschärft, wird Chinas massive Überproduktion den deutschen Export in Drittländer weiterhin erschweren. Deutschland kann seine Fertigung nur sichern, wenn es die Binnennachfrage und die Investitionen erhöht.
Handel beruht immer auf Gegenseitigkeit. Was ist denn mit der Nachfrage der Chinesen nach europäischen Gütern? Wenn die bestehen bleibt, haben wir doch kein Problem.
Die sinkt schon. Ich glaube, dass dieser Schock nicht zyklisch ist, sondern strukturell. Autos und Maschinen gehören zu Deutschlands wichtigsten Exportgütern. Immer mehr davon wird in China hergestellt. Deutschlands Exporte nach China werden weiter sinken, auch wenn einige Produkte weiterhin erfolgreich sein werden. In den vergangenen zwei bis drei Jahren entsprach der Rückgang der Exporte nach China einem Verlust von ungefähr 0,5 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts. Die USA haben China schon als wichtigsten Handelspartner Deutschlands überholt.
Wenn die EU tut, was Sie empfehlen, würde das nicht das globale Handelssystem zerstören?
Solange die EU versucht, die Maßnahmen nach den Regeln der Welthandelsorganisation zu gestalten, glaube ich das nicht. Europa ist aber der einzige große Akteur, der sich noch an die Regeln hält. Es ist sehr schwierig beim Poker zu gewinnen, wenn Sie der einzige Spieler sind, der nicht mogelt. Europa kann es sich nicht leisten, seine Industrie aufs Spiel zu setzen.
Sie vergleichen den internationalen Handel mit einem Pokerspiel, bei dem nur einer gewinnen kann. Üblicherweise ist Handel für beide Seiten positiv.
Stimmt, man kann es aber auch anders betrachten: Wenn die anderen sich nicht an die Regeln halten, spielt Europa ein kooperatives Spiel und für die anderen ist es Poker.
Das klingt jetzt sehr, als wollten Sie einen Handelskrieg anzetteln.
Natürlich will ich das nicht. Man sollte sich die Entstehung dieser Spannungen anschauen. Europa hat mit den Maßnahmen des ökonomischen Nationalismus nicht angefangen. Das kam erst aus China, dann aus den USA. Wir sind in diesem Handelskrieg nicht die Aggressoren, wir müssen aber reagieren.
Europa unterschätzt, wie viel besser die Bedingungen in China sind. Vieles davon hat nicht mit unfairen Subventionen zu tun, sondern mit größerer Wettbewerbsfähigkeit und Einsatzbereitschaft. Ist es da nicht nur logisch, dass mehr in China produziert wird?
Darum sollte Europa die Subventionen und den Protektionismus in China ausgleichen. Wenn die chinesische Industrie dann immer noch besser ist, wird sie sich weiterhin große Marktanteile sichern. Damit habe ich kein Problem. Ein Teil des Erfolgs beruht auf guter Ingenieurskunst. Es ist nicht erstaunlich, dass China ein wichtiger Akteur in der Industrie ist. Mich stören die makroökonomischen Ungleichgewichte und die fehlende Fairness im Handel.
Zur Person
Sander Tordoir ist Chefökonom des Centre for European Reform, einer Londoner Denkfabrik und Lobbyorganisation, die sich mit europäischen Reformen beschäftigt. Dort beschäftigt sich Tordoir nach eigenen Angaben unter anderem mit der Geld- und Fiskalpolitik der Eurozone und Deutschlands Rolle in der Europäischen Union. Bevor er zu der Denkfabrik wechselte, arbeitete er unter anderem für die Europäische Zentralbank und die Weltbank. In der EZB beschäftigte sich der Ökonom mit den EU-Institutionen und beriet den EZB-Repräsentanten beim Internationalen Währungsfonds in Washington D.C. Der Ökonom hat am Amsterdam University College und an der Columbia University in New York studiert. Tordoir lebt in Berlin.