Dem Schönen auf der Spur | Das Einfache, das Differenzierte und das Relative

Menschen wollen gut leben, dann sind sie entspannt, leben im Frieden, sind zufrieden. Aber das Leben bietet auch ein Sahnehäubchen, das Glück. Zufriedenheit kann man sich erarbeiten, das Glück nicht. Ich verwende hier übrigens einen nichtpositivistischen Glücksbegriff, der jenseits dessen liegt, was man physiologisch Glück(sgefühl) nennt: Ausstoß von Glückshormonen. Es geht also nicht um diesen Ausstoß, sondern um eine bestimmte Erfahrung, die ihn bewirkt.

Ja, renn‘ nur nach dem Glück
Doch renne nicht zu sehr
Denn alle rennen nach dem Glück
Das Glück rennt hinterher

Aber man kann sich auf das (transphysische) Glück vorbereiten, sich dafür sensibilisieren. Der kategoriale Bereich, in dem dieses Glück zuhause ist, ist die Ästhetik, die Kunst, das Schöne. Ich füge meinen musikalischen Blogs einen weiteren hinzu, der sich diesem Wundersamen widmet. Dabei tue ich etwas, was ich nach Wittgenstein nicht tun dürfte, was aber der gravierendste Denkfehler dieses großen Denkers war: ich rede über etwas, über das man nicht wirklich reden kann, ich extensionalisiere, was nicht extensional ist. Das aber ist das Wesen der Sprache schlechthin, sie muß, wenn sie über das bloße Benennen hinausgeht, verstanden werden, sie realisiert sich erst im Prozeß des Verstehens. Oder wie Beckett das Ausdrucksparadox vielfach paraphrasiert hat: „ich kann nicht reden/schreiben, aber ich muß“, und das hat am Ende auch Wittgenstein konstatiert, wenn man seinen Text verstanden hat, hat man seine Unmöglichkeit erkannt (er hat nur den falschen Schluß daraus gezogen; Hegel dazu: die Furcht zu Irren ist der Irrtum selbst – man kann nicht denken ohne Risiko).

Das Glück der Schönheit ereignet sich im Komplexen wie im Einfachen, diese Erfahrung ist im Letzteren jedem zugänglich, das Erstere ist sehr voraussetzungsvoll, bleibt daher vielen verborgen. Aber zum Glück können wir das Glück auf jeder Stufe erleben, das einfache Glück ist nicht weniger bewegend und wert als das raffiniert kultivierte (dieses „sophisticated“ als elitär zurückzuweisen ist allerdings so banausenhaft wie andrerseits die dünkelhafte Überheblichkeit gegenüber der einfachen Schönheit).

Adorno war sich des überwältigenden Reizes der einfachen Schönheit voll bewußt, daher hat er einmal einen sehr ausführlichen Radiovortrag gehalten über „Schöne Stellen“, höchst überraschend für Leute, die nur eine oberflächliche Kenntnis seiner ästhetischen Sichtweise haben. Aber ist nicht auch das Glück des Denkens das Nichtidentische, das sich ereignet? Ich möchte ua auf solche Möglichkeiten der Erfahrung des Wunders der Schönheit hinweisen. Dazu habe ich diesmal drei Beispiele ausgewählt, die die extreme Bandbreite für das Auffinden solcher ästhetischer Singularitäten demonstrieren. Die Komponisten sind Jean Françaix, César Franck und Schönberg, die unterschiedlicher kaum sein könnten, der Erstgenannte schreibt eine leichte, frivole, elegante, verspielte, mediterran-französische Musik, wie sie kein Deutscher schreiben könnte, die beiden anderen eine gewaltige, komplexe, intellektuelle, „deutsche“ Musik, wie sie den Six, denen Françaix nahestand, (angeblich oder tatsächlich; der Antiwagnerianer Strawinsky hat einmal verraten, daß er immer wieder mal heimlich Wagner hört) zuwider war. Und doch stehen diese Musiken im Ewigen Museum der kulturellen Weltschätze einträchtig nebeneinander.

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Beginnen wir mit dem Meister des Einfachen. Eine seiner frühesten Kompositionen ist das Concertino für Klavier und Orchester, das sofort ein großer Erfolg war. Daß es trotz seiner Schlichtheit der Kitschgefahr kein bißchen nahekommt, ist bewundernswert. Francaix war auch Konzertpianist, die Einfachheit des Klaviersatzes läßt mich an den späten Liszt denken (freilich eher teutonisch-einfach), einer der größten Virtuosen an den Tasten, der am Lebensabend eine revolutionär substantialisierte Musik geschrieben hat, das schönste, was von ihm erhalten ist. So ist der zweite, langsame Satz des Concertinos, den ich hervorheben möchte, von einem Kleinkind mit zwei Fingern zu spielen (unisono, in halben und längeren Notenwerten; und ich korrigiere mich, an einer Stelle, dem Höhepunkt, braucht man vier Finger, eine Terz in Oktavverdopplung). Ich weiß nicht, ob es das Concertino als playalong gibt, aber wenn, dann ist es die vielleicht beste Art, dem Nachwuchs gute Musik nahezubringen, nichts ist geeigneter als dieses fast-nichts in einer der ersten Klavierstunden.

Sodann der Quartettsatz des Orchesters. Wir haben einen Choral vor uns, der sich wie ein romantisches Tongebilde anhört, eine volksliedhafte Melodie und den passenden Harmoniesatz.

Die harmonische Bewegung in der tonalen Musik beruht auf dem durch den Quintenzirkel gegebenen Verwandtschaftsgrad der Tonarten oder ist bevorzugt ein Pendeln im Quint/Quart-Abstand, dem Terzabstand (Dur-moll-Parallele), oder dem Alterieren im Sekundintervall (doppelte Quinte, etwas raffinierter mit dem kleinen Sekundintervall bzw der kleinen None). Der diatonische Gang einer Melodie bleibt bei normalem oder schnellem Tempo in der Tonika bzw der Tonart, die die Töne auf den durch den Takt betonten Stellen definieren, wenn man ihn verlangsamt ist er ein Pendeln der erstgenannten Art. Dies geschieht in der verlangsamten Bewegung dieses nahezu die Zeit suspendierenden Satzes. Es ist die volle Harmonik der „unanswered question“, eine leise Sphärenmusik, ohne die bohrende und verwirrende dissonante Frage, im Gegenteil ist das die Melodie vortragende Klavier im Vordergrund (deutlich lauter) affirmativ, bestätigt in der Quinte beginnend, diatonisch zur Tonika absteigend und zur Quinte zurückkehrend den offenen, schwebenden und doch statischen Klang dieser Phrase A, variiert sich und wiederholt sich notengetreu in A-A*-A, um dann völlig identisch auch noch wiederholt zu werden, man könnte das Wiederholen beliebig oft wiederholen, es ist der archetypische Charakter dieser Musik. Bemerkenswert stimmig scheint mir auch, daß in A durch die Parallelverschiebung des Dreiklangs die Durterz in die Mollterz wechselt, also ein weiches Dur gezeichnet wird, wohingegen in A*, statt die kleine Septime ins Spiel zu bringen, die große Sexte herangezogen wird, wodurch hier ein ungetrübtes, strahlendes Dur ausgespielt wird, allerdings noch leiser als die Begleitung in A. So ist der Gesamtcharakter doch das weiche Dur, das auch mit den blue notes so gerne präsentiert wird. Dieses Fastnichts eines Ereignisses ist die Singularität einer potentiell auf Dauer gestellten Schönen Stelle. So verspielt diese Musik ist, so eindrücklich und nachhaltig ist sie.

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Mein zweites Beispiel ist das Klavierquintett f-Moll von César Franck. Es wurde ua von Camille Saint-Saens uraufgeführt, dem es auch gewidmet ist, dem es jedoch mißfiel, wie es lange dauerte, bis es als eines der besten Werke dieser Musikgattung Anerkennung fand. Heute kann man kaum noch diese schwere Zugänglichkeit nachvollziehen. Vielleicht lag der Grund darin, daß diese Musik zugleich hochemotionalisiert und auf raffinierte Weise durchstrukturiert ist, gleichzeitig Gefühls- und Verstandesmusik. Das gilt zwar generell für die klassische Musik, wie für alle Formen der musikalischen Kunst, sie ist immer das Zusammenspiel von Inhalt und Form, hoher Bedeutsamkeit und rationaler Stringenz, aber es ist die Entwicklungslogik, sich in dieser Zielsetzung zu überbieten, wobei mal der eine Aspekt, mal der andere im Vordergrund steht, ein Pendeln zwischen Klassizismus (formbetont) und Romantizismus (substanzbetont). Das gilt übrigens auch für die populäreren Kunstformen.

Das Klavierquintett beginnt mit einem Thema mit einer Kopfphrase, die mit as‘ einsetzt, auf f endet, und der Folgephrase, die figurativ sich auf c einpendelt. Die Kopfphrase ist eine Sequentialisierung eines dreitönigen Motivs. Mit diesen Formen, dem variierten, sequenzialisierten Motiv, der Kopfphrase, die nichts weiter als eine diatonische Molltonleiter ist, sowie dem figurativen Spiel der Folgephrase wird der gesamte Satz strukturiert. Die Kopfphrase endet zwar auf der Tonika, aber die Folgephrase auf der Dominante, dadurch entsteht ein perpetuum-mobile-ähnlicher Bewegungsdrang, der sich erst in dem vom Cello gespielten, auf der Tonika endenden dreitönigen Grundmotiv beruhigt, ergänzt mit dem zum zweitönigen Schritt von der Viola zur Dreiklangbildung verkürzten Grundmotiv. Daß die Verkürzung als eine des Grundmotivs gehört wird, liegt an der Punktierung und am Sekundintervall. Diese im kleinsten Raum eines rhythmisierten, diatonisch absteigenden Dreitonmotivs vorgenommene Variation ist charakteristisch und bewirkt die starke Suggestivität der Formgebung.

Eine kleine Exkursion in die Mathematik. Keine Angst, ich bleibe auf elementarstem Niveau, da sind keine mathematischen Talente nötig, da braucht niemand abschalten.

Unsere Musiksprache ist auf der allgemeinen Ebene mit der temperierten Stimmung ein Restklassenring modulo 12. Das heißt, es ist ein zyklisches System von 12 Grundelementen, die linear angeordnet sind, zu den jeweiligen unmittelbaren Nachbarn den gleichen Abstand haben und nach Durchlaufen dieser Grundelemente sich in zyklisch mit den Grundelementen identifizierten neuen Elementen (in Oktavlagen) unendlich fortsetzen. Unser elementararithmetisches Zahlensystem ist ein Restklassenring modulo n, wobei n≥2 beliebig ist. Weil wir hier ein System auf der Basis 12 haben, können wir es neben der Art, es direkt durch den Minimalabstand aus dem Anfangselement zu erzeugen, auch auf genau zwei weitere Arten durch größere Abstände mithilfe der Moduloreduktion generieren, mit den Abständen 5 und 7. So ist zB 1, 1+5=6, 1+10=11, 1+15=16≡4, 21≡9, 26≡2, 31≡7, 36≡12, 41≡5, 46≡10, 51≡3, 56≡8. Dies ist musikalisch der Quartenzirkel, der 7 entspricht der Quintenzirkel, die 1 ist die chromatische Erzeugung des 12er Systems, nicht zu vergessen die 11, das ist die der 1 korrespondierende, umgekehrt chromatische, wie auch Quart- und Quintenzirkel in einem komplementären Verhältnis stehen. Mit anderen Abständen ist keine systematische Erzeugung unseres Tonsystems möglich, das hängt mathematisch zusammen mit den Primfaktoren 5 und 7 (und 11), die 12 nicht teilen, alle anderen Zahlen sind nicht mit 12 teilerfremd.

Das mag wie mathematische Spielerei klingen, nicht wie Musik, tatsächlich spielt es eine größere Rolle in unserer Musikgeschichte, als es prima vista scheint. Die Sache verkompliziert sich, weil unsere Musiksprache zwar die Chromatik (und zwar die der 12 Halbtöne) kennt und mit ihr arbeitet, sie bis zur Wohltemperiertheit rationalisiert hat, aber dominant ist in unserer Musiktradition bis ausschließlich der Atonalität und schon der freien Tonalität von Hindemith die heptatonische Strukturierung und Auszeichnung der Tonleiter, vor allem der Dur-Moll-Tonalität. Diese ist nicht in der arithmetischen Weise (wie oben beschrieben der 12er Restklassen) zu generieren. Die Tonleiter gründet zwar auf den reinen Zahlenverhältnissen der Obertonreihe, jedoch die Identifizierung mit einem Restklassenring ist nicht korrekt, die Tonleiter ist eine komplexe Hierarchie von Tonbeziehungen. Das erfordert von aller mit ihr entwickelten Musik die Akzeptanz von Ungenauigkeiten. Dann kann man bspw die heptatonische Leiter aus jedem Intervall generieren (weil 7 eine Primzahl ist). So ist es durchaus gebräuchlich, wenn auch selten, daß man die Tonleiter nicht diaton, also durch Sekunden, sondern durch eine Terzschichtung bestätigt. Noch ausgefallener ist die Rückführung der Tonleiter aus Quarten (mit einer übermäßigen) oder Quinten (mit einer verminderten).

Damit komme ich auf Franck zurück. Nimmt man alle gespielten Noten, so ist die Kopfphrase die diatonische Tonleiter von der Dezime bis zur Prime, die Doppelpunktierung macht jedoch die verkürzten Noten zu Durchgangsnoten, es ist eine Quartschichtung nach unten, plus einer weiteren Quarte (in der Folgephrase) nach unten über den Grundton hinaus, die gewissermaßen der Leitton in diesem Erzeugungssystem ist, auf die Tonika zurückstrebt. Semantisch ist das die hochdramatische Kadenz, die wir hören, eine extrem emotional aufgeladene Passage. Es gibt dazu ein wunderschönes Pendant, die Quartschichtung nach oben, von Arnold Schönberg in der ersten Kammersinfonie, sie ist der optimistische, heitere Beginn, wie die Inversion das tragisch-dramatische Ende ist, in einem früheren Beitrag habe ich einmal auf die absteigende Terzschichtung hingewiesen („On the Beautiful Side of a Romance“ von can; da finden wir auch eine marginale verkürzte Quartschichtung nach unten, in harmonischer Funktion). Und ich greife hier schon einmal vor auf eine Tritonusschichtung, die später eine Rolle spielen wird.

Bei A (die Großbuchstaben sind die Orientierungspunkte im Notentext, die Zahlen zählen die Zusatztakte) wird das erste Thema wiederholt, bei B wird die Quarte des Kopfmotivs auf eine Terz verkürzt, bei C kommt Franck auf das Urmotiv zurück, das er einmal wiederholt, allerdings in der Terzgestalt, und in C+2 wird das Urmotiv doppelt variiert, die Doppelpunktierung wird aufgehoben, und das Quartintervall wird zum Quintintervall (das man auch als Terz+Terz deuten kann, aber der 4/4-tel Takt legt doch die Quinte näher), und aus dem diatonischen Abstieg as‘-f wird ein (fast) diatonischer Abstieg as“-es. War die Eingangsphrase markant eine Quartfortschreitung nach unten, so ist es jetzt weniger markant eine Quintfortschreitung, mehr ein um 1/3 längerer diatonischer Abstieg. Jetzt wird das Klavier zum treibenden Instrument, während das Urmotiv sich weiter beruhigt, auf Taktlänge ausdehnt, um dann jedoch den treibenden Klavierpart aufzugreifen in einer rhythmisierten, modifizierten Umkehrung des Urmotivs, nennen wir sie UM* (für Umkehrung U und Modifikation * des Motivs).

In D-6 wird eine Erneuerung des thematischen Materials, Thema2, vorbereitet, das in D+4 auftaktig dulce molto espressivo in der Viola einsetzt, die Emotionen umschlagen läßt, obwohl die Verwandtschaft mit dem Urthema noch erkennbar ist. Ein großer Einschnitt in den Satz ist bei E+4 erreicht. Das UM* wird auf vier Takte gedehnt in Akkordgriffen, breitflächig vom Klavier gespielt. In G+9 ist auftaktig (wie in allen Zitaten des Thema2, weshalb ich es nicht mehr erwähnen werde) das Zentrum des ersten Satzes erreicht, das schon vorher exponierte Thema2 häutet sich zu einer Metamorphose des Urthemas, wird hier erst voll ausgespielt, denn der Melodie ist ein wunderbarer Kontrapunkt integriert, ein basso continuo, ein walking bass, der das 8-taktige Thema zweimal (das zweite Mal um drei Takte verlängert) einrahmt.

Es ist ja großartig, wie in diesem Quintett alles wie aus einem Guß ineinandergreift, aber dieses modifizierte Streicherthema auf dem Fundament der pianistischen Bassstimme erfüllt ganz unabhängig von dem Kontext die Anforderungen, die man an eine „schöne Stelle“ stellen kann. In den kanonischen Veränderungen, der cantus-firmus-Technik, wie hier das thematische Material verdichtet wird, zeigt sich die große Verwandtschaft zum späten J. S. Bach.

Noch eine Bemerkung zu dieser Themenverarbeitung bis zu der hier gefundenen endgültigen Lösung. Bewundernswert ist wiederum die strukturelle Gestaltung, die die Ambivalenz und den Wechsel der Gefühle steuert, die Rolle der Komplementarität bei Franck wird deutlich. Denn das treibende Motiv UM*wird gespiegelt in der Umkehrung U(UM*) und bleibt, je nach der Funktion der harmonischen Fortsetzung auf der Quinte (Dominante) oder wechselt auf die Prime (Tonika). Der Gefühlswechsel kann sich in einem Sekundschritt artikulieren. Bei I+1wird der Ton ganz süßlich, idyllisch, in der Sekunde c‘-ces-b, um dann in den zwei Anfangsnoten des UM*-Motivs as‘-h‘-h‘-h‘ (man darf hier durchaus an Beethovens g-g-g-es denken, später wird es gedehnt zu his-cis‘-cis‘-cis‘-cis‘-cis‘-cis‘-cis‘) über vier Takte hinweg auf den dramatischen Höhepunkt des Satzes L+8 hinzusteuern (dramatico), dem Urthema in fff, genau in der Mitte des Satzes. Das Wechselbad der Gefühle geht weiter bis zum Schluß, in dem sogar das Urmotiv eine versöhnliche Wendung nimmt. Ich breche jedoch ab, ich wollte nur auf die Methode der thematischen Arbeit und dabei auf die mal überraschend, mal zwangsläufig sich präsentierenden schöne Stellen hinweisen. Es gäbe in dieser Musik noch sehr viel mehr zu entdecken.

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Nun zu meinem dritten Beispiel, der 2. Kammersinfonie von Schönberg, von der Romantik zur Spät- bzw Nachromantik. Kaum einer denkt integraler als er, daher trifft, was ich zu Adorno sagte, mehr noch auf ihn zu. Dennoch, auch bei ihm lassen sich schöne Stellen isolieren, Adorno hat selbst auf den Anfang des Schlußsatzes des zweiten Streichquartetts hingewiesen. Wenn man allerdings auf den spätromantischen Schönberg blickt, wimmelt es von solchen, wie bei Musik dieser Epoche zu erwarten. Ich möchte (wie Adorno) zeigen, daß das auch in der sperrigeren späteren Musik gilt. Ich habe die zweite Kammersinfonie gewählt (Pierrot, die sechs Orchesterstücke oder die Variationen sind ebenfalls ergiebige Fundgruben, allerdings weniger leicht zu entschlüsseln), weil ich auf eine Verwandtschaft mit den vorher vorgestellten Strukturierungsmethoden hinweisen möchte, und die Kammersinfonie noch im Übergang von Spätromantik zu Neuer Musik liegt.

Man kann die isolierbare Schönheit in den drei Dimensionen der Musik, Melodik, Harmonik und Rhythmik aufspüren. Am naheliegendsten ist die Schönheit und emotionale Aussagekraft einer Melodie. Bei den hier vorgestellten Beispielen ist es überwiegend die Harmonik, was meiner Auswahl geschuldet ist, aber auch einer Entwicklung der Musik bis zur freien Atonalität entspricht. Bei Franck ist es auch die ausgeklügelte rhythmische Sequenzialisierung, die die dramatische Dynamik potenziert, eine Musik, die auf allen Ebenen extrem bewegt ist (diesen Aspekt, der größten Anteil an der Suggestivität der Musik hat, mußte ich, um das Thema übersichtlich zu halten, ausklammern). Hier bei Schönberg ist es jedoch die Harmonik, die ganz im Vordergrund steht.

Die Kammersinfonie beginnt mit einer schönen, von der Flöte gespielten Melodie, die seltsam um einen Schwerpunkt herum mäandert. Ich benenne die Intervalle und lasse ein paar Noten weg: Quinte, kleine Sekunde, Quinte, kleine Sekunde, kleine Sekunde, Quarte, kleine Sekunde, kleine Sekunde, Quarte, Quarte, kleine Sekunde, Quarte, kleine Sekunde, kleine Sekunde, kleine Sexte, kleine Sekunde, Quinte, danach löst sich diese Struktur etwas auf. Oder um es ganz präzise, aber weniger augenfällig in chromatischen Schritten zu formulieren (mit dem Anfang in der Quinte +7, die Prime 0 lasse ich aus, die Klammern bedeuten die Rückkehr zum Grundton): (-7)(+1+6-7)(+1+4+1-1-5)(+1+7-1-1-5+5-1-5)(+1+11-1-8+8-1-7+3-7+4-1-2). Ich ergänze die Tonartfolge im Harmoniesatz: as-a-as-a-unaufgelöst(des, auch als Es zu hören)-A-As-des/unaufgelöst(des/Es)-h-unaufgelöst(auch als h noch zu hören)-fis-D-unaufgelöst/des-es. Hier ist alles (scheinbar funktions-)harmonisch, dennoch klingt es etwas geheimnisvoll, eine überirdische, kosmische, unfaßbare Harmonie, fühlt sich an wie Luft von anderem Planeten, ohne jegliche Disharmonie im Zusammenspiel von Melodie und Harmoniesatz. Das ist wunderschön. Und es gibt eine einfache Erklärung dafür: Es kann kein Zweifel geben, der Grundton der Melodie, wie die Vorzeichenangabe, ist es, es-Moll, denn die Melodie insistiert auf es, und sie bewegt sich im wesentlichen innerhalb des Quintenzirkels oberhalb von es (nur einmal kommt am Schluß der Leitton d), über Dominante und Subdominante. Die Begleitung jedoch ist as-Moll, die Subdominante. Und die Harmonien bewegen sich quintverschoben um die Melodie. Die Melodie kann statt auf den Grundton es auf den Grundton as bezogen werden, harmonisch ist das sogar naheliegender, die Melodie beginnt dann nicht mit der Quinte zum Grundton, sondern mit der None zur Quinte. Ich sagte oben schon, daß man die diatonische Tonleiter durch jedes Erzeugendenintervall bestätigen kann, ua durch die Sequenzialisierung des Dreiklangs, hier geschieht das durch die Terzschichtung nach unten vom Grundton aus, oder aus der Terzschichtung nach oben vom harmonischen Grundton as aus. Welche Tonart ist nun richtig, es oder as? Beide. Man kann eben den as-Moll-Dreiklang als es-Moll-Dreiklang lesen/hören und umgekehrt. Hier muß man es. Sieht man die Melodie als bestimmend an, ist das einleitende as-Moll ein es-Moll. Allerdings würde eine Normalbegleitung durch einfache Dreiklänge ein ganz verändertes Klangbild ergeben.* Das aufgelöste e, der vierte Melodieton, deutet auf as-Moll, in dessen Tonleiter es steht, umgekehrt kann man in den Melodietönen des zweiten und dritten Takts infolge des ersten Takts eine Schaukelbewegung es-Moll↔E-Dur erkennen, hier widerspricht sie noch dem Verlauf, aber später wird sie bestätigt werden. So kann mit einfachsten Mitteln Polyvalenz erzeugt werden und das macht dieses Thema zu einem ästhetischen Ereignis, es ist eine schöne Stelle, die sich motivisch durch die ganze Sinfonie zieht.

Kleine Abschweifung. Ein ähnliches Phänomen zeigt sich in meinem Lieblingsstück von Schönberg, dem zweiten Streichquartett, wiederum ganz zu Beginn, ein dem hier behandelten Kopfthema analogen, sogar ähnlichen,polyvalenten Einstieg in die bestimmende Tonart. Es beginn sein fis-Moll mit a-gis-fis-cis‘, wiederholt a-gis-fis-cis‘-h, steigt dann in einem dritten Anlauf von cis‘ über a auf ein betontes f und weiter herab bis His (ein Halbton unter cis). Dann wird das Kopfmotiv eine Oktavlage höher wiederholt in der Gestalt c“-h‘-a‘-e“ und c“-h‘-a‘-e“-dis“ mit betontem dis“ (das man auch als es“ lesen/hören kann). Das bemerkenswert Delikate ist diese Variation des normalen Moll-Dreiklangs in der verminderten oder übermäßigen Form als kleine Terz- oder große Terzschichtung. Indem das Dreitonintervall von 7 auf 6 vermindert oder auf 8 erweitert wird, entsteht der Eindruck der Unaufgelöstheit (ein symmetrischer 3+3- oder 4+4-Akkord ist ja ein unaufgelöster, hier aber ist es nur eine Verfälschung des regulären Dreiklangs), Vagheit, die spätromantische Befreiung von der engen Tonalität. Vielleicht erklärt sich daraus, warum Françaix für das Einfache, Franck für das äußerst Differenzierte, und Schönberg für das Relative steht. Schönberg ist der Einstein der Musik, er hat das Relativitätsprinzip auf die Spitze getrieben, man könnte auch sagen, auf die Höhe der Zeit gebracht. Vollendet ist es in der Dodekaphonie, allerdings ist zu fragen, ob nicht der Preis zu hoch ist für die vollständige Aufgabe der harmonischen Ambivalenzen, die der tonalen Substanzialität unserer Musiksprache entspringen. Schönberg schöpft hier jedenfalls noch aus dem Vollen.

Zurück zur zweiten Kammersinfonie. Man könnte den weiteren Verlauf der Sinfonie als variierende Veränderung des thematischen Materials mit mehr oder weniger daraus abgeleiteten Nebenmotiven verfolgen, ich möchte jedoch auf einen fundamentaleren Aspekt hinweisen, der sich aus der harmonischen Struktur des Themas ergibt. Daß es darauf hinausläuft, wird erst in der Schlußphase der Sinfonie überdeutlich, aber diese Superstruktur wird schon in Takt 16 von der ersten Violine angepielt und taucht immer wieder, sozusagen subkutan, auf. Ich setze also mit der Wiederkehr des Themenanfangs in Takt 447 die Analyse fort. Ich sagte schon, und so ist ja auch der Anfang des Werks zu hören, daß selbst die Melodie eine stärkere harmonische, also vertikale Funktion hat. In der funktionsharmonischen, nicht modalen tonalen Musik kommt es auf die Tonartenfolge an, die meiste Musik folgt den Beziehungen des Quintenzirkels oder der Paralleltonarten. In der spätromantischen Musik wird allerdings die chromatische Fortschreitung häufiger verwendet und deren verkürzte Form des Wechsels im kleinen Sekundabstand. Der Wechsel im großen Sekundabstand ist die Verkürzung des doppelten Quintschritts. Der Spätromantiker Schönberg liebt wie seine Kollegen und wie das gebildete Publikum die chromatischen Verrückungen (exemplarisch sei auf die Harmonik von Tristan und Isolde verwiesen, auf die Wesendoncklieder), damit kann man die fernsten Harmonien realisieren. Die direkteste Form in eine harmonieferne Tonart zu wechseln ist jedoch nicht die kleine Sekunde, sondern der Tritonus, die verminderte Quinte bzw übermäßige Quarte, die mathematische Mitte der Oktave. Das geschieht in den ersten drei Noten des Themas (in Takt 447 vom Horn): f-B-ces. Wenn man die Fortsetzung es dazunimmt, ist es der Wechsel von b-Moll nach Ces-Dur. Der Kontrabass zieht aber einen anderen Schluß: A-E-Es-B‘, dann das Cello Es-B‘-A‘-E‘ und die Violine oktaviert es‘-b-a-e. Daraus wird die endgültige Gestalt: b-es-e-A-B-Es-E-A‘, das ist die Tritonusschichtung es-Moll-a-Moll-es-Moll-a-Moll. Dazu kontrapunktisch die stakkatierten Bläser, wunderschön, wie die Tritonusabwärtsbewegung gegen die chromatische Aufwärtsbewegung gesetzt ist.

Eine Schlußbemerkung zur Semantik, ich habe hier sehr viel über die Syntax geredet, aber das ist ja nur ein Mittel, um das Unexplizierbare sagbar zu machen. Die drei Beispiele, insbesondere aber das letzte, ist Gefühlsexpression, Musik als Sprache der Reflexion der Welt im Ich, und bei Schönberg wird sie zum Glasperlenspiel, dessen Bedeutung anders als im gängigen Wortverständnis keine nutzlose Existenz im Elfenbeinturm ist, sondern eine Bestandaufnahme aus der virtuellen Wahrheit des Ganzen von Wirklichkeit und Möglichkeit. Es sind Aussagen über die Wahrheit von Schmerz und Freude, von Aufregung und Frieden. Da haben Tritonus und Harmonie, Verwandtschaft und Fremdheit ihren Ort und werden zu Spielsteinen („-perlen“) des Orchesters, dem wir gebannt folgen.

Wahrscheinlich habe ich die Versierten mit meinen Erläuterungen gelangweilt, und die Unversierten überfordert. Aber ich hoffe, dazwischen ist ein wenig Platz für Tipps zum gelingenden Hören (und Fühlen und Denken), und ich würde mich freuen, wenn ich ein paar Musikliebhabern die vorgestellten Wunderwerke musikalischer Schönheit ein wenig näher gebracht hätte.

* Man kann sich das, wenn ein Tasteninstrument vorhanden ist, praktisch klarmachen, indem man die Melodie einmal auf die Schönbergsche Art begleitet (also auf as bezogen), dann sie mit der Harmoniefolge es-e-es-e-usw ergänzt. Für die, denen das zuviel Mühe ist, wenigstens der Tipp zu diesem ambivalenten Hören in einem vereinfachten Modell: Nehmen wir die zwei Melodiephrasen{a-h-c‘-d‘} und {e‘-d‘-c‘-h} und begleiten wir die erste mit dem Akkord A-c-e, die zweite mit H-d-e. Und jetzt zum Vergleich die erste mit D-F-A, die zweite mit E-G-A. Spielt man nur eine der beiden Versionen, liegt die Interpretation ziemlich fest. Spielt man beide, wird die Ambivalenz hörbar.

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