In Tanjas Wohnung in Berlin werden die Lampen selbst am Abend nicht angeschaltet. Helle Lichter und laute Töne meidet sie, die meiste Zeit verbringt sie zu Hause, wo es ruhig und dunkel ist. Trotz der Finsternis führt Tanja, die nur mit ihrem Vornamen genannt werden möchte, Gäste zielsicher durch ihre vollgestellte Wohnung. Sie bietet Getränke an, redet viel – und macht nicht den Eindruck, pflegebedürftig zu sein.
Dabei leidet die 55 Jahre alte Frau unter vielfachen Beeinträchtigungen: Sie berichtet von ihrer Hypersensibilität und von vielen Allergien, die es ihr bisweilen schwer machen, etwas zu essen. „Die größte Herausforderung besteht für mich aber in den psychologischen Faktoren“, erzählt Tanja und meint damit die emotionale Instabilität der als „Borderline“ bezeichneten Persönlichkeitsstörung.
Wegen ihrer Beeinträchtigungen benötige sie Unterstützung bei der Alltagsbewältigung, sagt Tanja. Dankbar ist sie deshalb für die Einstufung im Pflegegrad 1: Seit Inkrafttreten des zweiten Pflegestärkungsgesetzes 2017 hat sie Anspruch auf einen monatlichen „Entlastungsbetrag“ von der Pflegeversicherung. Zuvor war die Sozialversicherung für die meisten anfallenden Kosten aufgekommen, allerdings in deutlich geringerem Umfang, weil sie psychische Probleme als Pflegegrund nicht anerkennt.
Ohne Hilfe geht es nicht
Seit Jahresbeginn stehen Personen mit Pflegegrad 1 jeden Monat 131 Euro zur Verfügung; vergangenes Jahr waren es 125 Euro. Fast die gesamte Summe zahlt Tanja an eine Agentur für Haushaltshilfe namens JUHI. Dieses junge Unternehmen aus Berlin vermittelt sogenannte Alltagshelfer und rechnet die Kosten direkt mit der Pflegeversicherung ab. Tanja sagt, ohne ihre Helferin Lilly, die ebenfalls nur mit ihrem Vornamen genannt werden möchte, wüsste sie nicht, wohin mit sich: Einkaufen, Kochen, Saugen und ähnliche Tätigkeiten raubten ihr selbst zu viel Kraft – daher übernimmt dann Lilly.
Die Bezahlung „anerkannter Angebote zur Unterstützung im Alltag“ über den Entlastungsbetrag richtet sich nach dem Landesrecht, die Pflegekassen gaben dafür 2024 in ganz Deutschland fast 108 Millionen Euro aus. Das waren 17 Prozent aller Leistungsausgaben im Pflegegrad 1 und der zweitgrößte Posten nach den Entlastungsleistungen für ambulante Pflegedienste.
Die Abrechnung ist völlig legal, doch Kritiker monieren, dass die Alltagshilfe nur bedingt dem eigentlichen Zweck des ersten Pflegegrades diene: Schließlich solle der „Präventionsgrad“ davor schützen, in eine höhere und teurere Stufe abzurutschen. „Regelmäßig wird der Entlastungsbetrag zur Finanzierung der Wohnungsreinigung eingesetzt, was dem ursprünglichen Ansatz einer präventiven Leistung dieser Unterstützung nicht gerecht wird“, argumentiert der Bundesverband der Betreuungsdienste. Stattdessen müsse gelten: „Prävention statt Putzen“. Die ambulante Vorbeugung, etwa über Mobilitätsübungen durch geschulte Betreuungskräfte, mildere den Pflegebedarf erheblich.
Unmut über die Politik
Ganz anders sieht es der Deutsche Hauswirtschaftsrat. Den Pflegegrad 1 dürfe man nicht antasten, denn er ermögliche es den Betroffenen, „mit hauswirtschaftlicher und ambulanter Unterstützung länger selbstbestimmt in den eigenen vier Wänden zu leben“. Genauso empfindet es auch Tanja. Ohne Lillys Mitarbeit würde es ihr schon bald schlechter gehen, sagt sie, physisch und psychisch. Dann müsste sie ihren größten Wunsch aufgeben: dass der 15 Jahre alte Sohn in ihre Wohnung zurückkehrt. Ohne Lillys Unterstützung könnte sie ihre Erziehungsaufgabe nicht stemmen, ist sich Tanja sicher.
Die unbestätigten Überlegungen der Bundesregierung, dass der Pflegegrad 1 beschnitten werden könnte, bereiten ihr daher große Sorgen. Es seien immer „solche wie unsereins“, sagt Tanja und meint damit die Schwachen und Pflegebedürftigen, „an denen die Politik ihre Probleme abwälzt“. Diese „Probleme“ in der Pflege sind kaum zu übersehen: Laut Daten des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) wies die Versicherung im vergangenen Jahr ein Defizit von 1,54 Milliarden Euro auf, im Jahr 2026 könnte es auf rund zwei Milliarden anwachsen. Will die Bundesregierung an dem Versprechen festhalten, die Beitragssätze 2026 nicht zu erhöhen, müssen schleunigst Lösungen her.
Erst kürzlich äußerte sich Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) dazu im Fernsehen: „Wir müssen bei der Pflegeversicherung sparen, und zwar relativ kurzfristig, weil wir die Beiträge nicht erhöhen wollen zum ersten Januar, und deshalb diskutieren wir über alle Optionen.“ Während eine vollständige Abschaffung des ersten Pflegegrads nicht geplant sei, spricht doch einiges für eine baldige Reform desselben. Diese könne die Effizienz im Pflegesystem steigern, statt Leistungen zu kürzen, sagte SPD-Fraktionschef Matthias Miersch vor wenigen Wochen in einem Interview. In der kommenden Woche will die von Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) eingesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe zum „Zukunftspakt Pflege“ erste Vorschläge zur Stabilisierung der Pflegekassen vorlegen.
Sollen Vermögende mehr zahlen?
Über den Pflegegrad 1 wird diskutiert, weil er sich nicht bewährt habe: Trotz der Präventivmaßnahmen legen Daten des BMG keinen verringerten Zuwachs an Pflegefällen in höheren Graden nahe. Gleichzeitig erreichte die Zahl jener im Pflegegrad 1 Ende 2024 mit fast 864.000 Personen einen Höchststand. Für sie flossen Leistungsausgaben von knapp 640 Millionen Euro.
Als Tanja diese Zahlen hört, staunt sie nicht schlecht. Dass das Gesundheitssystem überlastet ist, dass immer mehr Menschen Hilfe brauchen, sei ihr zwar schon lange klar, nicht aber in diesem Umfang. Nimmt Tanja die Debatte persönlich? Fühlt sie sich als Nutznießer, weil Lilly auf Kosten der Beitragszahler für sie staubsaugt? Nein, sagt sie, die Finanzlöcher sollten vielmehr von denen gestopft werden, die viel haben in diesem Land.
Ihre Haushaltshilfe Lilly sieht es ähnlich: „Ich betreue fünf Menschen in Berlin, sie alle sind unbedingt auf mich angewiesen.“ Erst ihre Arbeit ermögliche es ihnen, weiterhin zu Hause zu leben, nicht zu vereinsamen und gesund zu bleiben. Ihren Job begreift Lilly als eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe. Weil sie ihn neben ihrer Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten ausübt, braucht sie ihn nicht unbedingt. Besonders lukrativ sei er mit einem Stundenlohn von 15 Euro ohnehin nicht. Die andere Hälfte der 30 Euro, die für Tanja je Stunde an JUHI fließen, behält das Unternehmen selbst, erzählt Lilly. JUHI organisiert verlässliche Hilfe und erspart den Bedürftigen die bürokratische Auseinandersetzung mit den Pflegekassen.
Wäre die Vermittlung nicht notwendig, könnte sich Tanja von dem Entlastungsbetrag allerdings die doppelte Alltagshilfe leisten. Anders formuliert: Unternehmen wie JUHI, so wertvoll ihre Arbeit für die Pflegebedürftigen ist, zeigen das Einsparpotential beim Pflegegrad 1: Viel Geld wird für Dienste ausgegeben, die dem eigentlichen Pflegezweck nicht entsprechen. Tanja versteht sofort: „Es wäre natürlich besser, würde JUHI nicht immer zwischen mir und Lilly stehen. Ließe sich die Pflege beispielsweise über Nachbarschaftshilfe organisieren, wären die Ausgaben deutlich geringer.“
Obwohl Tanja nicht gerne Nachrichten liest, verfolgt sie die Entwicklungen des deutschen Pflegesystems ganz genau. Mit Sorge blickt sie auf die kommende Woche, in der mögliche Einschränkungen bekannt werden, und hofft, dass die Entlastungsbeträge nicht wegfallen. Doch irgendwo müssen die Pflegekassen sparen. Viele Beitragszahler fragen sich: Wenn nicht bei den Ausgaben für kochende Alltagshelfer, wo dann?