Das Wunder von Galiläa

Um den See Genezareth in Israel vor dem Austrocknen zu bewahren, greifen Ingenieure zu einer revolutionären Idee – mit Erfolg. Mit der Technologie wollen Forscher künftig Wüsten in blühende Gärten verwandeln.

Galiläa, im Spätsommer 2025: Morgennebel liegt über dem See Genezareth (Kinneret), auf dessen Wellen der Überlieferung nach Jesus wandelte. Wo früher Wellen ans Schilf schlugen, erstreckt sich ein breiter Streifen aus trockenem Sand und Kies. Seit Jahren sinkt der Pegel des berühmten Süßwassersees, gespeist von immer schwächer werdenden Zuflüssen. Fischer und Anwohner beobachten besorgt, wie sich das Ufer zurückzieht und kleine Inseln sichtbar werden, wo einst tiefes Wasser war.

Doch in diesem Herbst passiert etwas Besonderes, es surren Pumpen. Ein breiter Pipeline-Strang mündet in den See Genezareth. Seit Ende Oktober 2025 pumpt Israels Wasserbehörde entsalztes Mittelmeerwasser hinein, in einer weltweit einzigartigen Rettungsaktion. Über den ausgetrockneten Zalmon-Bach schießt klares Wasser in Richtung See.

Anfangs fließt etwa ein Kubikmeter pro Sekunde, und in den Wintermonaten soll die Menge schrittweise auf bis zu 5000 Kubikmeter pro Stunde erhöht werden. Insgesamt werden über Herbst und Winter Dutzende Millionen Kubikmeter zusätzliches Wasser in den Kinneret gelangen – genug, um den Pegel spürbar anzuheben. Erstmals erhält ein natürlicher Süßwassersee Zufluss aus entsalztem Meerwasser.

Das ambitionierte Projekt trägt den Namen „Reverse Carrier“, denn es kehrt die historische Wasserleitung Israels um. Jahrzehntelang leitete der National Water Carrier Wasser vom See Genezareth in den trockenen Süden. Nun fließt Wasser zum See hin: Aus hochmodernen Entsalzungsanlagen an der Mittelmeerküste wird Süßwasser über mehr als hundert Kilometer bis nach Galiläa gepumpt.

Der gefüllte See sichert im Notfall die Trinkwasserversorgung des Landes – eine Art natürliche Versicherung. Israel rechnet mit weiter nachlassenden Niederschlägen im Norden in den kommenden Jahrzehnten.

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Das Projekt ist Teil einer technologischen Revolution, die Trinkwasser in Dürreregionen bringt: Meerwasserentsalzung. Jahrzehntelang galt sie als teuer und als allzu energiehungrig, doch Fortschritte haben sie zu einer realistischen Lösung für Wasserknappheit gemacht.

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Besonders im Nahen Osten ist die Entsalzung längst Alltag. Die trockenen Golfstaaten beziehen heute einen Großteil ihres Trinkwassers aus dem Meer. Bereits 2020 produzierten die Länder des Golf-Kooperationsrats zusammen rund 97 Millionen Kubikmeter Süßwasser pro Tag durch Entsalzung.

Die größten Entsalzungsanlagen der Welt stehen in Saudi-Arabien und den Emiraten. Allen voran das saudische Gigantwerk Ras al-Chair an der Küste des Persischen Golfs: Es liefert täglich über eine Million Kubikmeter Frischwasser – eine Menge, die 400 Olympia-Schwimmbecken füllen würde.

Ein Großteil davon – etwa 800.000 Kubikmeter – wird per Pipeline hunderte Kilometer weit ins Landesinnere bis zur Hauptstadt Riad gepumpt. Dass eine Millionenmetropole wie Riad überhaupt existieren kann, obwohl Saudi-Arabien keinen einzigen ganzjährig Wasser führenden Fluss besitzt, verdankt sich solchen Mega-Projekten.

Meerwasserentsalzung hat die Lebensadern der Wüstenstaaten geschaffen. Von Kuwait bis Abu Dhabi sprudelt heute in den Leitungen Wasser, das kurz zuvor noch salzige Meeresbrühe war. Nicht nur am Golf.

Australien baut in allen großen Städten Entsalzungsanlagen als Notreserve. In Perth stammen inzwischen rund 50 Prozent des Trinkwassers aus dem Indischen Ozean. Ähnliches zeigt sich in Kalifornien: Im trockenen Süden des US-Bundesstaats ging 2015 die bis dato größte Entsalzungsanlage Amerikas in Betrieb – genug Trinkwasser für etwa 300.000 Menschen.

Auch Nordafrika investiert in Meerwasser. In Marokko entsteht entlang der Atlantikküste ein Netz von Entsalzungsanlagen für Millionen Menschen und Gemüse- und Obstplantagen. Ähnliche Projekte laufen in Algerien und Ägypten.

Entsalzung hilft nicht nur Städten, sondern zunehmend auch der Industrie und Umwelt. In Chile beispielsweise, im extrem trockenen Norden, haben Bergbaukonzerne begonnen, Meerwasser für ihre Minen in der Atacama-Wüste zu nutzen. Über gewaltige Pumpwerke wird Pazifikwasser bis auf 3000 Meter Höhe in die Anden befördert.

Auch auf Inseln erweist sich Meerwasserentsalzung als Rettung. Die Malediven, ein Archipel ohne nennenswerte Süßwasserquellen, setzen seit Neuestem auf solarbetriebene Mini-Entsalzungsanlagen. Mithilfe internationaler Unterstützung wurden 2024 auf fünf Atollen kleine, energieeffiziente Meerwasserwerke installiert, betrieben mit Solarpanels.

Visionäre träumen davon, mit Meereswasser ganze Wüsten in blühende Gärten zu verwandeln. Großflächige Bewässerung mit entsalztem Wasser soll Landwirtschaft und Zivilisation ermöglichen, wo bisher nur Sand liegt.

Am Ufer des See Genezareth stolzieren Reiher durch die neue Uferzone, und Fischer beobachten, wie der Pegel langsam steigt. Was vor Kurzem als verzweifelter Plan gegen das Austrocknen erschien, nimmt Gestalt an: Der See Genezareth trinkt vom Mittelmeer.

Gesammelte „Lichtblicke“-Kolumnen von WELT-Chefreporter Axel Bojanowski gibt es im Buch „33 erstaunliche Lichtblicke, die zeigen, warum die Welt viel besser ist, als wir denken“ (Westend-Verlag).

Source: welt.de

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