Fünfzig Meter vom Eingang des serbischen Parlaments entfernt sitzt eine Frau unter einem weißen Zelt. Der Wind zerrt an der Plane, vor ihr flackert eine Kerze. Sie trägt eine rosa Trainingsjacke – und isst nicht. Unter der rosa Jacke blitzt ein weißes T-Shirt hervor. In schwarzen Lettern steht darauf: „Mama protiv mašinerije“ – Mama gegen die Maschinerie. Dijana Hrka, 47, hat beschlossen, nicht mehr zu essen – solange niemand für den Tod ihres Sohnes zur Verantwortung gezogen wird.
Sie sagt: „Ich bin bereit, bis zum Ende zu gehen.“ In der Hand hält sie einen Rahmen mit einem orthodoxen Heiligenbild: die Jungfrau Maria mit dem Jesuskind, unten rechts das Foto ihres Sohnes Stefan. Vor einem Jahr starb Stefan Hrka, als das Vordach des Bahnhofs von Novi Sad einstürzte. Vierzehn Menschen waren sofort tot, zwei starben später im Krankenhaus. „Ich habe gewartet, dass er mit dem Zug zurückkommt“, sagt seine Mutter. „Aber er kam nicht.“
„Mutter Courage“ kämpft gegen Aleksandar Vučić
Was sich auf den fünfzig Metern zwischen Dijana Hrka und dem serbischen Parlament befindet, lässt sich nur schwer beschreiben. Es ist ein Ort, der in Serbien „Ćaciland“ genannt wird – eine spöttische Verballhornung des Wortes für „Schüler“ (đaci). Errichtet wurde das Camp im März, wenige Tage vor dem größten Protest in der serbischen Geschichte. Offiziell sollten dort Studierende protestieren, die zum Lernen an die besetzten Universitäten zurückkehren wollten. In Wirklichkeit füllten Parteifunktionäre der regierenden Fortschrittspartei (SNS) und regierungsnahe Hooligans die Zelte – deren bloße Existenz viel über die Beschaffenheit der autoritären Herrschaft in Serbien verrät. Von diesen Schlägertrupps der Regierungspartei geht die meiste Gewalt aus, während die Polizei oft tatenlos danebensteht.
Für Präsident Aleksandar Vučić und sein System ist diese Arbeitsteilung bequem: Dank seiner Parteischläger kann er den Konflikt als Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Protestgruppen inszenieren – und verhindert so Bilder, auf denen Polizisten auf friedliche Demonstrierende einprügeln. Zugleich dient das illegale Zeltlager seiner Loyalisten als Kulisse für Inszenierungen in den von ihm kontrollierten Medien – und das sind in Serbien die meisten.
Dijana Hrka steht nicht allein vor „Ćaciland“. Um sie herum haben sich Kriegsveteranen versammelt, die sich der studentischen Protestbewegung angeschlossen haben – sie schützen sie. Seit Tagen kommen Hunderte, um die Frau zu unterstützen, die sie in Serbien „Majka Hrabrost“ nennen – Mutter Courage. Der Spitzname haftet nicht, weil sie Brechts Kriegsgewinnlerin ähnelt, sondern weil sie sich furchtlos gegen das stellt, was auf dieser Seite der Barrikade schlicht „das Regime“ genannt wird – Präsident Vučić und seine klientelistische Serbische Fortschrittspartei (SNS), die den Staat fest im Griff hat. „Ich will endlich wissen, wer mein Kind und die anderen 15 Menschen getötet hat“, sagt Dijana Hrka. „Das war kein Unfall. Das war Mord.“
Novi Sad, der Auslöser der Proteste
Dijana Hrka kündigte ihren Hungerstreik am 1. November in Novi Sad an – genau ein Jahr nach dem Einsturz des Bahnhofsvordachs, für den viele Protestierende in Serbien die Korruption im System Vučić verantwortlich machen. Die Studierenden riefen zu einer Trauerkundgebung auf, und rund 110.000 Menschen kamen – die größte Demonstration in der Geschichte der Stadt.
Doch wer dorthin wollte, musste Hindernisse überwinden: Kurz vor der Kundgebung wurden plötzlich umfangreiche Bauarbeiten auf fast allen Zufahrtsstraßen angekündigt. Der Zugverkehr wurde wegen einer angeblichen Bombendrohung eingestellt – zum wiederholten Mal. Schon im März, vor der größten Demonstration der jüngeren Geschichte Serbiens, war dasselbe geschehen.
Diesmal machten sich Tausende zu Fuß auf den Weg – aus Belgrad, 80 Kilometer entfernt, und aus anderen Städten. Viele übernachteten in der Kleinstadt Inđija, auf halbem Weg – manche auf Styropormatten, mitten in der Stadt. Die für die Jahreszeit ungewöhnlich hohen Temperaturen erleichterten das Schlafen im Freien. Als sie schließlich, mitten in der Nacht, Novi Sad erreichten, wurden sie mit Bengalos und Feuerwerk empfangen.
Am nächsten Tag war die Stimmung gedämpft. Von 11:52 bis 12:08 Uhr schwieg die Menge – sechzehn Minuten, eine für jedes Opfer. Danach sang ein Chor das Lied „Cveta trešnja“ aus dem Film Sabirni centar. „Alles ist wie es einst war, nur ich bin nicht mehr da“, heißt es in einer Zeile. Viele weinten.
Präsident Aleksandar Vučić tat im Vorfeld so, als wüsste er von nichts. „Was, in Novi Sad? Findet da ein Fußballspiel statt?“, fragte er sarkastisch, als ihn Journalist*innen auf die bevorstehende Demonstration ansprachen. Später bezeichnete er die Demonstrierenden sinngemäß als „Heulsusen“ und erklärte, die Veranstaltung sei ein „Debakel“ gewesen. Er sprach von 39.000 Teilnehmenden – eine Schätzung des serbischen Innenministeriums, die kaum glaubwürdig ist.
Das System der Korruption in Serbien
Unter den Trauernden und Demonstrierenden in Novi Sad ist auch der 70-jährige Ingenieur Zoran Đajić, der mit seinen langen braunen Locken jünger wirkt, als er ist. „Heute ist einer der wichtigsten und traurigsten Tage in der Geschichte Serbiens“, sagt er. „Sie töteten 16 unserer Bürger, und wir sind gekommen, um ihnen die letzte Ehre zu erweisen.“
Đajić wurde in Serbien bekannt, weil er beim Bau des Bahnhofs von Novi Sad beratend tätig war – und schon damals auf Mängel hinwies. Doch niemand hörte auf ihn. Er meidet neue Zugstrecken und Bahnhöfe: „Alles, was in den vergangenen zwölf Jahren unter der SNS gebaut wurde“, sagt er. Viele dieser Gebäude seien auf unsichere Weise entstanden, „weil die Ingenieure zwar Diplome besitzen, aber nie wirklich studiert haben.“ Eine Anklage gegen das System Vučićs, in dem Loyalität zur Partei mehr zählt als Qualifikation – und gekaufte Hochschulabschlüsse keine Seltenheit sind. Đajić beschreibt, wie beim Bau überall Fehler gemacht wurden, um Geld in die Taschen korrupter Geschäftsleute und Politiker zu lenken – und wie Vučić auf eine vorzeitige Eröffnung des Bahnhofs drängte, um Wahlkampfbilder zu bekommen.
Đajić war einer der Männer auf dem berühmten Bulldozer, der im Oktober 2000 vor dem Parlament stand, als Slobodan Milošević gestürzt wurde. Heute steht er wieder auf der Straße, 25 Jahre älter, aber immer noch kämpferisch: „Das hier ist kein Unfall gewesen“, sagt er. „Das war Mord.“
Nach mehreren Redebeiträgen bei der Demonstration in Novi Sad betritt auch Dijana Hrka die Bühne. Sie hält die kürzeste Rede – und die mit der größten Wirkung: „Jemand muss dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Deshalb trete ich in einen Hungerstreik. Gegenüber von Ćaciland.“ Die Menschen auf dem Platz, auch viele Studierende, sind sichtlich überrascht von dieser Entscheidung. Noch während der Veranstaltung bemühen sich die Studierenden, die den Protest organisieren, deutlich zu machen, dass sie hinter Dijana Hrka stehen.
Die Polizei schützt die Dijana Hrkas Unterstützer nicht
Am Tag darauf beginnt Dijana Hrka ihren Hungerstreik. Sie darf ihn nur hinter einer von der Polizei bewachten Absperrung, rund fünfzig Meter vom Parlament entfernt, durchführen. Doch Hunderte Menschen kommen, um sie zu unterstützen.
Auf der anderen Seite – in Ćaciland – füllt sich das Lager schnell mit breitschultrigen Schlägertypen. Die Polizei steht zwar daneben, entscheidet aber nicht, wer hinein darf und wer nicht. Hier erhält sie ihre Befehle von informellen Schlägertrupps. Zwei Seiten stehen sich unversöhnlich gegenüber und beschuldigen einander, das serbische Vaterland zu verraten. Immer wieder fliegen Böller aus Ćaciland auf die andere Seite – kurz kommt es zu Tumulten.
Auf der Seite von Dijana Hrka steht auch ein 2,10 Meter großer Mann, der als eine Art Ordner auf der Demonstration agiert: der 38-jährige ehemalige Basketballnationalspieler Vladimir Štimac. Er wirft den Polizisten vor, im Dienst eines Autokraten zu stehen. Einen von ihnen schreit der unbewaffnete Basketballer an: „Nimm dein verdammtes Gewehr runter, Mann!“
Festnahmen bei den Protesten
Štimac filmt die Szenen und ruft auf Social Media andere dazu auf, vor das Parlament zu kommen und Dijana Hrka zu unterstützen. Wenige Stunden später wird er verhaftet – wie rund drei Dutzend weitere Personen an diesem Abend. Der Vorwurf lautet: „Aufruf zum gewaltsamen Umsturz der verfassungsmäßigen Ordnung.“ Es werden so viele Menschen inhaftiert, dass eine an der Kunstuniversität in Belgrad geplante Kulturkonferenz abgesagt werden muss. Das regierungsnahe Boulevardblatt Informer – ein Sprachrohr der Regierung – warf den Festgenommenen vor, sie hätten einen Bürgerkrieg vor dem Parlament beginnen wollen.
Nach mehreren Tagen vor dem Parlament wirkt Dijana Hrka müde und erschöpft – doch sie bleibt konsequent. Sie fordert, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, alle festgenommenen Demonstrierenden freikommen, die Anklagen gegen sie fallengelassen werden und Präsident Vučić Neuwahlen ausruft.
Da steht sie nun, umgeben von ihren Unterstützerinnen und Unterstützern, und hat seit Tagen nichts gegessen. Auch der aus der Haft entlassene Vladimir Štimac und Zoran Đajić sind bei ihr. Dijana Hrka steht für eine Protestbewegung, die ein ganzes Land erfasst hat – ausgelöst durch den Tod ihres Sohnes Stefan, der unter einer Lawine aus Beton starb, an einem neu eröffneten Bahnhof inmitten der zweitgrößten Stadt Serbiens. „Niemand kann mir meinen Sohn zurückbringen“, sagt sie. „Aber ich will nicht, dass noch eine Mutter in Serbien ihr Kind so beerdigen muss.“